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01 2011

Konjunktion, Disjunktion, Gabe

Brian Massumi

Übersetzt von Christoph Brunner

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Pragmatismus, so die Kritik, irre sich im Hinblick auf das Objektive. Seine Maxime, dass etwas „wahr [ist], weil [es] nützlich ist“[1] wird oft als Apotheose des amerikanischen Instrumentalismus verhöhnt. Wie es scheint, nehmen Objekte in der Welt die Rolle des Selbstzwecks an: Ihr Potenzial sei es, utilitaristische Funktionen zu erfüllen. Die Welt definiert sich hier als endlose Ansammlung von verwertbaren Ressourcen, durch die sich das robuste Individuum nach Belieben bewegt: BenutzerIn in einer benutzten Welt. Der extreme Objektivismus, in dessen Annahme die Welt eine vorgefertigte Sammlung von Objekten ist, bestimmt durch ihren funktionalen „cash value“,[2] pendelt nahtlos in Richtung eines Subjektivismus von zielgerichteten menschlichen AkteurInnen, die sich frei ihrer Ressourcen bedienen. Somit wird dem Pragmatismus genauso oft unterstellt, sich im Hinblick auf das Subjektive zu irren. Konzepte wie William James’ „reine Erfahrung“ scheinen den Objektivismus in ihrer scheinbaren Anrufung einer unbeschreiblichen subjektiven Essenz noch zu bestätigen. Ohne die Verankerung in Nützlichkeit würde das Subjekt im ‚Strom’ fortgespült.

In seinem Vorwort zu The Meaning of Truth unternimmt James äußerste Anstrengungen, zu zeigen, dass der Pragmatismus – will man seine Bedeutung richtig einschätzen – nur in Verbindung mit der Theorie des radikalen Empirismus zu verstehen ist. Sein Werk Essays in Radical Empiricism scheint vorerst die Betonung auf End-Objekte hervorzuheben. „Was Kenntnis hier wirklich und praktisch bedeutet [ist ein] Hinführen […] zu und ein Gipfeln in Wahrnehmung.“[3] Eine „Hin-Führung“ scheint jedoch wesentlich offener in der Definition als ein „Nutzen“, ebenso wie eine „Wahrnehmung“ offener wirkt als ein funktionales Objekt. James erhebt den unmittelbaren Anspruch, dass der radikale Empirismus weder einem reinen Subjektivismus noch einem reinen Objektivismus entspricht. Dies wird deutlich in seiner Präzisierung, dass das Endende „vermittelt durch eine Reihe von Übergangserfahrungen, die die Welt bietet“, erscheint, jedoch weder die erreichte Erfahrung noch die Wahrnehmung im Sinne eines subjektiv gefassten Bewusstseins begriffen werden können.[4] Das Radikale am radikalen Empirismus liegt darin, dass es sich weder um objektive Transitionen handelt, die zu funktionalen Resultaten in der Welt führen, noch um Erfahrungen und Wahrnehmungen in Bezug auf diese Transitionen im Subjekt. Traditionellerweise befinden sich Objekte und die mit ihnen assoziierten Operationen in der Welt, wohingegen Wahrnehmungen dieser Objekte im Subjekt angesiedelt sind. James hebt jedoch hervor, dass beide sich in Transition befinden. Dinge und ihre Erfahrung sind gemeinsam in Transition. Theoretisch gesehen gibt es kein Oszillieren zwischen den Extremen des Objektivismus und des Subjektivismus, da Objekt und Subjekt auf die gleiche Seite einer geteilten Bewegung fallen. Die Frage ist, welchen Unterschied ihre Bewegung hervorruft, gemäß derer beide auf die gleiche Seite fallen. Die Antwort wird all diejenigen überraschen, die Pragmatismus mit Instrumentalismus gleichsetzen.

