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07 2018

Über den Neid der Diener_in und die Güte des Herrn

Keti Chukhrov

Übersetzt von Birgit Mennel

I

Defäkation als Rache

Diese anekdotische Geschichte trug sich Anfang der 1990er in Wien zu. Nach dem Niedergang der Sowjetunion wurden einige Schriftsteller_innen aus der verarmten ehemaligen Sowjetrepublik Georgien von einer österreichischen Kulturstiftung zu einer Residency eingeladen und in pittoresken Villen in Wien untergebracht. Die Residency umfasste nicht nur Aufenthalt und Reisen in Österreich, sondern auch Treffen mit österreichischen Schriftsteller_innen und Künstler_innen, Lesungen und Gespräche über Übersetzungsprojekte – kurz: eine Zusammenarbeit und ein Versuch, die Kulturarbeiter_innen aus dem postsowjetischen Georgien in den „europäischen“ kulturellen Kontext einzubeziehen. Diesem gastfreundlichen Empfang zum Trotz zerstörte einer der namhaften georgischen Schriftsteller_innen vor seiner Abreise die Möbel in seinem Unterkunft, riss die Vorhänge herunter und kackte auf den Wohnungsboden.

Im Film The Green Elephant (Zelioniy slonik, 1999) der russischen Künstlerin und Filmemacherin Svetlana Baskova[1] werden zwei Militäroffiziere aufgrund bestimmter Verstöße in einer Haftzelle untergebracht. Einer der beiden ist ein Stadtbewohner, der andere ein ungebildeter Dorfbewohner. Die Hierarchie ist sofort klar: Ersterer ist der Überlegene, letzterer der Unterlegene. Der Landbewohner kann dem offensichtlichen Vorteil und der beherrschenden Position des Städters nichts entgegensetzen. Also findet er sich stillschweigend mit seiner unterlegenen Position ab und inszeniert die Zeremonie der Knechtschaft im Verhältnis zu seinem überlegenen Kumpan. Irgendwann jedoch verwandelt sich das Verhalten des Dorfbewohners in überschießende anomale Freundlichkeit, die sich eher als groteske Straffreiheit entpuppt. Der städtische Kumpan erfährt die karnevaleske Unterwürfigkeit des Dorfbewohners als lästige Störung. Als Reaktion auf die snobbistische Irritation des städtischen Offiziers entleert der Dorfbewohner, während sein Zimmergenosse schläft, seinen Darm und verteilt überall seine Exkremente. Dann weckt er seinen Gefährten auf und bietet ihm auf kindliche Weise seine Exkremente als Mahlzeit auf einem Teller an.

Eine andere Episode ist dem Stück „Kommunion“[2] entnommen, das sich als Zusammenstoß zwischen zweier Charakteren entfaltet, der subalternen Leiharbeiterin Dia und der Repräsentantin der Kulturelite, Nita, eine Designerin und ihre Arbeitgeberin. Als Nita nach einem Treffen in ihre Wohnung zurückkehrt, trifft sie auf dem Weg zur Toilette auf Dia.

 

Nita:
Warst du etwa gerade in meinem Badezimmer?
Das ist meines,
Du weißt, dass Du auf dieser Toilette nichts verloren hast,
das habe ich mir von Dir nicht erwartet.
Ich habe Dir bei Deiner Einstellung gesagt,
diese Toilette ist für mich und meine Gäst_innen reserviert,
die da drüben für alle Arbeiter_innen und Dich.
Wir werden Dir dafür 20 Prozent abziehen müssen.

Dia:
Das wollte ich nicht, ich benutze immer die andere,
ich schwöre, es war ein Versehen, ich bin rein, ohne nachzudenken.
Und hatten Sie nicht gesagt, ich sei Ihre Freundin?

Nita:
Was? Du hast hier also regelmäßig gekackt.
Und ich habe Dich so nett gebeten, wie dies eine Freundin tun würde.

Dia:
Nita, ich schwöre, ich habe die bis heute nie benutzt,
es war wirklich ein Versehen, dass ich gerade jetzt da rein bin.
Bitte feuern Sie mich nicht!
Erinnern Sie sich? Sie werden mich morgen taufen!

Nita (öffnet die Badezimmertür):
Was für albtraumhafter Gestank ist das hier,
Du hast nicht mal richtig gespült!

Dia:
Warten Sie, ich putze das alles,
und welchen Unterschied macht das schon,
wer in welche Toilette scheißt,
wenn zwischen uns ein spirituelles Band ist?

Nita:
Was fällt Dir ein, so mit mir zu reden,
nach allem, was wir getan haben, um Dir zu helfen,
Du undankbare Hure.

