Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

07 2018

Die Zeit in der Zeit der Gastfreundschaft

Ana Hoffner

Seit vielen Jahren schon sind die Geschichten der österreichischen und deutschen Gastarbeiter_innen vergessen. Es gab wenig bis gar keinen Diskurs, der über die Vergangenheit der importierten Arbeitskräfte reflektiert hätte. Zumindest seit den frühen 1990er Jahren ist sogar der Begriff „Gastarbeiter_in“ nicht mehr zeitgemäss. Seitens vieler Aktivist_innen, Kulturarbeiter_innen und Künstler_innen wurde viel Aufwand betrieben, um ihn durch den Begriff „Migrant_innen“ zu ersetzen. Das ist nicht zuletzt als Akt der Selbermächtigung passiert, um eine von außen zugewiesene Identität, die aus Zeiten der Arbeitsverträge im Kalten Krieg stammt, und an die vielfache rassistische Zuschreibungen gebunden waren, zu hinterfragen. Von Migrant_innen und nicht von Gastarbeiter_innen zu sprechen bedeutete, eine bestimmte Form von Kritik an offizieller, staatlich geleiteter Politik zu üben, die Arbeit und Migration reguliert hatte und das Bild der Gastarbeiter_innen als unwillkomene Eindringlinge, die nur als billige Arbeitskräfte zu akzeptieren waren, produziert hatte.

Im Moment sind wir jedoch mit einem steigenden Interesse für all jene konfrontiert, die osteuropäische Länder in den 1960er und 70er Jahren verlassen haben, um Gastarbeiter_innen zu werden. Ein Interesse, das vor allem von konservativen oder rechtspopulistischen Politiker_innen ausgeht. Im Folgenden möchte ich davon ausgehen, dass dieser neue Bezug zu einer vergessenen, ungewollten Identität aus der Vergangenheit nur als Instrumentalisierung der Gastarbeiter_innen als Figuren einer Politik verstanden werden kann, die nicht die Gastarbeiter_innen selbst (oder den Kontext ihrer Arbeitsbedingungen) betrifft, sondern auf die sogenannte aktuelle „Krise“ der Migration fokussiert.[1]  In diesen Erzählungen erscheinen Gastarbeiter_innen nur als gut integrierte Mitglieder ihrer Gastgebergesellschaften. Sie sind eigentlich nicht mehr Gäste, sondern haben das Recht erlangt, sich im ehemaligen Westen zu Hause zu fühlen. Damit soll gezeigt werden, dass dies auch für gegenwärtige Migrant_innen und Geflüchtete möglich ist. Es sind jedoch nicht nur konservative und rechte Politiker_innen, die den vorherrschenden Rassismus auf diese Art und Weise verdecken. Es gibt auch eine große Sehnsucht seitens vieler Aktivist_innen, Künstler_innen, Migrant_innen und Geflüchteter selbst, ein politisches Bündnis zwischen den früheren Bewegungen und den aktuellen Migrationen herzustellen. Aus diesem Grund möchte ich vorschlagen, die strukturelle Beziehung zwischen Gäst_innen und Gastgeber_innen und der dazugehörigen Implikationen von Gastfreundschaft für das Schreiben einer Geschichte der Gastarbeiter_innen, gegenwärtiger Migrant_innen und Geflüchterer, zu überdenken. Ich möchte dabei Gastfreundschaft auch als eine grundlegende Basis für das Lesen und Herausfordern jener linearen Narrative vorschlagen, die im Bezug auf Gäste/Arbeiter_innen/Migrant_innen/Geflüchtete dominieren bzw. die wir vorraussetzen oder aktiv herstellen.