James bedient sich einem skeptischen Freund gegenüber des einfachen Beispiels der Beschreibung eines Gebäudes.[5] Es gibt keine Aussage, die die Beschreibung verifizieren kann. Es existiert so gut wie keine Möglichkeit für den Freund, zu wissen, ob man nicht ungenau oder trügerisch in seiner Aussage ist, solange man nicht gemeinsam durch das Gebäude schreitet und auf die Übereinkünfte zwischen der Rede und dem nun gemeinsam Erlebten verweist. Die Wahrheit der Erfahrung liegt in der erfüllten Erwartung. Soweit scheint die ganze Sache recht schlicht. Doch für James bezeichnet das demonstrative Hinweisen weniger eine externe Referenz des Subjekts auf ein Objekt als eine Einordnung von zwei Subjekten in die gleiche Phase einer „ambulanten“ Bewegung. Der Verweis synchronisiert die Subjekte als zwei Pole des gleichen Vollzugs. Dieser Akt weist weniger auf ein Objekt hin, er ist vielmehr ein performatives Teilen. Das Objekt erscheint nicht ‚in sich’. Es erscheint differenziell, betrachtet von disjunkten Perspektiven aus (Skeptizismus und das Bedürfnis zu überzeugen), miteinander verbunden in einer Bewegung auf etwas hin. Das Objekt zeigt sich abermals, indem es diese beiden subjektiven Bewegungspole in eine gemeinsame Phase bringt. Ihre unterschiedlichen Betrachtungsweisen werden im kollektiven Ausruf „Das ist es!“ aufgelöst. Der demonstrative Ausruf markiert die operative Integration des Objekts in die Bewegung, er lässt dessen Komponenten in dieselbe Phase eintreten. Das ‚Objekt’ ist ein Ausrufezeichen für geteilte Erfahrung.[6] In dieser pointierenden Rolle wird es von der Bewegung aufgegriffen. Das Objekt und die betreffenden Subjekte zeigen sich als differente, in die Einheit der Bewegung einbezogene Pole. Die Einheit währt so lange wie ihre demonstrative Performanz. Sie ist ein Ereignis: ein Entfalten von subjektiven und objektiven Komponenten in ein wechselseitiges Teilnehmen und gemeinsames Bestimmen der gleichen Dynamik.

Im Nachhall des Ereignisses löst sich die Einheit wieder in ihre Differenziale auf, und die Bewegung fährt abermals relativ unbestimmt fort: Es ist möglich, dass im Nachhinein Uneinigkeit entsteht über das, was an diesem Punkt demonstriert wurde. Die Bewegung kann dann ihre Schritte nachzeichnen, um die Demonstration zu wiederholen, eine andere Integration auszurufen und eine Neubestimmung vorzunehmen. Das Objekt wird erneut von der Bewegung aufgegriffen, jedoch mit einem neuen Vermögen, nicht mehr als ein Objekt des Skeptizismus, sondern als Objekt des Disputs. Der Pragmatismus interessiert sich hierbei nicht dafür, ob das von der Bewegung ein zweites Mal aufgegriffene Objekt das ‚gleiche’ ist wie beim ersten Mal. Es ist lediglich von Interesse, dass die sich entfaltenden Differenziale in die integrierenden Ereignisse ein- und austreten, in denen sie als dynamisch vernetzte Pole in Erscheinung treten: Es handelt sich um eine pointierte Einheit in einer andauernden Vielfalt.

Wenn erst einmal das Augenmerk auf der transitorisch-definitorischen Natur des ‚Terminus’ liegt, wird auch deutlich, dass die Identität der Ereigniskomponenten nicht ihrer eigenen Integration zuvorkommen kann. Was das Objekt und die Rolle der Subjekte gewesen sein wird, erscheint nach jeder Integration nur rückblickend deutlich – wenn sie sich schon wieder im Übergang zu einem anderen ‚Terminus’ befinden.[7] Erneut ist alles im Werden. James geht sogar so weit, zu behaupten, dass das, wodurch sich Objekte oder Subjekte konstituieren, schwankt. Ein in einem Terminus das Subjekt konstituierender Bestandteil könnte im folgenden Terminus als Objekt auftauchen oder gleichzeitig als Subjekt und Objekt fungieren.[8] Dies wird deutlich, wenn man sich erinnert, dass man als Wahrnehmende/r immer auch in der Wahrnehmung eines/r anderen als Objekt wahrgenommen wird. In einem anderen Fall kann ein Objekt immer wieder als Erinnerung aufgegriffen werden und tritt somit von einem objektiven in einen subjektiven Status über.[9]

