06 2009
Eine Einführung in die Demokratie in fünf Wochen
Kroatiens StudentInnen und ihr Grabenkampf mit Aussichten im Frühjahr 2009
Übersetzt von Ljubomir Bratić
„Die Regenfälle des August scheinen die Feuer des Mai in Überreste verwandelt zu haben, die der Müllabfuhr überlassen bleiben. Im leeren Paris wurden die Straßen und danach die Mauern gereinigt. Diese Aktion der Reinlichkeit erreicht auch das Gedächtnis, in dem sich die Erinnerungen verwischen. Die große Stille inmitten des Sommers ist über so viele frühlingshafte Reden und Demonstrationen hinweggegangen, gleich einer Welle, die den Strand wäscht ... Das Danach lässt das Davor wiedererstehen, neuerlich finden wir uns an diesem Punkt.“[1]
So beschreibt Michel de Certeau die nach den Pariser Unruhen im Jahr 1968 entstandene Ruhe. Die gegenseitige Durchdringung der politischen und kosmologischen Temporalität scheint seit jeher naturgegeben zu sein: Der Frühling der Unruhen, der Sommer des Revisionismus und Tourismus ... und der Herbst des Vergessens. Aber diese Beschreibung trifft auf die Zeit zu, die auf einen generischen politischen Augenblick folgt, unabhängig davon, in welcher Jahreszeit er sich ereignet. So ein Moment wird von seiner eigenen Provisorität und Flüchtigkeit bedroht; von seiner Neuartigkeit, Unerwartetheit und Innovationskraft, die eine Diskrepanz in der Ordnung der Dinge mit sich bringen. Und ebenso durch einen Mangel des richtigen Ortes, der richtigen Zeit für die Politik als solche und des richtigen Namens. Darum die Unmöglichkeit, solche Ereignisse zu benennen, außer nach dem Jahr, in dem sie sich ereigneten, wie 1968.
Der richtige Moment zur richtigen Zeit
Alles das zeugt von einer Heterologie oder Heterotopie als einer der grundlegenden Bedingungen der Politik im richtigen (eigentlichen) Sinn des Wortes. De Certeau spricht in seiner Analyse der 68er von einer „Insel“, die plötzlich auf der Karte der bis dahin gut befestigten politischen und ideologischen Grenzen auftaucht.
Ähnlich unerwartet tauchte Ende März in Kroatien ein bis dahin nicht identifizierter politischer Raum auf und erschütterte einen Monat lang die gesamte politische Szene des Landes. Alles ereignete sich fast über Nacht: Eine nicht übermäßig große Gruppe von StudentInnen entschloss sich am Montag, dem 20. April, die philosophische Fakultät in Zagreb[2] mit der Forderung nach kostenloser Bildung für alle und auf allen Ebenen zu besetzen. Zur Mittagszeit okkupierten sie den Eingangsbereich der Fakultät, lasen vor den versammelten Medien ihre Verlautbarung vor, und danach folgte eine Karawane, die in allen Hörsälen den Unterricht unterbrach. Für alle Verwirrten und in die Ereignisse Uneingeweihten war da ein Büchlein, das Skriptum, in dem diese neu gegründete Unabhängige Studenteninitiative für das Recht auf kostenlose Bildung im Detail ihre Gründe, die Ziele der Aktion und die Instrumente für deren Durchsetzung erklärte.
So sah der Initialmoment aus, der von einer kleinen Gruppe von Menschen[3] ausgelöst worden war. Dass es den richtigen Moment zur richtigen Zeit darstellte, zeigte die baldige Solidarisierung der Mehrheit der StudentInnen: Einige Tage später besetzten StudentInnen die Universität in Zadar, und nach einer Woche waren landesweit ungefähr 20 Fakultäten und Universitäten besetzt. Die mittlerweile sehr gut organisierten HochschülerInnen der philosophischen Fakultät (in Zagreb) schickten ihre Delegationen durch ganz Kroatien. Diese unterstützten die StudentInnen in Osijek, Rijeka und Split in organisatorischer Hinsicht, insbesondere was die Einsetzung des Plenums betraf – eines offenen Treffpunkts für StudentInnen und BürgerInnen, wo allabendlich nach der öffentlichen Debatte gemeinsam über die Besetzung und die weitere Vorgangsweise entschieden wurde.