Dia:
So habe ich das nicht gemeint,
ich wollte sagen …
Hm, eigentlich nur, dass wir uns im Geist nah sind, dass unsere Herzen nun eins sind,
und der Körper damit sowieso involviert ist,
nicht wahr?

Nita:
In einer spirituellen Verbindung geht es vor allem um Macht,
die Macht derjenigen mit dem überlegeneren Geist,
die den Geist dann auf Dich überträgt, ihn teilt.

Dia:
Nein, Nita, ich verstehe,
ich bewundere Sie, Ihren Geist,
und Ihre makellose Schönheit,
ich glaube und hoffe und liebe,
ich würde Sie für niemanden aufgeben.
Sie sagten, Sie wären meine Patin.
Dass bedeutet, ich bin für immer die Ihre,
Sie sind mir dann näher als mein Mann oder mein Sohn.
Schreien Sie mich an, so oft Sie wollen,
es ist die Angst, in uns zu drinnen zu sein, die schreit,
nicht Sie oder ich,
es ist die feige Schlange drinnen,
wir wissen nicht, wer oder was wir sind,
weltliches Leben dringt in uns ein, verwandelt alles in Träume,
wir sind nicht wir.

Nita:
Hör mal, es reicht, ich glaube, Du brauchst zu lange für Deine Arbeit.

Dia:
Bitte werfen Sie mich nicht raus, ich bitte Sie,
wann könnten Sie mich dann taufen?
Ich dachte, ich würde in Ihnen eine Schwester finden,
ich liebe Sie …

Nita:
Richtig, ich habe die Taufe vergessen.
Das werden wir ganz sicher tun.[3]

 

In diesen drei Fällen wird der Akt der Defäkation zum Realen, das sich hinter der Gastfreundschaft der überlegenen Gastgeber_in verbirgt, um den Neid und die Verbitterung der unterlegenen Gäst_innen zu enthüllen.

Allerdings sehen wir in den letzten beiden Beispielen, wie inoffizielle heterotope Orte auftauchen, die eine Segregation zwischen den Protagonist_innen kaschieren. Sie stellen eine fiktive Gleichheit zwischen explizit ungleichen sozialen Agent_innen her: der Unterlegenen/der Gäst_in und der Überlegenen/der Gastgeber_in. Bei diesen beiden fiktiven heterotopen Orte handelt es sich um das Gefängnis und die Kirche: den Ort der Bestrafung, an dem alle gleich sind, und den Ort der rituellen Kommunion, an dem alle sozialen Unterschiede verschwinden. So werden die Autorität der Gastgeber_in und die Demut der Gäst_in durch die Performance von Brüder- und Schwesternschaft, von Verwandtschaft verschleiert.

Interessanterweise ist „Bruder“ – in organisierten kriminellen Gruppen oder Mafiabanden – der informelle Modus der Adressierung unter Gefangenen. In Baskovas Film adressiert der Dorfbewohner seinen städtischen Kumpanen als „bratishka“, die Verkleinerungsform für Bruder. Auch im Stück „Kommunion“ hören wir einen Appell an Schwesternschaft, die in Kirchen und Klöstern übliche Form der Adressierung. In diesem Fall entsteht ein eigenartiger Potlatch zwischen der Überlegenen und der Unterlegenen. Die Überlegene versucht die Unterlegene mit lässigem Auftreten und familiärer Sorge. Die Unterlegene dagegen versorgt die Überlegene mit einer „inoffiziellen“ Hingabe, die alle sozialen Rollen und Institutionen übertrifft. Die Unterlegene erleichtert so die aus ihrem/seinem Missbrauch der Diener_in resultierende stille Schuld der Überlegenen und ermöglicht es der Überlegenen damit, ihre/seine wohltätige Güte voll und ganz auszukosten.

Doch die informelle Heterotopie von „Liebe und Freundschaft“ hat ihre Grenzen, weil es sich um eine Art abgekartetes Spiel handelt. Zum Problem wird dieses Spiel dann, wenn die „Spieler_in“, für gewöhnlich die ehrliche Untergebene, auf das Spektakel des „familiären“ Bandes vertraut und glaubt, es handle sich um wahrhafte Bande der Hingabe, Treue, Ergebenheit oder der Gleichheit und Liebe. Dann fordert die Untergebene die buchstäbliche Implementierung dessen, was im Kodex von Gastfreundschaft und Verwandtschaft nur ein formaler rhetorischer Modus war (das tut Dia, die Protagonistin aus dem Stück „Kommunion“). Und wenn sich die Freundschaftsrhetorik selbst, die eine heterotope Entlastung von institutionalisierten bürgerlichen Ungleichheiten bringen sollte, nur als formales Kommunikationsregime erweist – das genauso heuchlerisch ist wie die offiziellen bürgerlichen Modi institutioneller Wohltätigkeit –, dann gerät die Unterlegene in eine Wut, die durch folgende innere Argumentation ausgelöst wird: „Wenn unsere Freundschaft nur rhetorisch war und ‚mein‘ Körper zu profan scheint, um mit ‚Dir‘ zu einem gemeinsamen Körper zu verschmelzen, wenn ‚deine‘ wahre Haltung ‚mir‘ gegenüber Herablassung ist, dann werde ‚ich‘ dich provozieren, damit du zeigst, was sich wirklich hinter diesem Freundschaftsversprechen verbirgt: nämlich Gleichgültigkeit, Angst und Verachtung.“