Gastarbeiter_innen waren seit ihrer Ankunft in ihren neuen Arbeitsumgebungen von einem negativen Klima umgeben: große symbolische und rechtliche Ausschlussmechanismen mussten installiert werden, um sie an die Ränder der Gesellschaft zu drängen.[2] Nach wie vor macht die Situation einer abfallenden Gastfreundschaft oder einer Gastfreundschaft, die an bestimmte Bedingungen geknüpft ist – so nennt Derrida das traditionelle, vorherrschende Modell von Gastfreundschaft –, die das Thematisieren einer Politik der Gastfreundschaft als Widerstandspraxis notwendig macht.[3] Aus meiner Sicht ist eine solche Reartikulation von Gastfreundschaft in einer (kapitalistischen) Gesellschaft, die auf globalen Aufteilungen von Arbeit beruht, notwendig, weil Gastfreundschaft eben das ist, was aktuelle Positionen der Gäst_innen und Gastgeber_innen durch innere und zeitliche Logiken erst ermöglicht. Daher werde ich die Aneignung der Geschichten anderer oder das Herstellen von Narrativen über Arbeit und Migration nicht einfach ablehnen, sondern versuchen, ein anderes (zeitliches) Modell von Gastfreundschaft zu finden, das ein Hören jener Stimmen ermöglicht, die sehr weit voneinander entfernt zu sein scheinen.

Anstatt nach alternativen nicht-linearen Erzählungen über Gastfreundschaft zu suchen, beschreibt der Literaturwissenschaftler Ralf Simon in seinem Text “Die Zeitlichkeit der Gastfreundschaft” Gastfreundschaft als ein wichtiges Prinzip der Erzählung selbst.[4] Für Simon ist Gastfreundschaft sogar das, was die „Urszene der Erzählung“ konstituiert.[5] Dieses Verständnis von Gastfreundschaft erlaubt es Simon das Erscheinen der Gäst_in durch eine szenische Komponente zu analysieren. Wir können uns die Begegnung zwischen Gäst_in und Gastgeber_in innerhalb eines solchen strukturellen Szenarios vorstellen, das einer bestimmten Dramaturgie folgt. Die Geschichte beginnt, wenn die Gäst_in ankommt. Sie klopft an die Tür. Die Gastgeber_in öffnet die Tür. Die Gäst_in wird eingeladen einzutreten. Sie betritt den Raum. Sie bringt ein Geschenk: sie erzählt ihre Geschichte. Am Ende geht sie. Simon entwickelt diese Elemente, um die Positionen der Gäst_in und der Gastgeber_in entlang der wichtigsten Fragestellung, die Gastfreundschaft zugrunde liegt, zu entwickeln: Wie lang soll eine Gäst_in bleiben? Auf der einen Seite, darf eine Gäst_in nicht abgewiesen werden, aber wenn sie zu lange bleibt, wird sie integriert und assimiliert werden und sie wird nicht länger eine Gäst_in sein, sondern ein Mitglied der Gesellschaft der Gastgeber_in. Simon argumentiert, dass die Gäst_in eine Fremde bleiben muss, sonst hört sie auf Gäst_in zu sein und wird etwas anderes. Ich würde hinzufügen: mit oder ohne die vielfältigen positiven und negativen Auswirkungen, die diese Situation produziert. Die reale Schranke des Raumes der Gäst_in ist daher Zeit, weil sie in einem zeitlichen Paradoxon situiert ist[6]  – nicht bleiben und nicht gehen.

Simon legt einen spezifischen Wert auf die Geschichte, die die Gäst_in erzählt. Die Geschichte kann als eine Biografie der Gäst_in verstanden werden, die die Szene der Gastfreundschaft auf die eine oder andere Weise betritt, wenn die Gäst_in auftaucht. Die Geschichte hat die Funktion eines Geschenks. Sie erfüllt die Erwartungen der Gastgeber_in unterhalten zu werden, und die Erwartung, dass die Gäst_in etwas liefern soll, weil sie empfangen wurde. So setzen sich die Gäst_in und die Gastgeber_in hin, um zu sprechen und zuzuhören. Die Erzählung verdoppelt sich, wenn die Geschichte innerhalb der Geschichte beginnt. Das ist der Moment in dem das Skript, das bislang beschrieben wurde, zeitlich angehalten wird und wir eine andere Zeit betreten, nämlich die der Gäst_in als Erzähler_in.