Der Pragmatismus erteilt dem Subjekt und dem Objekt einen operativen Status. Sie werden in keinerlei metaphysischen Widerspruch oder Gegensatz gebracht. Subjekt und Objekt sind entsprechend ihres vielfältigen Aufgreifens in Ereignissen additiv definiert, in einer kontinuierlichen Bewegung der Integration und Entkoppelung begriffen, einem Ein- und Austreten in/aus gemeinsame/n Phasen, deren Dynamik Vorrang vor ihren immer provisorischen Identitäten hat.[10] Subjekt und Objekt werden direkt als Variation begriffen – nicht nur als sie selbst, sondern als Teil voneinander. Ihre offene Fähigkeit, ineinander überzugehen, ist der eigentliche ‚Stoff’ der Welt – wie auch der Erfahrung. Der Begriff ‚Erfahrungswelt’ ist somit redundant.

James’ Unternehmungen unterwandern jegliche Gleichstellung von Pragmatismus mit einem ‚naiven’ Instrumentalismus, indem sie sich entschieden einer Philosophie ‚der sich immer neu erfindenden Welt’ zuwenden. Diese Hinwendung zu einer kreativen Philosophie verbündet den Pragmatismus mit Bergson und Whitehead, mehr als mit anderen Strömungen.[11] An mancher Stelle verschärft James diese Wendung noch. Ihm zufolge sind 99 Prozent der von uns für wahr gehaltenen Ideen in „keiner Wahrnehmung vollendet“, und „unwiderlegt weiterzumachen […] ist unser […] Ersatz für eine Kenntnis im vollendeten Sinne“.[12] Eine in nützlicher Weise abgeschlossene Erfahrung, in der die Identität der Komponenten auch nur für einen Moment des Ausrufens definitiv in ihrer Rolle als Subjekt oder Objekt kristallisiert, bildet die Ausnahme. Die Welt kippt normalerweise nur in definitiven Selbstpointierungen.

„Ätherwellen und Ihr Ärger zum Beispiel sind Dinge, in die meine Gedanken niemals in Form einer Wahrnehmung münden werden, aber meine Vorstellungen von ihnen führen mich an ihren Rand heran, in den farbigen Randbezirk also und zu den verletzenden Worten und Taten, die ihre wirkliche unmittelbare Auswirkung sind.“[13] Das Initiationsobjekt wird selten als Terminus erreicht. Die Welt(-Erfahrung) begnügt sich normalerweise mit dem Anbrechen ‚wirklich kommender Effekte’. Ein Terminus ist wie ein Reservoir an Reizen, das eine/n, der Gravitation gleich, anzieht, um eine/n im gleichen Moment wieder abzustoßen, ähnlich einer zentrifugalen Kraft. Die Welt hält nicht im Ärger inne. Ein böses Wort oder eine böse Tat entfaltet sich in ein Drama, das eine/n und alle(s) um eine/n herum mit einschließt. Man lebt eigentlich immer in einem zentrifugalen Rasen auf einen kommenden Effekt hin.

„Wir leben gleichsam auf der Spitze eines sich vorwärts bewegenden Wellenkammes, und unser Gefühl für die festgelegte Richtung beim Voranstürzen ist alles, was wir von unserem künftigen Weg erfassen. Es ist, als ob ein Differenzialquotient sich seiner selbst bewusst wäre und sich für einen angemessenen Ersatz für eine hingezeichnete Kurve hielte. Unsere Erfahrung bezieht sich […] auf Schwankungen in Tempo und Richtung und ist mehr ein Ereignis dieser Übergänge als eines des Ankommens.“[14]

Wir werden von wellenartigen Tendenzen in sich überschlagenden und einander ständig ersetzenden Erfahrungen getragen, anstatt dass wir Endobjekte erreichen oder objektive Ziele erfüllen. „Wir leben vorwärtsgerichtet“, aber da wir uns immer schon weiterbewegt haben, „verstehen wir rückwärtsgerichtet“:[15] Partizipation geht der Erkenntnis voran. Dies ist der Sinn von James’ bekanntem Bonmot, dass wir nicht rennen, weil wir Angst haben: Wir haben Angst, weil wir rennen.