Interessanterweise finden Eltern die Exkremente ihrer kleinen Kinder fast nie abstoßend. Auch Geschwister sind diesbezüglich nicht zimperlich. Aus der Kinderpsychologie ist bekannt, dass Kinder, auch wenn sie schon alt genug sind, immer noch in ihre Hosen scheißen, um die Hingabe ihrer Eltern herauszufordern. Diesem perversen Begehren liegt folgende Logik zugrunde: „Wenn du die Echtheit deiner Liebe unter Beweis stellen willst, musst du meine Scheiße ertragen.“

Erreicht aber das Benehmen eines unterlegenen Libertins ein solch skatologisches Niveau, dann erhofft er sich längst nicht mehr die Aufmerksamkeit einer befreundeten Überlegenen (anders als Kinder, die immer noch darauf setzen, dass sie ihren Eltern mittels frecher Straffreiheit Sorge abpressen können). Es ist vielmehr als ein anarchisches Sakrileg zu verstehen, das sich nicht mehr in irgendeine Art von Freundschaft verwandeln lässt. Und doch beinhaltet es immer noch das Lexikon des unverschämten Benehmens eines „verzogenen Kindes“, ganz so als würde es Folgendes erfassen: „Sind wir denn keine Familienangehörigen, hast Du nicht gesagt, ‚Mein Zuhause ist dein Zuhause‘? Hier also bin ich, ich leiste Deinem Angebot von familiärer Gemeinsamkeit Folge.“

Das Verhalten des Dorfbewohners in The Green Elephant ist die anarchische Libertinage eines „verzogenen Kindes“ – und das vor dem Hintergrund der Gleichgültigkeit eines überlegenen Subjekts, für das die Person vollkommen überflüssig ist. Doch wir wissen nie, ob es die aufrichtige Naivität einer ehrlichen Barbar_in ist oder die kalkulierte Rache für die Missachtung im Namen einer Unterlegenen. Genau in diesem Moment empört sich auch die wohlmeinende „Herr_in“, die diesen falschen Ort der Gleichheit beibehalten wollte. In Baskovas Film beginnt der städtische Gefangene, der von den Possen des Dorfbewohners genug hat, lediglich, diesen gnadenlos zu verprügeln. In „Kommunion“ bricht der Zorn der Dienerin nach dem unverschämten Angriff durch die „wohlmeinende“ Herrin aus, die ihr nur wenige Stunden zuvor Freundschaft und Gleichheit versprach. Dia, die Reparaturarbeiterin, attackiert die Gastgeberin aufs Schärfste, doch tut sie das nicht wegen unbezahlter Arbeit, sondern weil sich die versprochene Freundschaft als falscher Pomp erwies.

In der inoffiziellen Heterotopie der Verwandtschaft (einem quasi-feudalen Kommunikationsparadigma) wird die heuchlerische bürgerliche Korrektheit überwunden, um durch den Kodex der Brüderschaft kompensiert zu werden. Während dass Regime legaler Zivilität seine Heuchelei nicht in formalen Lexika zu verbergen vermag, setzt das Regime der inoffiziellen Intimität von „wahrer Freundschaft“ einen „Ernst“ in Szene, läuft damit jedoch Gefahr in die Falle roher Gewalt oder eines sadomasochistischen Spiels zu tappen. Diese sadomasochistische Transposition wird in Baskovas Film The Green Elephant sehr offensichtlich. Auch bei der Aufführung des Stücks Kommunion[4] sollte sich der Plot als Kampf um Emanzipation im Namen der Gastarbeiterin entspinnen, die die Arbeitgeberin/Gastgeberin zu einer kathartischen Selbstkritik ihrer Heuchelei führen und damit ihre falsche Rhetorik in wahre Freundlichkeit verwandeln sollte. Die Metanoia [Buße] im Verhalten der Gastgeberin würde die Ehrlichkeit der Arbeiterin als eine Positionierung gegen das falsche Wohlwollen ihrer überlegenen Arbeitgeber_in geltend machen. Stattdessen zeigte sich jedoch eine kompliziertere und bösartige Disposition: Wir mussten nämlich mit der perversen sadomasochistischen Dialektik umgehen, die den Absichten beider – der Herrin und der Dienerin – eingeschrieben ist. Statt dass sich beide Agentinnen in potenziell universelle Subjekten der Emanzipation verwandelten, war das, was an die Oberfläche trat und irreversibel blieb, der Umschlag der bevormundenden Sorge in sadistische Autorität und der Umsturz des versteckten Neids der Dienerin in transgressives oder skatologisches Verhalten.