Die Frage “Wie lang soll eine Gäst_in bleiben?” verwandelt sich in die Frage: wie lange kann eine Gastgeber_in zuhören und sich Zeit für den Gast nehmen? Die Zeitdauer ist immer verhandelbar. Zeit wird genommen, Zeit wird gegeben, aber in diesem Konzept der Gastfreundschaft ist Zeit nicht austauschbar. Sie kann nicht zurückgegeben werden, weil sie sich jenseits der Ökonomie von Schuld und Gleichheit bewegt. Für Ralf Simon korrespondiert die Zeitlichkeit der Gastfreundschaft mit der Zeitlichkeit des Lesens: wir nehmen uns Zeit zu lesen und bekommen das Geschenk einer Geschichte. „Gastfreundschaft bietet ein Modell über Literatur an sich nachzudenken: Literatur ist ein Gast in der Sprache.“[7] In gleicher Weise können wir Kunst und Kultur als Gäste der Realität begreifen, weil es notwendig ist, sich Zeit zu nehmen, um sie zu verstehen, anzuerkennen und zu rezipieren. Die Frage, wie lange ein Gast bleiben kann, ist daher auch die Frage, wie viel Zeit wir haben, um zu lesen, zu schauen und die Linearität unserer Leben durch die Geschichten, die andere uns erzählen, und die Bilder, die uns gezeigt werden, zu reflektieren.

Simon stellt weitere Fragen über diese Zeit in der Zeit und ihr Verhältnis zur Erzählung.[8] Gäst_in und Gastgeber_in besetzen für Simon zwei unterschiedliche zeitliche Modelle. Die Zeit der Gastgeber_in verläuft auf einer linearen Zeitskala. Aus der Perspektive der Gastgeber_in befindet sie sich an einem bestimmten Zeitpunkt, wenn der Gast erscheint. Dieser Zeitpunkt hat eine Vergangenheit und eine Zukunft. Die Vergangenheit ändert sich gemäss des Standpunktes, den die Gastgeber_in einnimmt. Die Zeit der Gäst_in ist jedoch eine Unterbrechung des Zeitverlaufs. Ihre Geschichte ist die Zeit, die aus den Fugen geraten ist, Zeit ohne ihrer äußeren Messbarkeit. Es ist eine Zeit ohne stabile Vergangenheit, die als Erinnerung gesammelt, bewahrt und gezeigt werden kann.

Es ist sehr wichtig, die Komponente einer beidseitigen Unsicherheit in der „Urszene der Erzählung“ mitzubedenken. Diese ist sehr gut durch Derrida’s Begriff der „hostipitality“ beschrieben – „hostility“ (Feindseligkeit) und „hospitality“ (Gastfreundschaft) gehören zusammen.[9] Die Urszene der Erzählung ist nämlich nur scheinbar ein sicherer Ort. Tatsächlich ist die Situation für beide Seiten sehr ambivalent, eine Begegnung zweier Fremder mit einem unsicheren Ergebnis. Alles kann innerhalb des Szenarios der Gastfreundschaft passieren: Gäst_in und Gastgeber_in können sich anfeinden und hassen, möglicherweise erweist es sich als unmöglich einen Austausch in gegenseitigem Einvernehmen zu beginnen. Die Szene alleine garantiert kein positives Resultat. Sie beinhaltet Risiko und Unsicherheit. Simon behauptet, dass die strukturellen Umstände „notwendig sind als ein stabiler zeitlicher Anker.“[10] Die Zeit der Gastgeber_in ist „grundlegend unsicher und offen“ – wenn der lineare Verlauf niemals unterbrochen wird, gibt es keine Zeit für Reflexion und mögliche Kurskorrekturen in Hinblick auf die Zukunft.[11] Lineare Zeit ist von ihrer Unterbrechung abhängig genauso wie die Zeit in der Zeit der Gäst_in sich nur innerhalb des Rahmens von Linearität und Ablauf entfalten kann. Beide Seiten stabilisieren sich gegenseitig, wenn ihre Koexistenz erlaubt ist. Es ist für uns notwendig, uns in einer relationalen stabilen Vergangenheit zu vergewissern. Deswegen leihen wir der Geschichte der Gäst_in ein Ohr und widmen unsere Zeit den Darbietungen der Literatur.[12]  Das hat größere politische Komplikationen: denn eine gastfreundliche Gesellschaft kann nur dann existieren, wenn die Gastgeber_in die Erzählung, die Risiko und ein ungewisses Ende mit sich bringt, nicht ablehnt, sondern offen bleibt für das Eintreten einer Geschichte, die jemand anderem gehört. „Wir akzeptieren die Erfahrung einer Zeit, die nicht einen symmetrischen Austausch basierend auf Gleichheit bezweckt, sondern stattdessen ein unökonomisches Zeitverschwenden, einen großzügigen Zeitaufwand und ein gegenseitiges Zuhören inkludiert.“ [13]


