01 2011
Das Gemeinsame konstruieren. Eine Ontologie
Übersetzt von Birgit Mennel
Die Frage nach der Form, die eine – singuläre oder kollektive – Subjektivität annehmen kann, ist politisch, noch ehe man sich über die Natur der politischen Subjektivitäten als solche Gedanken macht. Politisch ist die Frage nach der Form in doppelter Hinsicht: Einerseits, weil sie eine Befragung der eigenen Zeit impliziert und uns Kategorien abverlangt, die auf der Höhe dessen sind, was uns diese Frage zu denken gibt: Durch die Differenzierung einer Vergangenheit, die nicht mehr ist, und zugleich durch die Diagnose einer Gegenwart, an der wir teilhaben. Andererseits ist die Frage nach der Form politisch, weil sie davon ausgeht, dass Formen der Repräsentation, der Organisation, der Verkettung, der Identifikation, der Objektivierung etc. – wenn sie denn immer historisch verortet und determiniert sind und aufgrund dieser Geschichtlichkeit einen Zeitpunkt ihres Erscheinens aufweisen – immer auch in einem hypothetischen Horizont einen Zeitpunkt ihres Verschwindens haben müssen.
Das zeitgenössische Denken hat all dies in den letzten Jahrzehnten ausführlich erörtert. „Der Tod des Menschen“, mit dem im Jahr 1966 Die Ordnung der Dinge geendet hatte, bewegt schon seit geraumer Zeit niemanden mehr: Denn an die Stelle des Foucault unterstellten Anti-Humanismus hat sich nach und nach ein immer größeres Bewusstsein von einer allgemeinen Geschichtlichkeit der Denksysteme gesetzt. Ob man sich, später dann, zum sehr vieldeutigen Sammelbegriff der ‚Postmoderne’ bekannt hat oder nicht, spielt dabei keine Rolle: Die Herausforderung besteht vor allem darin zu verstehen, in welchem Ausmaß unsere Gegenwart heute die Ökonomie eines neuen Begriffsrasters formen kann, zumal wir, wenn wir die Welt – und uns selbst inmitten dieser Welt – denken wollen, auch den unwiderruflichen Wandel denken müssen, dem sie unterworfen ist.
Diese Vorbemerkung schien mir notwendig, um in Erinnerung zu rufen, wie sehr die Frage der Geschichte und die Frage der Veränderung miteinander verknüpft sind. Die Veränderung – das heißt die Diskontinuität, verstanden als radikale Transformation – nicht zu denken bedeutet, der Geschichte zu entsagen. Und sich der Geschichte zu verweigern läuft auf die Behauptung hinaus, dass irgendetwas kraft seiner Natur oder seines Status die geschichtlichen Bestimmungen übersteigt, dass es also irgendetwas gibt – als Grund oder als Prinzip, als Transzendenz oder als offenbarte Wahrheit –, das sich der Geschichtlichkeit der natürlichen Dinge entzieht. Das nennt man Metaphysik. Nun gehen wir aber von der Ablehnung jeder metaphysischen Voraussetzung aus. Die begrifflichen Formen, in denen die politischen Subjektivitäten gedacht wurden – und in denen wir schlicht zu denken gelernt haben –, sind nicht von aller Ewigkeit her gültig und bleiben es nicht für immer. Und wenn wir nunmehr in der Lage sind, die Geschichte von Begriffen wie Nationalstaat, Volk, Grenze, BürgerIn oder Souveränität in der Moderne zu benennen, dann müssen wir uns auf dieselbe Weise auch Fragen über die Gültigkeit ihrer Aktualität stellen.
Genau hier beginnen nun die Probleme. Im Allgemeinen herrscht Einvernehmen darüber, dass sich ein Übergang zu einem anderen Raster der ‚Unterteilung’ und der Verstehbarkeit des Wirklichen, also zu einer anderen politischen Grammatik ereignet hat (und zwar, wie sich aus Bequemlichkeit sagen ließe, seit 1968 oder auch seit jenem November 1989, der mit dem Mauerfall, der dieses Datum geprägt hat, auch für den Zusammenbruch einer bestimmten Weise steht, sich die Welt vorzustellen; aber die Rechtfertigung der Periodisierung würde schon für sich einen eigenen Text erfordern). Sehr viel weniger Übereinstimmung herrscht dagegen, wenn es um die Frage geht, wie dieses neue Raster zu begreifen ist. Ich möchte daher bei jenen drei Elementen verweilen, die möglicherweise am meisten ins Auge springen und die im Allgemeinen Diskussionen auslösen, die sehr lebhaft sind (man sehe mir den Euphemismus nach).