 

II

Ataraxia

Tatsächlich berührt Hegel in seiner kurzen Passage über die Dialektik von Herr und Knecht einen sehr subtilen Punkt: Wie und wann wird die Abhängigkeit von Herr und Knecht aufgehoben? Er argumentiert, dass im Stoizismus das Band von Herrn und Knecht überwunden wird. Wir erinnern uns, der Herr ist in diesem Abschnitt frei von Wirklichkeit, [5] er muss sich damit nicht herumschlagen und sein Bewusstsein ist folglich unabhängig. Der Knecht dagegen ist ins Produzieren und Formieren von Dingen – ins Dasein – versenkt und darum ist sein Bewusstsein verdinglicht. Das Problem des Herrn besteht indes darin, dass er, obwohl sein Bewusstsein für sich selbst, also souverän und allgemein ist, noch immer verzehren muss und folglich am Begehren für die Ding-Welt festhält. Er braucht daher ein anderes Bewusstsein, das mit den wirklichen Dingen umgeht, um ihm bei der Vermittlung mit der Wirklichkeit zu helfen. Ohne die Arbeit des Knechts hat der Herr keinen Zugang zur Wirklichkeit. Sein Bedürfnis nach Verzehrung und nach der Arbeit des Knechts ist der Beweis dafür, dass die Unabhängigkeit des Bewusstseins des Herrn keine wirkliche Unabhängigkeit ist. Darüberhinaus und das ist, wie Hegel meint, eine sehr wichtige Feststellung, kann der Herr, dadurch dass sich sein Kontakt zur Welt auf die Verzehrung des Dings beschränkt, nur vernichten, wonach er begehrt und was er aufzehrt. Nur die formierende Arbeitsaktivität des Knechts rettet das Objekt vor totaler Vernichtung. Hier ist sehr wichtig, dass Hegel seine eigene Behauptung  anzweifelt, dass das Bewusstsein für seine Bildung und sein Allgemeines von der Wirklichkeit losgelöst und abstrahiert sein muss. Hegel behauptet zunächst abstrakte Allgemeinheit als wesentlichen Zug des Bewusstseins des Herrn, um seine eigene Behauptung später zu widerlegen und zu zeigen, dass es unmöglich ist, vollständig losgelöst von der materiellen Welt ein universelles Bewusstsein zu erlangen. Arbeit ist wesentlich, um Bewusstsein zu erlangen. Doch die knechtische Arbeit eines Dieners genügt dafür nicht. Und der Kontakt des Herrn zur Welt durch die Arbeit des Sklaven reicht ebenfalls nicht aus, um Bewusstsein zu erlangen.

Darum bringt Hegel den stoizistischen Geisteszustand ins Spiel. Darin überschreitet das Bewusstsein tatsächlich die Gegenüberstellung von Herr und Knecht. Einer Stoiker_in gelingt es, die Trennung zwischen dem Versenktsein des Knechts in die Wirklichkeit und dem abstrahierten „Ich“ des Herrn zu überwinden. Das ist möglich, weil das stoische Subjekt es vorzieht, nicht auf Kosten der Diener_in zu verzehren und also die Position des Herrn abzustoßen. Es kann auf die Diener_in verzichten, weil das wahrhaft freie Bewusstsein eines ist, das frei ist von der Abhängigkeit von der Arbeit einer anderen. Nur im Fall einer solchen Befreiung ist das Subjekt fähig zu denken, es kann den Akt und die Arbeit der Bildung zu Denken erheben. Doch trotz diesem das Bewusstsein befreienden Akt beantwortet der Stoizimus, wie Hegel betont, nicht die Frage danach, wo das Wahre und die Tugend ist, sondern schafft ein inhaltsloses Denken – er sucht das Denken in bloßer Vernunft.[6]

Gedanken und Denken erfassen in diesem Fall nicht die lebendige Welt, denn obwohl sie den Knecht befreien, bewahrt die Stoiker_in nicht das Band mit der objektiven Welt und steigert also die Trennung zwischen Körper und Geist in einem höheren Maß als der feudale Herr. Der Herr bewahrte zumindest eine minimale Bindung zur Welt, wenn auch auf Kosten der Arbeit der Diener_in. Solange die freie und aufgeklärte Stoiker_in die unterjochte Arbeit nicht braucht, dürfen alle Ex-Diener_innen freie und unabhängige Bürger_innen sein, die ihre Arbeit mit einem Ex-Herrn auf Augenhöhe tauschen. Mit dieser Figur der Stoiker_in liefert Hegel tatsächlich das Modell eines aufgeklärten bürgerlichen Subjekts, das seine Herrschaft wohlwollend zurückweist, aber trotzdem jenen keine Anerkennung zollen kann, die immer noch unterlegen sind.