“Wir haben ein Recht auf Arbeit.” “I AM A MAN.” “Lezbyjka na prezydenta.”
Wir haben ein Recht auf Arbeit. Ich bin ein Mensch. Lesbe als Präsidentin.


Das sind die Transparente, die von der Künstlerin Sharon Hayes in ihrer Aktion “In the Near Future” (2005–09) getragen wurden. “Wir haben ein Recht auf Arbeit” ist ein Slogan, der einem Wiener Gewerkschaftsstreik aus den 1960er Jahren, entnommen ist. „Ich bin ein Mensch“ stammt aus einem Streik der Straßenkehrer in Memphis, der 1968 stattfand. „Lesbe als Präsidentin“ ist aus einer jüngsten Demonstration für LGBTIQ Rechte in Warschau. Hayes suchte und inszenierte mehrmals diese Parolen aus politischen Protesten der Vergangenheit im öffentlichen Raum. Für eine bestimmte Zeit und für ein paar Tage in Folge stand sie allein auf den Straßen unterschiedlicher Städte. “In the Near Future“ fand bis jetzt in London, New York, Wien, Warschau und Brüssel statt. Es ist aber auch ein offenes, kontinuierliches Projekt, das in anderen Städten wiederholt werden könnte.

Mich interessiert diese Arbeit, weil sie Gastfreundschaft als einen Schauplatz von Protest behandelt, und zwar sehr präzise, durch eine nicht-lineare Erzählung und ein sorgfältig geschriebenes Szenario. Hayes erscheint unerwartet, unangekündigt im öffentlichen Raum und stellt dabei ihr Publikum selbst her. Sie ist der uneingeladene Gast des öffentlichen Raumes, eben genau so wie jedeR Protestierende. So wie sich ein politischer Protest im Angesicht einer aktuellen Regierung formt und die politischen Repräsentant_innen dazu auffordert zuzuhören, so verwandelt Hayes eine nicht identifizierte Öffentlichkeit in eine Zuhörerschaft. Wenn diese Öffentlichkeit sich erlaubt Hayes‘ Geschichte zu lesen und zu hören, wird sie zu ihrer Gastgeber_in. Aber es gibt mehrere Elemente, die nicht mit einem politischen Protest, wie wir ihn kennen, korrespondieren.