Diese drei Elemente sind die folgenden:
– die Identifikation des Auftauchens neuer
Subjektivitätsformen als kreativer Prozess,
– die Qualifikation dieses Prozesses als Ontologie
– und schließlich die heftige Kritik an den modernen
Formen, durch die die Universalität gedacht wurde, und die Formulierung einer
anderen Idee von dem, was unter ‚universell’ verstanden werden kann: nämlich
das Gemeinsame.
1. Sich selbst erfinden
Man verzeihe mir, wenn ich äußerst grobschlächtig vorgehe. Es gibt zwei Weisen, sich über die Veränderung in der Geschichte zu verständigen: Die eine verweist auf die Effekte eines mehr oder weniger radikalen Determinismus oder auch eines mehr oder weniger intelligiblen höheren Willens, das heißt auf die Unwägbarkeiten des irdischen Lebens; die andere glaubt in der Veränderung nur die arbeitsame und von ungleicher Inspiration beseelte Hand der Menschen zu erkennen. Im ersten Fall wird die Veränderung erlitten, im zweiten wird sie bewirkt. Selbstverständlich existiert eine solche Wahl nicht als solche, und wir haben es mit einem Pansch beider Modelle zu tun. Dennoch fühlt man sich zwischen einem Denken des historischen Determinismus und einem Denken, in dem die Menschen frei sind, ihre Welt zu erfinden, oftmals in die Falle geführt.
Um einen Prozess zu erfassen, der es den Menschen erlauben würde, sich zu erfinden – das heißt: selbst über die Beziehungen zu entscheiden, die sie zugleich mit sich selbst und mit anderen unterhalten, die Lebensweisen, die sie praktizieren wollen, die Ausdrucksweisen, die sie erproben wollen, die Weisen, sich zusammenzutun und zu organisieren, die sie verwirklichen wollen –, sahen sich bestimmte PhilosophInnen gezwungen, die Geschichte auf dem Weg zurückzulassen. Wenn es Invention, wenn es Erfindung gibt, wenn also der Einbruch einer machtvollen Diskontinuität (etwa einer neuen Weise, sich als Subjekt hervorzubringen) bejaht werden muss, dann darum, weil die Idee, dass diese Diskontinuität selbst das Produkt einer Geschichte war, zuvor eingeklammert wurde. Diese radikale Zäsur wird nun ‚Ereignis’ genannt, und schon wird damit keine historische Diskontinuität mehr bezeichnet, sondern vielmehr jener Punkt, an dem die Geschichte abrupt zerschellt, an dem sie stillsteht. Gerade das Ereignis ist für viele zeitgenössische DenkerInnen – jede erkenne hier wieder, wen sie will – das, was die Geschichte übersteigt, das, worüber die Geschichte keinen Aufschluss zu geben vermag. Das Ereignis ist der Einbruch dessen, was inmitten der Geschichte selbst nicht historisierbar ist. Jenes spezifische Ereignis, das das Auftauchen einer neuen Form politischer Subjektivität darstellt, bildet keine Ausnahme dieses Modells: Es erübrigt sich, von Subjektivierung zu sprechen oder über die Modalitäten eines komplexen Formierungsprozesses nachzudenken, der eine neue Form der Selbstbeziehung und der Beziehung zu anderen hervorbringen würde; das, wovon man spricht, ist eine Epiphanie.
Es ist allerdings schwierig, auf einer solchen Analyse ein politisches Denken zu gründen – es sei denn, man vertraut sich der Erwartung dessen an, was definitionsgemäß nicht vorhersehbar und oftmals nicht einmal begreiflich ist. Der Preis, den es für die vollständige Loslösung von der Geschichte zu zahlen gilt, die paradoxe Zeche für eine radikale Freiheit zum Selbstentwurf, ist die passive Erwartung dessen, was sich herstellen und eines Tages einstellen muss. Von den postmodernen Messianismen bis zu den neuen Ästhetisierungen des Zufalls, von der Theoretisierung der Ränder bis hin zum Denken der Irreduzibilität des Ereignisses – die Varianten sind zahlreich. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag von 1968 waren eine ganze Reihe von Interpretationen zu vernehmen, die darin übereinstimmten, in den Mai-Ereignissen Modalitäten der „Wortergreifung“ – um den schönen Ausdruck von Michel de Certeau aufzunehmen – zu erkennen, daraus aber umgehend die Unmöglichkeit ableiteten, ‚das Ereignis 68’ wieder in seine eigene Geschichte einzugliedern. Um die Neuheit affirmieren zu können, musste man die Geschichte vorab ausgesetzt haben.