Weil die Stoiker_in unausgesprochen um ihren Vorteil und ihre Überlegenheit weiß, bietet die stoische Ex-Herr_in der ehemaligen Diener_in zeremonielle Gleichheit an. In dieser Situation werden Ungleichheit und Unterlegenheit durch Prozeduren der Zivilität und ihrer Rechtsprechung verschleiert. Es scheint auf den ersten Blick, dass diese neue Kombination aus bürgerlicher Gleichheit und stillschweigender Unterordnung der Untergebenen, die sich als Zivilität ausgibt, aus der Hegemonie der Stoiker_in hinsichtlich Erkenntnis und Bildung rührt. Viel wichtiger aber ist die Ataraxie (Seelenruhe) der Stoiker_in für die Beibehaltung ihres Privilegs – die Bedingung, die die Stoiker_in in ihre Nicht-Involvierung mit der Welt leitet. Die Ataraxie trägt dazu bei, dass die Bildung der Stoiker_in für sie selbst reserviert bleibt und sie daran hindert, jenen Anerkennung zu zollen, die den kognitiven Anforderungen der Bildung nicht entsprechen können. Aufgrund dieses angeeigneten, nicht geteilten Wissens (ataraxia) besteht ihre stillschweigende und verborgene Herrschaft der Stoiker_in fort. Und hier verwandelt sich die ehemals feudale Herr_in in ein aufgeklärtes bürgerliches Subjekt.

Aber selbst wenn die frühere Diener_in offiziell als freie Bürger_in erkannt wird und als Lohnarbeiter_in arbeitet, wird sie/er für die „Stoiker_in“ nicht zum Subjekt von Wissen, Urteil und Anerkennung. Solange alle juristisch gleich sind, genügt es der „Stoiker_in“, ihre bürgerliche Pflicht in einer Rhetorik der Solidarität für die Unterlegenen zum Ausdruck zu bringen, anstatt allgemeine Gründe dafür zu finden, dass beides zusammenwächst – Wissen und objektive Welt, Geist und Körper, Überlegenheit und Unterlegenheit. Das heißt also, dass jene, die kognitive Unterlegenheit repräsentieren, sogar trotz juristischer Gleichheit für den stoischen Geist de facto einen Überschuss bilden.

Die Ataraxie der Stoiker_in besteht, wie Hegel argumentiert, in der Tat darin, dass das Denken der Stoiker_in in seiner Loslösung von der objektiven Welt diesen Rückzug selbst nicht ganz umsetzt. Hegel beschreibt dies folgendermaßen: „Dieses denkende Bewusstsein so, wie es sich bestimmt hat, als die abstrakte Freiheit, ist also nur die unvollendete Negation des Andersseins; aus dem Dasein nur in sich zurückgezogen, hat es sich nicht als absolute Negation desselben an ihm vollbracht.“[7] Ataraxie umfasst eine derartige Gelassenheit und Ausgeglichenheit: weder Marx’sches Streben nach Involvierung mit dem Weltlichen, noch die völlige Nietzscheanische Loslösung davon.

Ruft uns diese Nicht-Position nicht die Rolle der progressiven Intellektuellen der Gegenwart in Erinnerung? Ein aufgeklärtes Subjekt, das für Emanzipation steht und ohne soziale Verbindung mit den Nicht-Privilegierten die Sprachen der fortschrittlichen Bürger_innenschaft spricht, gleichzeitig aber immer schon fernab ist von harscher sozialer und kognitiver Entbehrung.

Sehen wir uns die Auswirkungen dieser Prozedur genauer an: Die unterlegene Arbeiter_in wird als gleiche Bürger_in, als durchschnittliche Lohnarbeiter_in postuliert. Während jedoch die Stoiker_in in ihrem Reich privilegierter kognitiver Produktion verweilt, lässt sich die unterlegene ehemalige Diener_in – im Bewusstsein der Falschheit dieser bürgerlichen Rhetorik und einen Überschuss im Verhältnis zum Subjekt des Wissens fühlend – auf eine Selbstbeschäftigung mit der neuen Herr_in ein. Dabei tritt sie in die illusionäre Heteropie ein, eine neofeudale inzestuöse „Familie“, den gemeinsamen „ehrlichen“ Körper einer Gemeinschaft.