Die Ein-Person-Demonstration ist der erste Teil der Arbeit: sie findet ohne öffentliche Ankündigung statt und kann nur von jenen, die zufällig Zeit und Raum mit der Künstlerin teilen, erfahren werden. Der zweite Teil, oder das, was Hayes ein „Nicht-Ereignis“ aus “In the Near Future” nennt, ist die Installation der fotografischen Dokumente der Performance, projiziert von mehreren Diaprojektoren.[14] Die Bilder geben nicht nur Einsicht in die Intervention der Künstlerin in den öffentlichen Raum, es sind diese Fotografien, die Erinnerungen an politische Proteste hervorrufen, die ins kollektive Gedächtnis eingetreten sind und retrospektiv eine nicht-lineare Erzählung der Performance herstellen. In beiden Teilen ist das Lesen und Hören vorrangig, aber entscheidend ist auch die Art und Weise wie Hayes mit dem Erheben der Stimme und dem Stellen von Forderungen umgeht.

In der Live-Aktion hat Hayes entschieden, nicht die eigene Stimme zu benutzen, um Parolen akustisch zu wiederholen, sondern auf andere Weise die Stimmen der anderen erscheinen zu lassen. Das Tragen von Bannern ohne laut zu schreien, wie es in Demonstrationen oft gemacht wird, hat diesen Ereignissen eine stumme, aber viel effektivere Präsenz gegeben. Alle Aktionen wurden an Originalschauplätzen ausgetragen, da, wo die historischen Proteste auch stattgefunden haben. Die Slogans und die Schauplätze korrespondieren jedoch nicht, daher stimmen sie in den Fotografien auch nicht miteinander überein.

Hayes selbst betont, dass diese Arbeit keine Performance in einem theatralen Sinne ist, weil sie jede Art von Spektakularisierung ablehnt.[15] Die Aktion ist entschieden undemonstrativ. „Ausdruckslos, benommen und affektlos erscheint sie als ein lebendes Relikt und als Zeugin einer altmodischen und gefährdeten Form von öffentlichem Dissens“ schreibt Helena Rickitt.[16] Hayes ist nicht nur ein uneingeladener Gast, sie kommt sogar zu spät, sie „folgt der Politik der Aktion wie ein Schatten.“[17] Trotzdem, Hayes‘ Körper ist zur Schau gestellt und wird im Verhältnis zur Botschaft, die sie trägt, beurteilt. Ist das der Körper eines Arbeiters, der streikt? Oder ist das die Lesbe, die für ihre Rechte kämpft? Stimmt der Körper mit der Identität, die wir im Kopf haben, wenn wir Protestierende auf der Strasse sehen, überein? In vielen Fällen fordert Hayes jene sozialen Konventionen heraus, durch die behauptet wird, dass nur jene, die eine bestimmte Identität besetzen, auch für diese kämpfen können.

Als ich diese Arbeit zum ersten Mal gesehen habe, war ich äußert irritiert. Mir war als würde jemand meinen persönlichen Raum betreten und daraus etwas stehlen, und dann weitergehen und von anderen stehlen. Es hat eine Weile gedauert bis ich begreifen konnte, dass diese Irritation eine sehr identitätsgebundene Forderung im Bezug auf Geschichtsschreibung war, die ich an anderer Stelle nicht gemacht hätte: eine Forderung danach, dass eine bestimmte Protestkultur, gebunden an eine lokale Sprache, nur jenen gehört, die beides gleichzeitig, Kultur und Sprache, für sich beanspruchen können. Hayes‘ Arbeit hat mich sogar wütend gemacht aufgrund ihrer Forderung nach einer breiten, vielleicht sogar universalen Protestkultur. Ich konnte erst spät begreifen, dass Hayes in Solidarität mit den ihr unbekannten Protagonist_innen aus der Vergangenheit dastand, so wie ein schwarzer Mann, der in den 1960er Jahren unter schrecklichen Bedingungen arbeiten musste. Wer ist der rechtmäßige Besitzer dieser und anderer historischer Ereignisse? Wer kann die Zugehörigkeit oder das Recht auf eine bestimmte Geschichte für sich beanspruchen?