Die blockierten Fakultäten waren aber nicht nur Orte der politischen Auseinandersetzung. Statt der ordentlichen Vorlesungen und Examen organisierten die StudentInnen einen Parallelunterricht: Panels zum Thema Kommerzialisierung des Wissens. Bald kamen auch ProfessorInnen aus Ljubljana, die Vorträge zu ähnlichen Themen hielten. Weiters wurde auf viele andere Fragen eingegangen wie z.B. Korruption im Journalismus, das Verschwinden des Sozial-Staates, Strategien der neoliberalen Politik usw. Die besetzten Fakultäten waren nicht nur von ihrer gewöhnlichen hierarchischen Wissensvermittlung geleert, sondern gewannen einen völlig neuen Zweck: als unbesiegbare „Inseln“ für heftigste Gesellschaftskritik. Als Ort, wo alle an einer radikalen Kritik der Gesellschaft Interessierten einen Platz finden konnten.
Die Medien nahmen zunächst an, dass es sich um die gewöhnlichen frühlingshaften StudentInnenrituale handelte, wo, ähnlich naiv wie in den vergangenen Jahren, um die Nahrung in den Mensas gestritten würde. Aber die täglichen Pressekonferenzen aus den besetzten Fakultäten und der hohe Organisationsgrad zeigten, dass es nicht um Banalitäten ging. Außerdem lieferten die Studierenden nicht, was die Medien sich so ersehnten: Neue Helden in Gestalt der StudentInnenführer. Sie wechselten täglich die SprecherInnen, und so konnte sich kein Gesicht besonders einprägen. Zusätzlich war den MedienvertreterInnen der Zugang zu den besetzten Fakultäten nur begrenzt gestattet. Und es war ihnen nicht erlaubt, die allabendlichen Plena aufzunehmen. Nachdem klar wurde, dass sie nicht die Beherrscher der Situation waren, stellte sich ein großer Teil der JournalistInnen auf die Seite der Studierenden, dies aber nur so lange, bis die aus den Machtzentren geschickten Befehle der ChefredakteurInnen der Zeitungen und des Fernsehens eingetroffen waren.
Die Regierung, sowohl die akademische als auch die staatliche, enthielt sich fast eine Woche lang jedweder Aussage – wohl glaubend, dass die StudentInnenaktion nicht von langer Dauer sein würde. Die ersten Reaktionen waren dann natürlich in einem verurteilenden und drohenden Ton gehalten, womit sie aber den StudentInnen zusätzlichen Mut einflößten.
Die zweite Welle von Reaktionen der zuständigen Institutionen war viel nachgiebiger: Der Rektor der Zagreber Universität kam demütig zum StudentInnenplenum, setzte sich auf den Boden, ohne einen freien Stuhl zu suchen, und wartete geduldig darauf, das Wort ergreifen zu dürfen.
Eine Veränderung der Positionen von Medien und Regierung war voraussehbar. Die Medienstrategie der StudentInnen verhinderte jedwede mediale Instrumentalisierung seitens der Oppositionsparteien und auch der anderen an dem Spiel Interessierten (wie z. B. manche Gewerkschaften). Die akademische und die staatliche Regierungsmacht konnten nur zwei Richtungen haben: entweder ein strenger oder ein nachgiebiger (und scheinheiliger) Elternteil zu sein. In beiden Fällen war die Antwort der StudentInnen Distanz und wiederholte Aussendung der Forderungen an die höchsten Rechtsinstanzen und an die Öffentlichkeit. Der Kampf musste auf einem „neutralen“ Terrain gewonnen werden: in der Öffentlichkeit.