An diesem Ort einer informellen Heterotopie verschleiern Intimität und Gefolgschaft die Arbeitsteilung zwischen Gastgeber_in und Gäst_in, und das ganz im Sinne der mittelalterlichen Höflichkeit. Die quasi-feudale Heterotopie der „Liebe“ ist, wie wir weiter oben bereits ausgeführt haben, zudem ein potenzieller Ort sadomasochistischen Zwangs. Aber diese sadomasochistische Heterotopie bewahrt die Diener_in zumindest davor, die eigene Überflüssigkeit zu spüren, die im Kontext der bürgerlichen emanzipatorischen Rhetorik „einer Stoiker_in“ so offensichtlich ist.

Das erklärt, warum der gegenwärtige Riss in der populistischen Politik nicht zwischen den Reichsten und den am meisten Verarmten verläuft, sondern zwischen der aufgeklärten transnationalen Mittelschicht, das heißt, den globalen Wissensträger_innen, und den finsteren lokalen Massen. Es gelingt den autoritären Regierungen und den refeudalisierten oligarchischen Klans erfolgreich, den Zorn der Massen auf die aufgeklärten „Stoiker_innen“ zu lenken, indem sie diese als globale Machthaber_innen darstellen, die den Pöbel verachten. Die „Leute“ dürfen daher „verzogene“ Kinder sein und ihre „Scheiße“ verstreichen, um so ihrem Zorn gegenüber den Überlegenen Ausdruck zu verleihen.

***

Bis vor kurzem dachte man noch, dass der Erfolg des kognitiven Kapitalismus seinem beschleunigten Wachstum und dem Zugriff auf den General Intellect für die Massen geschuldet ist. Alle erinnern sich an Maurizio Lazzaratos Konzept vom „Kommunismus des Kapitalismus“. Doch die Algorithmisierung und die kybneretische Aktualisierung sozialer Dienstleistungen und Arbeit beziehungsweise die Ausbreitung von Sprachen politischer Kritik und Emanzipation wurden – selbst wenn ihre Zugänglichkeit behauptet wurde – von den Massen nicht als Quelle ihrer Aufklärung und ihres Wohlstands erkannt. Anders gesagt, die verschiedenen Ressourcen der Aufklärung oder kognitiven Wachstums sind nicht nur eine Frage des Zugangs, sondern auch eines gewissen sozialen Jargons, der allzu oft unübersetzbar und daher für die Mehrheit der Massen hohl blieb.

Wenn Wissen zum wichtigsten Kapital und Produktionsmittel wird, ist es die Ungleichheit im Wissen, die in den nicht privilegierten Schichten der Gesellschaft eher Beleidigung und eine Stimmung von Nicht-Anerkennung schafft. Ein solcher Riss bestimmte die ataraktische Selbstreferenzialität und die Seichtheit der Emanzipationsdiskurse. Das ist es, was wir, die kognitiven Arbeiter_innen, nicht ganz begriffen haben. Für die verarmten Arbeiter_innen ist es leichter, sich mit dem finanziellen Wohlstand der Oligarch_innen zu identifizieren als mit der aufgeklärten fortschrittlichen Intelligenzija, auch wenn sie sozial und ökonomisch prekär ist. In einer solchen Situation ist die verborgene nicht enthüllte „Herr_in“ das nach Emanzipation rufende stoische Subjekt – das heißt, die kognitive Intelligenzija.

Es ist also keine Überraschung, dass die neoliberalen „demokratischen“ Regierungen in nahezu allen post-sozialistischen Ländern von nationalen konservativen Oligarchien überholt wurden, die gegen Globalisierung und Neoliberalismus auftreten und nicht nur von ehemals kommunistischen Organisationen (häufig den Überbleibseln der früheren kommunistischen Partei) unterstützt werden, sondern sogar von gewissen linken Basisgemeinschaften. Diese linken Globalisierungsgegner an der Basis zeigen offen ihre Verachtung für die globalen kulturellen oder akademischen Felder und halten konservative Leitfiguren oder gar die Spitzen nationaler Oligarchien – Erdogan, Orban, Putin, Trump, Ivanishvili – für einen Syriza-artigen Widerstand gegen die globale Finanz- und Kulturbürokratie. Nur ein etwas anspruchsvollerer Blick auf die konservative Wende würde es uns also ermöglichen zu sehen, dass Traditionalismus und die Restitution der Religiosität nicht unbedingt einem reinem Glauben oder Bewahren von Grundwerten geschuldet sind. Die wahre Intention, die sich hinter kulturellem Traditionalismus und Regionalisierung versteckt, ist nicht der Kampf gegen die Moderne. Im Gegenteil, es ist Revolte und Neid, weil es an Vermögen zur aufgeklärten und emanzipierten Techno-Gegenwärtigkeit und ihren Lexika mangelt.