Diese nicht-identitäre Beziehung zu den Geschichten anderer Leute habe ich das erste Mal in Osteuropa in den frühen 2000er Jahren kennengelernt. Das Aufkommen von Pride und Queer Festivals hat viele lokale Gruppen in Osteuropa dazu bewogen, an Stonewall zu erinnern, den berühmten Protest für LGBTIQ Rechte, der 1968 in New York stattgefunden hat. Es war egal, dass der US Kontext damals völlig anders war, dass mehr als 30 Jahre zwischen den Ereignissen lagen. Was da erscheinen konnte, war eine queere Geschichte einer transhistorischen Gemeinschaft. Queerness war etwas jenseits von Nation, Rasse, Klasse oder Ability, wie in den ACT-Up Demonstrationen der frühen 1990er Jahre, als direkte Aktionen ein breites Solidaritätsspektrum inmitten der AIDS Krise hervorrufen konnten. Wo ist die Figur der Protestierenden heute platziert? Oder wo würden wir sie gerne sehen, wenn wir bedenken, dass Gastfreundschaft ein Ort ist an dem Protest entsteht und Protest ein großer Teil aller sozialen Kämpfe ist, wie der Kämpfe um das Recht sich zu bewegen, zu arbeiten und zu lieben?

Statt einer Massendemostration ist in Hayes’ Performance nur eine Person sichtbar, die Performerin selbst. Hayes‘ Erscheinen evoziert nicht nur Assoziationen mit Demonstrierenden, sondern auch mit Leuten, die wir aufgrund eines bestimmten Verhaltens, das nicht in den Bewegungsfluss des öffentlichen Raumes passt, als psychisch krank einstufen. Diese Abweichung von der sozialen Realität ist jedoch notwendig, um Hayes‘ Intervention besser zu verstehen. Hayes ist weder innerhalb dieses zeitlichen ‚flows‘ im öffentlichen Raum platziert, noch ausserhalb dessen. Sie ist wirklich ein Gast in der Zeit, jemand der erscheint und innerhalb des zeitlichen Rahmens von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, eine Geschichte zu erzählen hat. In ihren Aktionen, ist sie neben dem sie umgebenden Raum, neben einer zeitlichen Linearität, die soziale, ökonomische und politische Handlungen im öffentlichen Raum definiert, aber vielleicht steht sie auch neben sich.

‚Neben sich sein‘ ist eine wichtige Figur in der Philosophie und auch in der Queer Theory. Die Queer Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick schreibt über die Produktivität dieses ‚neben sich seins‘, weil es „daran nichts Dualistisches gibt.“[18] Judith Butler beschreibt ‚neben sich sein‘ als ein Leben in „sexueller Leidenschaft, emotionaler Trauer und politischer Wut“.[19] Der Akt der politischen Demonstration passiert, wenn wir neben uns stehen und das Risiko eingehen, uns mit unseren Stimmen und Körpern zu exponieren. Das ist der Moment, wenn bestimmte Rechte eingefordert werden. Aber die Aktion “In the Near Future” ist nur ein Zitat dieser Forderungen.[20] Sie betont das, was Butler über das legale Raster an Rechten meint, „das nicht unserer Leidenschaft, unserer Trauer und Wut gerecht werden kann, all dem, was uns von uns selbst entfernt, an andere bindet, uns trägt, zerstört und uns in Leben hineinzieht, die nicht unsere eigenen sind, manchmal fatal, unwiederbringlich.“[21] Die Person, die wir in Hayes‘ Aktion sehen, erinnert uns an Situationen, in denen wir in Leidenschaft, Trauer und Politik involviert waren. Gleichzeitig besteht sie darauf, dass möglicherweise jedeR dort stehen könnte, als Gäst_in in der Zeit, die danach fragt, gehört zu werden. Die Begegnung der Gäst_in (der Protestierenden) und der Gastgeber_in (der Öffentlichkeit) ist keine Frage des Eigentums, der Souveränität oder Identität. Sie erscheint als etwas, das wir potentiell teilen und gemeinsam haben. “In the Near Future” reflektiert über Individuen als vergangene oder gegenwärtige Protestierende, indem die Aktion nicht nur Nähe zwischen den Parolen herstellt, sondern auch zwischen den Städten, die ihre Gastgeber_innen waren. Johanna Burton schreibt in ihrem Artikel “New York, Neben Sich”, dass im Verhältnis zu Sharon Hayes’ Arbeit der Begriff ‚neben sich‘ den Zustand der Stadt New York beschreibt.[22] Ich würde sagen, dass all die Räume, in denen Hayes‘ Aktion stattgefunden hat, neben sich zu sein scheinen: Wien, Warschau und New York teilen ein Potential zu lieben, zu trauern und in politischer Rage zu sein – auf eine queer-vertraute Art.