Da wir immer an der Kippe stehen, sind wir zu beschäftigt, uns weiterzubewegen, um die sich ausführende Welt in Zweifel zu ziehen. Die Frage nach Wahrheit oder Unwahrheit der Wellenkämme und der Wellentäler, durch die wir gehen – seien sie bloß (in subtraktiver Form) subjektiv, reine Erscheinungen oder Illusionen – ergibt sich nicht.

„Diese [transitorischen] Termini […] sind selbst-nährend. Sie sind nicht als etwas anderes ‚wahr’, sie sind ganz einfach, sind real. Sie ‚lehnen sich an nichts an’ […]. Viel eher lehnt sich die ganze Struktur der Erfahrung an sie an.“[16]

Im Endeffekt (oder vielmehr im niemals Endenden) lässt sich die pragmatische Wahrheit weder als funktionale Einpassung zwischen Wille und Weg definieren noch als propositionale Korrespondenz zwischen subjektiven Wahrnehmungen und einem sich selbst gleichen Objekt. Vielmehr bezieht sie sich auf eine sich selbst stützende Erfahrung im Aufbruch, auf dem Weg zu wirklich kommenden Effekten. Wir erleben weniger die bekräftigte Definition unserer Objekte oder unsere eigene Subjektivität, als ihr geteiltes Geschehen, ihr gemeinsames Momentum. Von der Welt mitgerissen zu werden konstituiert einen gelebten Glauben an sie: einen direkten, bewegenden, verkörperten und teilnehmenden Glauben.[17] Glaube ist nicht propositional („das ist [was es ist]“). Er ist der zweifelsfreie Anstieg von Angst, Ärger und Erwartung, dessen Objekt schon vergangen ist, bevor es endgültig definiert wird („also, das ist es gewesen!“).

In „eindeutig gefühlten Übergängen“ liegt alles, was Kenntnis „der Möglichkeit nach beinhalten oder bedeuten kann.“[18] Auf der Welle surfend, sind wir in einem „Das, das noch kein bestimmtes Was ist, wenn es auch gleichwohl bereit ist, jede nur denkbare Form eines Was anzunehmen; sie ist voller Einheit und Vielheit, aber auf eine Art und Weise, die sich nicht manifestiert“.[19] Dies ist, so James,

„was ich reine Erfahrung nenne. Es ist bis jetzt nur virtuell oder potenziell Objekt oder Subjekt. Einstweilen ist es schlichte, unqualifizierte Aktualität, ein einfaches Das“.[20]

„Erst dann, wenn unsere Vorstellung [unsere Erwartung etwas wahrzunehmen] wirklich in einer Wahrnehmung mündet, wissen wir ‚mit Sicherheit’, dass sie von Beginn an in einem wahrhaft kognitiven Bezug zu dieser gestanden hat. Wir waren potenziell Wissende, lange bevor uns durch die rückwirkende, beständige Kraft der Wahrnehmung bescheinigt wurde, dass wir Kenntnis von ihr gehabt haben.“[21]

Die überraschende Antwort auf die Frage, welchen Unterschied die geteilte Bewegung von Subjekten und Objekten macht, lautet: virtuell/aktuell. Subjekt und Objekt erscheinen (auf dem Wellenkamm) ‚als noch’ nicht festgelegt. Sie sind nur virtuell Subjekt oder Objekt. Eigentlich sind sie, was sie gewesen sein werden. Subjekt und Objekt entfallen auf die gleiche Seite der virtuell/ aktuell-Unterscheidung: auf die aktuelle Seite. Dies bedeutet, sie entfallen in rückwirkender Weise (im Wellental). Ihre eigentliche Definition ist ein erfahrungsartiger Dopplereffekt, der sofort ihr ‚Schon-Geschehen-Sein’ in der momentanen Stille vor dem Anrollen der nächsten Welle registriert. Subjekt und Objekt sind keine vorgefertigten Grundlagen für eine zweckmäßige Bewegung mit nützlichen Effekten. Sie sind Effekte: Bewegungseffekte, direkt aufgenommene Weitergaben, die gleichzeitig auch Austreten aus der gemeinsamen Phase bedeuten.