Die ataraktische Missachtung der kognitiv nicht entzifferbaren Gesellschaftsschichten durch die progressive Intelligenzija schuf die Illusion von zwei gleichzeitig funktionierenden Modellen des Kapitalismus – dem demokratischen, globalen Finanzkapitalismus und dem Ressource-, territorialen und autokratischen Kapitalismus, der vorgibt, in seiner Form antikapitalistisch zu sein, während er, was den Inhalt betrifft, tatsächlich kapitalistisch ist. Doch bei beiden Modi des Kapitalismus handelt es sich nur um zwei Seiten derselben Münze.

 

III

Das Proletariat als das Subjekt des Denkens und der Aufklärung

Wer aber könnte das allgemeine Subjekt von Wissen und Bewusstsein sein, das die Abstraktheit des Denkens und die Konkretheit der Formung von Dingen, das heißt, Körper und Geist zu verbinden vermag? Historisch war das Proletariat dieses Subjekt, dass jenes Bewusstsein erlangen würde, das sowohl allgemein ist in seinem spekulativen Maßstab, aber auch konkret in der Umsetzung dieses Allgemeinen im objektiven Dasein. Es war nur das Proletariat, das Marx mit dieser Fähigkeit versah, Arbeit in allgemeines Wissen und Bildung zu verwandeln. In Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) stellt Lukacs die Behauptung auf, dass das Klassenbewusstsein des Proletariats in Wirklichkeit die Produktion dessen ist, was Bewusstsein per se sein soll. Andernfalls könnte das bürgerliche Bewusstsein gar kein Bewusstsein sein (Andrei Platonow macht ein ähnliches Argument, wenn er schreibt, „die Seele der Bourgeoisie ist Begehren und Sexualität“, wohingegen „die Seele des Proletariats das Bewusstsein ist“).[8]

Sieht man sich das Dokumentationsmaterial des Kongresses der Komintern 1921 durch, so sticht hervor, dass die brillantesten kommunistischen Verfechter_innen der proletarischen Revolution – Lenin, Radek, Trotsky – alle der Mittelschicht angehörten, der Intelligenzija, der aufgeklärten Bourgeoisie.

Und dennoch waren sie es, die die Ermächtigung des Proletariats zum allgemeinem Subjekt der Geschichte einläuteten, um dann seine postrevolutionäre Diktatur zu instituieren. Eine solche Disposition – dass die Mittelschicht, das heißt, linke Kulturarbeiter_innen eine soziale Verbindung zu den am meisten benachteiligten Schichten der Gesellschaft herstellen und diese unterworfene Subjektivität darüberhinaus als Avantgarde der Emanzipation etablieren – wäre heute unvorstellbar. Warum war es damals möglich und jetzt nicht? Ist das etwa einem historischen Moment geschuldet, nämlich der Ausbreitung von Basisbewegungen damals und ihrem Fehlen heute? Ist das Proletariat lediglich eine politisch organisierte Arbeiter_innenklasse? Oder trägt dieses Konzept mehr als soziale Emanzipation in sich?

Wir erinnern uns, das Proletariat ist die Klasse, die ihre unterlegene soziale Bedingung dadurch transzendiert, dass sie eine nahezu fantastische Bewusstseinshaltung erlangt, mit der sie ihren eigene Entbehrung überholt, um dann konzeptuell und onto-ethisch das allmähliche Verschwinden jeder Art von Entbehrung zu postulieren. In dieser Aneignung einer Allgemeinheit des Bewusstseins ist eine Proletarier_in nicht nur die Avantgarde politischer Emanzipation oder ein historisches Subjekt, sondern ein überragendes philosophisches Subjekt. Diesbezüglich ist erwähnenswert, dass Marx’ elfte Feuerbachthese, die traditionell als Abtun der Philosophie zugunsten einer sozialen Praxis interpretiert wird, eine gegenteilige Bedeutung erhalten könnte. Diese These könnte im Gegenteil als Totalisierung der Philosophie verstanden werden, als Positionierung der untersten und am meisten benachteiligten sozialen Schichten in der Rolle der Aufgeklärten, der Philosophischen – als Versuch aus der Philosophie eine weltliche Gewohnheit zu machen, statt ihren Ausschluss aus der sozialen und politischen Praxis zu fordern.