Hayes macht Forderungen, die oft zeitlos erscheinen, universal oder austauschbar, aber nicht der Gegenwart zugeordet werden können. Sie unterbricht die Zeitlichkeit einer üblichen Protestkommunikation, obwohl sie diese auf- und angerufen hat, und führt uns in eine andere Zeitlichkeit, nämlich die ihrer eigenen Erzählung. Das interessanteste Element diese Zeitlichkeit betreffend passiert vor der Installation von “In the Near Future“, wenn die Einsamkeit des protestierenden Subjektes evidenter wird. Wir sehen Hayes auf mehreren Bildern alleine und an unterschiedlichen Orten protestieren. Im Gegensatz zur Live-Aktion sehen wir alle Proteste, Räume und Parolen zur gleichen Zeit. So erscheinen die zeitlosen Forderungen als würden sie zusammengehören, als würden sie eine gemeinsame Geschichte teilen. Diese Perspektive wird aber nur retrospektiv eröffnet, weil es der individuellen Zuseherschaft unmöglich war zu sehen, wie diese zusammengehören. Die Bilder von jemandem, der_die in der Vergangenheit demonstrierte, können erst jetzt vollständig erfasst werden, und nicht im Moment ihres Erscheinens. Die flüchtigen projizierten Bilder tauchen auf und verschwinden und stellen eine Erzählung her, jedoch ohne klaren Anfangs- oder Endpunkt. Sie versammeln eine sehr utopische Vergangenheit, die suggeriert, dass wir eine Geschichte der gemeinsamen, universalen Forderungen hätten haben können, und sie erinnert uns daran, dass wir leider keine solche Geschichte besitzen, sondern meistens durch Identität, Sprache und Kultur voneinander getrennt sind. Die neuen Fotografien geben uns Eindrücke einer nicht-existenten Vergangenheit, ohne die Erwartungen der Zuschauerschaft, ein bereits bekanntes historisches Bild zu sehen, zu erfüllen. Diese Proteste haben nicht stattgefunden. Die projizierten Bilder eröffnen eine Zeit in der Zeit, die uns erlaubt die Geschichte der Arbeitskämpfe und der Protestkultur zu reflektieren, aber auch unsere Position darin. Tatsächlich erlaubt die Installation den Betrachter_innen nicht, ihr persönliches zeitliches und historisches Gefühl der Zugehörigkeit vollständig zu identifizieren.