Wie bringt James es zustande, Objekte und Subjekte in Phasen oder Effekte zu verwandeln und gleichzeitig zu behaupten, dass wir einen direkten, unzweifelhaften Glauben an die Welt haben? Weil man, auch wenn man keine grundlegende Verbindung zwischen einem Subjekt und einem Objekt hat, immer noch eine effektive, wenn auch flüchtige Beziehung von Erfahrung zu ihr selbst hat. „Gedanken sind aus demselben Stoff gemacht wie Gegenstände.“[22] „Der Ausgangspunkt wird dadurch zu einem kognitiven Subjekt [knower] und ihr Endpunkt zu einem gemeinten oder gekannten [known] Gegenstand.“[23] „Die letzte Erfahrung kennt die vorherige.“[24] Gedanke und Ding, Subjekt und Objekt sind keine separaten Einheiten oder Substanzen. Sie sind irreduzibel zeitliche Beziehungssmodi von Erfahrung zu sich selbst. Der Wellenkamm ist ein Interferenzmuster zwischen dem vorwärts gerichteten Momentum, der potenziellen Tendenz, die dahinrollt von seinem Ausgangpunkt in einem letzten Terminus, einem schon vorweg genommenen Endobjekt entgegen, und der Rückspülung eines wirklich kommenden Effekts, mithilfe dessen der Ausgangspunkt retroaktiv ein wissendes Subjekt wird. Was in den Wald mitgeht, kommt auch wieder zurück.[25]  Die Welt rollt sich in sich selbst ein, sie rollt über ihre eigenen Erwartungen, ein Ziel zu erreichen. Sie wird zum Schneeball, zum Beginn eines Terminus. Die Welt ist selbsterhaltend, da sie ihr eigenes Momentum nährt. Sie faltet ihre Bewegung um sich selbst, immer im additiven Sinne, indem das Ende eines Rollens eine Rückkehr zum Anfang ist, und mehr noch: Sie zerstreut in ihrem aktuellen Erwachen virtuelle Subjekte und Objekte wie Flocken. In der Welt der Erfahrung ist alles in dieser selbstanreichernden Bewegung begriffen. Es handelt sich hierbei nicht um einen metaphysischen Gegensatz oder Widerspruch, sondern um ein produktives Paradoxon des eigenständigen Werdens. Es ist ein Mehr- und Viel-Werden durch dasselbe Momentum: viel-mehr ein-wegs.

Hiermit gelangen wir zu James’ zentraler Definition, was den radikalen Empirismus konstituiert und was ihn im Paar mit dem Pragmatismus davor bewahrt, als Instrumentalismus zu fungieren: das Primat der Beziehung. Die Welt dreht sich um ihre bedeutsame Beziehung zu sich selbst. James insistiert, dass Beziehungen ebenso real sind wie ihre Termini (Subjekte, Objekte, Sinnesinformationen). Und Beziehungen werden ebenso erfahren.

„Jene Beziehungen, durch die Erfahrungen miteinander verbunden sind, [müssen] ihrerseits erfahrene Beziehungen sein, und jede Art von erfahrener Beziehung muss genauso ‚wirklich’ wie alles andere im System erklärt werden.“[26]

„Die Teile der Erfahrung halten zusammen von einem zum anderen durch die Beziehungen, die wiederum selbst Teile der Erfahrung sind. Kurz: Das direkt wahrgenommene Universum bedarf keiner außen gelagerten transempirischen verbindenden Unterstützung, sondern es besitzt in sich selbst eine verkettete oder fortdauernde Struktur.“[27]