Das Proletariat ist in diesem Sinn nicht nur das hauptsächliche Subjekt der Entbehrung, sondern auch das hauptsächliche Subjekt von Aufklärung, Geist, Denken und Wissen, die Verkörperung der am meisten entwickelten Phase des Bewusstseins, noch ehe die nominellen Fähigkeiten des Proletariats in Bezug auf Bildung, Technologien oder Produktivkräfte einen solchen Fortschritt gewährleisten könnten. Die Revolutionär_innen der Komintern, die öfter aus der Intelligenzija oder sogar dem niedrigen Adel stammten, gingen nicht nur von der Verteidigung der Interessen der Unterdrückten aus, und gaben, was sogar noch schlimmer ist, nicht vor, selbst Unterdrückte zu sein – eine Abberation, die im kognitiven Prekariat heute öfters vorkommt –, sondern postulierten die Unterdrückten als höchstes Subjekt von Wissen und Denken, als sie das konzeptuelle soziale Konstrukt des Proletariats entwarfen – das heißt  sie praktizierten eine radikale Anti-Antaraxie.

Die Revolutionär_innen der Komintern, die sich mit dem Proletariat zusammenschlossen, waren jene Post-Stoiker_innen, die ihre kognitive Hegemonie willentlich zugunsten eines anderen, allgemeineren Bewusstseins verwarfen, das in der Subjektivität der sozial benachteiligten Arbeiter_in seine Konturen fand. Fantastisch an der Idee des Proletariats ist also, dass es das Subjekt der äußersten Entbehrung mit der höchsten ideellen Macht des Geists vor jeder bildenden, kognitiven oder institutionellen Erweiterung versieht.

Dieser Standpunkt stand fest, noch ehe Bildung unter den sozial Benachteiligten entsprechend Verbreitung finden konnte, das heißt, vollkommen verfrüht. Stellen wir uns vor, jemand wird als philosophisches Subjekt gefordert, noch ehe sie/er ausreichend Produktions- und institutionelle Mittel erworben oder einfach nur Fähigkeiten entwickelt hat, um diese Position zu behaupten. Dieser Akt wird nicht dadurch bestimmt, dass dem Unterlegenen Integrationshilfe angeboten wird, sondern bedurfte im Gegenteil einer Ethik, in der Entbehrung den Ausgangspunkt bildet für die Formung eines universelles Subjekts von Wissen, Denken und Gemeingütern. Diese Notwendigkeit rührt daher, dass für Marx nur das proletarische Bewusstsein wegen seiner äußersten Entbehrung die Objektivität des Seins spiegeln konnte, weshalb es de facto den am meisten verallgemeinerten, universellen und sozialisierten Geisteszustand repräsentieren konnte. Wir haben also ein höchstes Subjekt des Geist/Wissens und ein Gemeingut, noch ehe das Subjekt eine richtige Erbauung gewähren konnte, um seine Rolle darzustellen. Aber genau dieser verfrühte Akt der Ermächtigung und Instituierung des noch unreifen Subjekts der Aufklärung war die paradoxe Aufgabe der Oktoberrevolution.

 


Results incorporated in this publication have received funding from the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme under the Marie Sklodowska-Curie grant agreement No 752417.

 

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[1] Svetlana Baskova ist eine russische Künstlerin und Filmemacherin. The Green Elephant – ein Film im Genre des Trashfilms – wurde niemals im Kino oder in einer Kunstausstellung gezeigt, wurde aber dennoch Folklore und ein Internethit, eine wirkliche Volkskunst, die auf Bahnhöfen und in U-Bahnstationen vertrieben wird. Er spiegelte die unheimlichsten Merkmale von Machtverteilung und primitiver Akkumulation der post-sowjetischen 1990er Jahre: http://www.youtube.com/watch?v=QnPUVxYt81M.

[2] Keti Chukhrov, „Communion“, übers. v. K. Platt, M. Bojovic, S. Sandler, in: Common Knowledge, Jg. 24, 2018, Nr. 1, S. 130-148, Duke: University Press.

[3] Die Übersetzung dieses Abschnitts erfolgt auf Basis der von Norik Badoian erstellten englischen Übersetzung.

[4] http://www.mg-lj.si/en/exhibtions/1695/u3-keti-cukrov/.

[5] G.W.F Hegel. Phänomenologie des Geistes. Werke 3. „IV. Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst“. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Wissenschaft, S. 137–145. 

[6] „Allein so wie er hier als Abstraktion von der Mannigfaltigkeit der Dinge sich abtrennt, hat er keinen Inhalt an ihm selbst, sondern einen gegebenen. […]Auf die Frage an ihn, was gut und wahr ist, hat er wieder das inhaltlose Denken selbst zur Antwort gegeben: in der Vernünftigkeit soll das Wahre und Gute bestehen. Aber diese Sichselbstgleichheit des Denken ist nur wieder reine Form, in welcher sich nichts bestimmt“. Ibid, S. 158.

[7] Ibid, S. 159.

[8] Andrey Platonov (1988). „But a Man as one Soul“ (No Odna Dusha u Cheloveka, 1924). In: Andrey Platonov. State Resident (Gosudastvenny Zitel). Moskau: Sovetsky Pisatel, S. 532.