Als Zuschauer_in der projizierten Bilder aus Hayes’ performativem Ereignis ist man mit der Unmöglichkeit konfrontiert, eine historische Linearität mit der eigenen Zugehörigkeit in der Gegenwart wiederherzustellen. Es ist daher auch nicht möglich in einer sicheren Subjektposition, die eine stabile Geschichte und Identität gewährleisten könnte, zu verharren. Man muss sich mit den Fragen auseinandersetzen, die Hayes stellt: Wie haben wir in der Vergangenheit protestiert? Wie protestiere ich alleine? Wie verhalte ich mich zu universalen Forderungen? Wie protestiere ich in Solidarität mit anderen? In diesen Fragen liegt eine Öffnung, eine Möglichkeit für etwas, das erst kommen könnte: Erzählungen aus einer nahen Zukunft. Nur wenn wir die Erzählungen der Gastarbeiter_innen – aber auch der gegenwärtigen Migrant_innen und Geflüchteten – als solche fragmentierten Berichte anerkennen, die nicht in einem kohärenten historischen Bild erscheinen, können wir das Erbe ihrer einzelnen Biografien und Geschichten verstehen. Jede einzelne wird ein Geschenk mit sich bringen, das gehört werden will, aber alle zusammen werden nicht die Stabilität einer Identität, die rechtspopulistische Politik hervorrufen möchte, herstellen, insbesondere nicht zum Zweck einer Vorbildwirkung für nationalstaatliche ökonomische Produktivität. Stattdessen fordern uns die Erzählungen der ehemaligen Gastarbeiter_innen als Öffentlichkeit heraus und sie werden das auch in Zukunft immer wieder tun, damit wir die Frage beantworten, die sie stellen: wie viel Zeit wollen wir der Zeit-in-der-Zeit widmen, die sie mit sich bringen?

 

---

[1] Diese Ausbeutung einer historischen Subjektivität für aktuelle Politiken wurde von Jana Dolečki in ihrem Text „‘Heimat, fremde Heimat.‘“ analysiert. Dolečki fokusiert auf die Verbindung zwischen älteren Migrationsbewegungen, wie die der 1960er Jahre, und jüngeren durch die aufkommende Kulturpolitik des Ausstellungsmachens. Siehe Dolečkis Text in der vorherigen Ausgabe von transversal: http://eipcp.net/transversal/1017/dolecki/de (3.4.2018).

[2] Siehe auch Ljubomir Bratić, “Rassismus und migrantischer Antirassismus in Österreich,“ in Landschaften der Tat: Vermessung, Transformationen und Ambivalenzen des Antirassismus in Europa, ed. Ljubomir Bratić (Wien: sozaktiv 2002).

[3] Jaques Derrida, Of Hospitality. Anne Dufourmantelle Invites Jaques Derrida to Respond, (California: Stanford University Press, 2000).

[4] Ralf Simon, “The Temporality of Hospitality,” in Critical Time in Modern German Literature and Culture, ed. Dirk Göttsche (Bern: Peter Lang Verlag, 2016), 165–182.

[5] Ibid., 165.

[6] Ibid.

[7] Ibid., 169.

[8] Ibid., 173.

[9] Jaques Derrida, On Cosmopolitanism and Forgiveness (New York: Routledge, 2001).

[10] Simon, Temporality of Hospitality, 174.

[11] Ibid.

[12] Ibid.

[13] Ibid., 177.

[14] Sharon Hayes, “The Not-Event,” in Art Journal, Vol. 70, No. 3 (Fall 2011), 45–46.

[15] Julia Bryan-Wilson, “We Have a Future: An Interview with Sharon Hayes,” in Grey Room, No. 37 (Fall, 2009), 85.

[16] Helena Reckitt, “To Make Time Appear,” in Art Journal, Vol. 70, No. 3 (Fall 2011), 58–63.

[17] Ibid., 181.

[18] Eve Kosofsky Sedgwick, Touching Feeling: Affect, Pedagogy, Performativity (Durham, N.C.: Duke University Press, 2003), 8.

[19] Judith Butler, “Beside Oneself: On the Limits of Sexual Autonomy,” in Undoing Gender (New York: Routledge, 2004), 20.

[20] Patrick Greaney, Quotational Practices: Repeating the Future in Contemporary Art (University of Minnesota. Press, 2014).

[21] Butler, Beside Oneself, 20.

[22] Johanna Burton, “New York, Beside Itself,” in: Mixed Use, Manhattan: Photography and Related Practices, 1970s to the Present, eds. Lynne Cooke, Douglas Crimp and Kristin Poor (Madrid/Cambridge Mass.: Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia, MIT Press 2010).