Ein Beispiel: Geben. Dem gesunden Menschenverstand zufolge würden wir eine Beziehung wie das Geben in ihren Termini analysieren oder in ihre Teile zerlegen, um sie anschließend wieder zusammenzufügen. In unserem Fall zerlegt man das Geben in eine/n Gebende/n (A), eine Gabe (B), und eine/n Entgegennehmende/n (C). Theoretisch sollte man in der Lage sein, A mit B (Gebende/r zu Gabe) und B mit C (Gabe zu Entgegennehmender/m) in Beziehung zu setzen, um das Geben erfassen zu können. Jedoch erfährt man eigentlich zwei aufeinanderfolgende Momente des Haltens: A hält B, dann hält C B, mit nichts, was das Halten an sich zusammenhält. Was das Halten selbst zusammenhält, sind nicht die Termini, oder die Teilverbindungen. Was das Halten zusammenhält, ist eine Einheit-in-Vielheit einer Weiterbewegung. Es ist, was die Teile und ihre Haltungen durchläuft, ohne selbst gehalten zu sein: Es ist, was unmissverständlich erfahren wird, ohne gesehen zu werden. Das – die Beziehung – ist nicht in der/m Gebenden. Noch ist sie in der Gabe. Noch ist sie in der/m Entgegennehmenden. Es ist, was sie alle in der gleichen Dynamik zusammenhält und durchläuft. Es ist ganzheitlich viele Dinge: „verkettet und fortdauernd“. Es ist eine beliebige Tendenz, die das Geben nötigt oder treibt. Es ist das Begehren, sich gegenseitig zu erfreuen oder sich aneinander zu binden. Es ist eine Verpflichtung, die zur Wiederkehr verpflichtet. Denn ein Geben ist niemals allein. Es verlangt nach mehr. Es ist seriell, anhaltend. Es sind die Konventionen, die den Takt und die Abfolge angeben, welche Gabe begehrt wird oder wann sie angemessen scheint. Es sind ebenso die sinnlichen Qualitäten der Gabe (unromantisch gesagt, sind es die ‚Sinnesinformationen’). Es ist der Duft oder das Funkeln. Es ist all diese Dinge, gefaltet ineinander und umeinander, eine Erfahrungshülle bildend: „voller Einheit und Vielheit, aber auf eine Art und Weise, die sich nicht manifestiert“ – es ist ein körperloses Medium. Es (er)hält die Gabe für das Geben, und (er)hält das zukünftige Halten für das gleiche Ereignis. Erhalten/Zusammenhalten, ein ganzheitliches ungesehenes Medium des Aufschubs: Das tut es.

Das Aufschubsereignis ist eine körperlose Hülle der Sozialität. Die Gabenbeziehung ist weder komplett persönlich noch objektiv. Sie ist unmittelbar sozial – in gewisser Weise einzigartig unabhängig von der spezifischen Art der Termini in sozialen Beziehungen. Die Gabe mag Blumen oder Diamanten oder was auch immer sein. Das die Haltungen zusammenhaltende Das ist die Vielzahl von Was-Auch-Immer, ein ‚Bereit-Alles-Mögliche-Zu-Sein’. Die Beziehung ist ein Aufschub der spezifischen Definition der Termini in Beziehung. Wenn die Beziehung genauso real ist wie die Termini, dann ist ihre Realität von einer anderen Ordnung: eine einbeziehende Ordnung von ereignishaft ineinander gefalteten Dingen, die bereit sind zu sein. Wenn die einbeziehende Ordnung eine Ordnung des Ereignisses ist, dann werden sich, wie in jedem Ereignis, die wirklich kommenden Effekte durch seinen Vollzug entfalten: Fortsetzung folgt.

Nochmals, ‚wirklich kommende Effekte’ bedeutet: ‚Übergang hat Vorrang’. Die Gabe stellt sich durch das Ereignis des Übergangs vom Angebot in die Annahme als das Objekt des Gebens dar. Rückwirkend treten Gebende/r und Entgegennehmende/r als Subjekte des Gebens, als das ereignishafte Übergehen des Objekts in Erscheinung. Das radikal empiristische Argument beruht darauf, dass dem allumfassenden gelebten Medium – der erfahrenen Hülle der Beziehung – eine bereit-zu-seiende (virtuelle) Koexistenz der Termini in unauflöslicher Einheit der Bewegung innewohnt, die wiederum determiniert, was die Termini im Übergehen gewesen sein werden. Eine solche Ansicht lässt sich in die konzeptionelle Faustregel übersetzen, dass die Termini in einer Beziehung einer anderen Ordnung angehören als ihre Beziehung selbst. Termini in Beziehung, Teile des Ganzen, entfalten sich seriell im Verlauf des Ereignisses. Dies tun sie jedoch aufgrund einer sie haltenden, einfaltenden oder einbeziehenden Ordnung, die sie zu einem Ganzen macht im selben Ereignis. Die Logik der Koexistenz unterscheidet sich von einer Logik der Trennung. Die Logik der Zugehörigkeit unterscheidet sich von einer Logik der Teilnahme.