In der äußersten Umkehrung all dessen treffen wir auf die Idee eines gewaltsamen, machtvollen Determinismus, der die Möglichkeit, dass wir dem Lauf der Dinge und der Form unserer eigenen Subjektivität selbst eine andere Richtung geben, gravierend in Frage stellt. Auch hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder der Determinismus ist gesättigt – und wir sind das bloße Produkt einer Geschichte, die uns keinerlei Spielraum lässt; oder der Determinismus lässt in seinen Maschen einen gewissen Spielraum offen, den es dann zu besetzen und zu qualifizieren gilt. Im ersten Fall existieren politische Subjekte nur dem Namen nach, und anstatt von einem politischen Zustand wäre viel eher von einem Zustand der Beherrschung zu sprechen. Im zweiten Fall scheint die Möglichkeit, auf die Bedingungen einzuwirken, die uns zu dem machen, was wir sind, erhalten zu bleiben – und damit auch das Politische, verstanden als Raum der Veränderung und Organisation dessen, was wir sind.
Doch wenn wir jener Handlungsmöglichkeit nicht die Dimension einer potenziellen Erfindung im Herzen der historischen Determinierungen selbst zusprechen, sind wir dazu verdammt, uns nur über die Reaktion auf das, was ist, zu bestimmen: eine Krümmung des Existierenden. Und wenn man die Geschichte nur als das lesen will, was sie tatsächlich ist – eine komplexe Verflechtung von Machtbeziehungen –, dann wären wir bestenfalls eine Gegenmacht. Der binäre Spiegelungscharakter von politischen Subjekten, die in Machtbeziehungen gefangen sind (Unterdrückte/Unterdrückende, Proletariat/Bourgeoisie, ArbeiterInnenklasse/müßige Klasse etc.), ist offensichtlich. Das bedeutet nicht, dass es die Wirklichkeit der Unterdrückung und die Klassenverhältnisse nicht gibt, sondern dass die Art und Weise, wie die Existenz der Subjekte (und zwar einzig der kämpfenden Subjekte) allzu oft verstanden wurde, auf einer Struktur beruhte, die jeder herrschenden Identitätsposition ihr Anderes zuwies. Das Andere desselben wurde auf diese Weise in der Einheit des aufeinander Verweisens, in seinem Genitiv, in seiner Funktion als umgekehrtes Double bestimmt und identifiziert. Unterdrückt von jemandem, im Kampf gegen jemanden, jemandes Macht opponierend: Was bleibt zu hoffen, außer diesen Jemand zu stürzen und seinen Platz einzunehmen? Das Problem der Gegenmacht ist, dass sie, wenn sie die Reihen verschiebt, diese in ihrer Natur nicht verändert. Im äußersten Fall nimmt sie das Winterpalais ein. Doch eine Gegenmacht ist niemals etwas anderes als eine andere Macht – manchmal sympathischer, manchmal, zumindest vorübergehend, gerechter, aber trotz alledem eine Macht.
Sind also die Formen, in denen sich die politischen Subjekte organisieren können, nur dazu bestimmt? Oder ist es möglich, andere Weisen zu imaginieren, wie sich Subjekte hervorbringen können, die diesem dialektischen Kreislauf entwischen und anderswo aufs Neue einen Raum des Politischen eröffnen? Für eine solche Sichtweise muss den Subjektivitäten im Verhältnis zur Macht der Kredit einer Dissymmetrie eingeräumt werden. Über die Natur dieser Dissymmetrie gilt es übereinzukommen.
2. Die Politik: eine Ontologie
Foucault hat auf großartige Weise gezeigt, dass die Macht es nicht vermochte, die Freiheit der Menschen nicht vorauszusetzen: Denn die Macht ist, um seine Worte aufzugreifen, ein „Handeln, das auf das Handeln der Menschen einwirkt“. Das nimmt die Form einer Inbeschlagnahme, einer Abschwächung, einer mehr oder weniger harschen Unterwerfung an; aber im strengen Sinn ist Macht eine Steuerung, eine Weise der Lenkung und Zügelung, der Aneignung und Ausnutzung. Man kann nun aber nicht einer Form der Steuerung eine andere Steuerung entgegensetzen. Das reicht nicht aus. Die Möglichkeit der Dissymmetrie ist von diesem Gesichtspunkt aus grundlegend, insofern sie die ‚Absetzbewegung’ von einer reinen Logik der politischen Steuerung (auf der Seite der Macht: der Ausbeutung) ins Spiel bringt.