Kampf im doppelt territorialisierten Raum
Ein schwieriger Grabenkampf mit großen Aussichten auf eine Niederlage ist das einzige, was ein Land bieten kann, in dem die Linke schon lange mit der Wurzel ausgerissen wurde und in dessen Mainstream eine Allianz aus Nationalismus und Neoliberalismus herrscht. Es geht hier um einen auf zweifache Weise territorialisierten Raum: Auf der einen Seite steht die Hegemonie des Diskurses des Techno-Managements, für den vor allem die Errungenschaften des Sozialstaates ein großes Problem darstellen und der die Arzneimittel für den „kranken Sozialkörper“ ständig in ökonomischen Therapien zu finden bestrebt ist. Auf der anderen Seite gibt es die prinzipielle ideologische Grundlage, an der sich die habermasianischen und arendt’schen akademischen Befestigungen wachsam betätigen, wo demokratische Normen hervorgebracht werden und wo ständig auf jeden Exzess, der in den Totalitarismus führen kann, aufgepasst wird.
Die StudentInnenbewegung traf natürlich auf beide Hindernisse. Die prominenten Wachhunde der Ordnung warfen ihnen zunächst eine ungenügende „Artikulation“ vor, d.h. sie sprächen nicht die Sprache der Realität, der realen gesellschaftlichen Probleme; anschließend wurden ihre Methoden als „undemokratisch“, „kommunistisch“ und „von den Achtundsechzigern inspiriert“ verurteilt. Das waren die zwei Hauptargumentationslinien gegen die Studierenden und ihren Kampf.
Für eine Bilanz dieses Kampfes ist es wahrscheinlich zu früh, obwohl die StudentInnen nach fünf Wochen (zwecks regulärem Abschluss des Universitätsjahres) auf den Plena die vorübergehende Auflösung der Besetzung beschlossen. Allerdings tagen die permanenten Plena der StudentInnen und BürgerInnen weiterhin, und derzeit werden Pläne für den Herbst geschmiedet.
Gleichzeitig dauert ein durch Polemiken und öffentliche Auseinandersetzungen charakterisierter Interpretationskrieg an. Viele Positionen kristallisierten sich heraus, der Krieg wurde auch seitens der resignierten und verstreuten kritischen Intelligenz als der ihre angenommen. Zumindest wurde sichtbar, dass das Territorium der hegemonialen Öffentlichkeit nicht so unverwundbar ist, wie bis dahin gedacht; dass die Wachhunde der Ordnung ihre Unruhe nicht verbergen konnten: Genau das zeigt, dass die fünf Wochen nicht umsonst waren. Diese Unruhe ist der verkehrte Gehalt eines zweifachen Geständnisses: Dass diese „Kinder“ durchaus „artikuliert“ sind, und dass ihre Sprache, oder „Artikulation“, tatsächlich eine Kraft beinhaltet, die imstande ist, mit der herrschenden Idee der Politik zu brechen.
Das heißt nicht, dass wir uns am Ziel, in der Nähe eines Gesetzes, das allen und auf allen Ebenen eine kostenlose Bildung garantiert, befinden. Aber nach fünf Wochen der gemeinsamen Handlungen und nach einem unerwarteten politischen Durchbruch lässt sich eine Menge an politischen Errungenschaften auflisten: das Erscheinen eines neuen politischen Subjektes, das sich bisher zwischen mehreren Kategorien und Namen (Student, Bürger, Arbeiter etc.) befand, ohne sich gleichzeitig mit diesen im einzelnen zu decken, eine veränderte politische Topologie (die Fakultäten als autonome politische Zonen), neue Formen des gemeinsamen Entscheidens (Plena) usw. All das sind Elemente, aus denen ein neuer Rahmen für die Politik aufgebaut werden kann. Vielleicht wird gerade deswegen eben dieses Jahr 2009, wie auch 1968, einmal als dasjenige erkannt werden, das dem Wort „Demokratie“ in Kroatien eine andere Bedeutung gegeben hat.
Veröffentlicht in kulturrisse 2/2009.
[1] Michel de Certeau (1994): La prise de parole et autres écrits politiques. Seuil. Paris, S.29 (Übersetzung: Stefan Nowotny)
[2] Die größte Fakultät der Zagreber Universität mit mehr als 6000 StudentInnen. Sie beinhaltet einen großen Teil der Geisteswissenschaften (humanistische und soziale Wissenschaften).
[3] Es waren großteils Mitglieder eines Zirkels, der sich wöchentlich traf und als Ort für das Lesen moderner linker politischer Theorie gedacht war.