Um einen Gesamteindruck zu erhalten (inklusive der realen, aber aufgeschobenen Weise, in der etwas nicht erscheint), muss man mit beiden Logiken zugleich operieren: dem Konjunktiven und dem Disjunktiven. Der „radikale Empirismus […] lässt sowohl der Einheit als auch dem Getrenntsein Gerechtigkeit widerfahren“.[28] Er übersetzt Fragen zu Wahrheit und Illusion, Subjekt-Objekt-Korrespondenz in Angelegenheiten von Kontinuität und Diskontinuität.

Dies sind fundamentale Fragen des Pragmatismus: wann und wie man innehält und wie man, indem man innehält, eine umfassende Verbindung generiert und zu welchem wirklich kommenden Effekt. (Man kann niemals eine Gabe zurücknehmen. Sie bindet einen körperlos aneinander an den anderen und greift unwiderruflich ein in das Getrennt-gewesen-Sein.)

Radikaler Empirismus und die pragmatische Theorie der Wahrheit führen gemeinsam zu einem skurrilen Konstruktivismus, in welchem Erfahrung gleichzeitig unabhängig und in sich geschlossen und immer entsprechend der vorübergehenden Logik von Schnitt und Verbindung neu zu erfinden ist. Denn nur im Übergang erweisen sich Dinge als nützlich: ebenso provisorisch wie Ätherwellen, so ephemer wie der Ärger oder so vergänglich wie eine Gabe. Der Dinge einzige apriorische Funktion ist das Werden.

Indem man sich den Dingen auf diese Art und Weise zuwendet, vermeidet man, sich über den kognitiven Status der Erfahrung aufzuregen. Zweifeln Sie? Fühlen Sie sich ein bisschen illusionär? Keine Sorge. Alles ist so echt wie sein kommender Effekt. Konzentrieren Sie sich einfach auf Schnitt und Verbindung, die den kommenden Effekt wirklich spürbar machen. In einem jeden solchen Ereignis sind Sie, wie immer, schon übermäßig in die Welt der Erfahrung verwickelt.

Sie rennen nicht zielstrebig durch die Welt, weil Sie an sie glauben. Die Welt läuft überraschenderweise schon durch Sie hindurch. Und dies, wirklich gefühlt, ist Ihr Glaube an die Welt. Virtuelle Teilhabe, wirklich, wahrhaft an der Kippe, geht aktueller Erkenntnis voraus. Dies meint James, wenn er sagt, „wir leben von spekulativen Investitionen“.[29] Wir finden uns selbst von der Welt, die durch unsere Leben läuft, umhüllt, da unsere Teilhabe an ihr in jedem bewussten Moment gerade aufs Neue für uns vor sich geht, schon jetzt und immer wieder, dem Unglauben trotzend mit einem nicht abzulehnenden Gefühl des Momentums eines Lebens. Die „Spekulation“ bezeichnet das Denken-Fühlen unserer aktiven Verwicklung in das Immer-Weiter-Rollen in der Welt der wirklich kommenden Effekte.

Schnitt und Verbindung, dami ein Effekt fühlbar wird – das ist eine Definition von Kunst. Erweitert durch den virtuell-freundlichen Relationalismus des radikalen Empirismus wird der Pragmatismus nicht zum Verbündeten eines Instrumentalismus oder eines vulgären Funktionalismus, sondern zum Verbündeten der Kunst (der lebenden Kunst, der Künste des Lebens). Dies hat weniger zu tun mit einem Ziel/Nutzen, als mit einem Ausdruck des Übergangs: kreative Philosophie. Die Wahrheit ist nicht ‚da draußen’. Sie ist im Werden.

 

Der hier veroffentlichte Text wird als Kapitel in Massumi, Brian: Semblance and Event, Cambridge, Mass. 2011 erscheinen.

 



[1] James, William: Der Pragmatismus: ein neuer Name für alte Denkmethoden, übers. von Wilhelm Jerusalem, Hamburg 1994, S. 128.

[2] Ebd., S. 33.

[3] James, William: Pragmatismus und radikaler Empirismus, übers. von Claus Langbehn, Frankfurt/M. 2006, S. 20.

[4] Ebd., S. 20.

[5] Vgl. ebd., S. 36–38.

[6] Deleuze würde unter diesen Umständen das Objekt als einen „ausgezeichneten Punkt“ im Inbegriff der „Dramatisierung“ bezeichnen. Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, übers. von Joseph Vogl, Munchen 1988, S. 310 und S. 316–319.

[7] Anm. d. Übers.: James verwendet im Englischen den lateinischen Begriff ‚Terminus’, welcher fur Massumi eine zentrale Rolle spielt. Daher wurde trotz der bei James üblichen Übersetzung mit ‚Endpunkt’ hier der Begriff des ‚Terminus’ verwendet.

[8] Vgl. James: Pragmatismus und radikaler Empirismus, a.a.O., S. 14–15.

[9] Vgl. ebd., S. 40.

[10] Vgl. ebd.

[11] Die hier aufgezeigte Perspektive verdankt viel der ausgezeichneten Studie von Lapoujade, David: William James: Empirisme et pragmatisme, Paris 1997.

[12] James: Pragmatismus und radikaler Empirismus, a.a.O., S. 44–45, veränd. Übers.

[13] Ebd., S. 47.

[14] Ebd., S. 45.

[15] Anm. d. Übers.: Der in der englischen Originalausgabe enthaltende Text „Is Radical Empiricism Solipsistic“ liegt nicht in deutscher Übersetzung vor, deshalb wird hier direkt aus dem Original übersetzt. Siehe James, William: Essays in Radical Empiricism, Lincoln 1996, S. 234–240, hier S. 238.

[16] Anm. d. Übers.: Auch der Text „The Essence of Humanism“ liegt nicht in deutscher Übersetzung vor. Für das englische Original siehe ebd., S. 190–205, hier S. 202.

[17] Deleuze teilt dieses Konzept des Glaubens als ereignishafte und teilnehmende Immersion in das Voranschreiten der Welt und nennt es „Glauben an die Welt“ (Deleuze, Gilles: Unterhandlungen, 1972–1990, übers. von Gustav Rosler, Frankfurt/M. 1993, S. 253; Deleuze, Gilles: Das Zeitbild, Kino 2, übers. von Klaus Englert, Frankfurt/M. 1991, S. 224).

[18] James: Pragmatismus und radikaler Empirismus, a.a.O., S. 37.

[19] Ebd., S. 59, veränd. Übers.

[20] Ebd., S. 19.

[21] Ebd., S. 44.

[22] Ebd., S. 27.

[23] Ebd., S. 38, Herv. BM.

[24] Ebd., S. 37.

[25] Anm. d. Übers.: Im Englischen spielt Massumi hier mit dem Sprichwort: „What goes around comes around“, das sich sinngemäß mit „Wie man in den Wald hineinruft so schallt es heraus“ vergleichen lässt. Jedoch verändert Massumi das Sprichwort wie folgt: „What goes along comes around“.

[26] James: Pragmatismus und radikaler Empirismus, a.a.O., S. 29.

[27] Es liegt keine deutsche Übersetzung des Abschnitts „The Meaning of Truth“ der englischen Ausgabe vor. Wir haben uns erlaubt, die entsprechende Passage übersetzt einzufügen. Das Original: „The parts of experience hold together from next to next by relations that are themselves part of experience. The directly apprehended universe needs, in short, no extraneous trans-empirical connective support, but possesses in its own right a concatenated or continuous structure.“ (James, William: Pragmatism and The Meaning of Truth, Cambridge, Mass. 1978, S. 173.)

[28] James: Pragmatismus und radikaler Empirismus, a.a.O., S. 32.

[29] Ebd., S. 55, Herv. BM.