Wenn eine Machtbeziehung ein gewisses auf das Handeln der Menschen einwirkendes Handeln ist, dann produziert die Macht nichts. Selbstverständlich bringt sie Wirkungen hervor, sie entwickelt mächtige Dispositive und setzt ihre eigene politische Rationalität durch; aber sie inauguriert nichts. Im Konflikt hingegen scheint die Dissymmetrie über die Möglichkeit zu verlaufen, die unveräußerliche Freiheit der Menschen überall – auch in den Maschen der Macht selbst – als Erfindungskraft, als konstituierende Matrix, als kreativen Prozess geltend zu machen. Das schließt nicht aus, dass auch die Notwendigkeit von Befreiungskämpfen geltend gemacht werden muss; aber es bedeutet, dass es keine Befreiung ohne eine Praxis der Freiheit gibt. Wenn wir nicht zur Erfindung fähig sind – dort, wo die Macht sich auf die Steuerung des Existierenden beschränkt –, werden wir uns des weitreichenden Schattens der Macht nicht entledigen können. Damit ist selbstverständlich nicht gesagt, dass wir uns eine historische Analyse der Formen, die sie sich gibt, oder der Rationalität, durch die sie beseelt wird, ersparen sollten; wohl aber, dass diese notwendige Diagnostik mit der Idee einer Kraft der Inauguration verbunden werden muss, die sich qualitativ von der Macht selbst unterscheidet: denn sie bringt neue Seinsformen hervor – also Lebensweisen, Gestaltungen des Verhältnisses zu sich selbst und zu anderen, Sprachen, Affekte, Organisierungsmodelle und sogar Institutionen.
Diese Kraft der Inauguration, diese Produktion neuer Seinsformen nennen heute einige eine Ontologie. Es geht natürlich nicht darum, zu sagen, dass jede Ontologie politisch, widerständig und konfliktiv ist; aber jede Politik, sofern sie widerständig und konstituierend sein will, muss ihren Weg über diese Dissymmetrie nehmen. Eben weil der Widerstand eine Produktion ist – eine Erfindung, eine Schöpfung –, kann er seine Kraft entfalten; und eben weil er sich als Überschuss, als radikale Abweichung manifestiert, kann seine Differenz politisch wirksam werden. Hinsichtlich der Subjektivitäten bedeutet dies, dass der Subjektivierungsprozess in sich selbst genauso wichtig ist wie das Erlangen neuer konstituierter Formen; oder vielmehr: dass aus der konstituierenden und der konstituierten Dimension politischer Subjekte kein Gegensatz mehr gemacht werden kann. Ein konstituiertes Subjekt vermag nichts, wenn es aufhört, aus seinem eigenen Leben den Stoff einer Erarbeitung zu machen, die gerade das Fundament seiner politischen Praxis abgibt; und umgekehrt kann ein konstituierendes Subjekt nicht darauf verzichten, sich den Problemen der Formen von Organisation und Institutionalisierung zu stellen, die es ihm erlauben sollen, eine andere politische Realität zu konstruieren. Der klassische Gegensatz zwischen der Institutionalität der Macht und der anti-institutionellen Natur der Konfliktivität muss daher überwunden werden: Die Subjektivierungsprozesse schließen eine neue Verknüpfung zwischen der konstituierenden Macht, die sie zum Vorschein bringen, und der Erfindung neuer Formen der Institutionalisierung, auf die sie angewiesen sind, in keinster Weise aus. Mehr noch: Gerade die innige Verwebung dieser beiden Dimensionen ist es, über die sich heute ein effektiver Ausweg aus dem modernen politischen Denken verwirklichen lässt.
3. Das Gemeinsame: eine neue Universalie
Von diesen neuen – singulären oder kollektiven, fragilen oder strukturierteren – Subjektivitäten zeigt uns die Gegenwart heute unablässig neue Facetten. Das Problem ist daher ein Zweifaches. Einerseits: Wodurch wird verbürgt, dass sich diese Subjektivitäten untereinander zusammensetzen können, dass sie zu einem Gefüge werden können und sich auf andere Weise erfinden, als ein zersplittertes Mosaik zu bilden, in dem allein die Zerstreuung ihr (immer fragiles und instabiles) Zusammenleben sicherstellt? Andererseits: Selbst wenn wir annehmen könnten, dass diese neuen Subjektivitäten sich zusammensetzen, was bewahrt uns vor ihrem möglichen Abdriften in faschistoide und gewalttätige Formen, wenn es doch gerade die herkömmliche Funktionsweise der modernen Demokratie zu sein schien, die uns vor solchen Gefahren geschützt hat?
Die Bedingung der Möglichkeit von Gemeinschaft [communauté] – das heißt, beim Wort genommen, des Gemeinsam- Lebens [vivre en commun] der Differenzen – wurde in unseren Demokratien historisch durch die Einrichtung einer Art doppelten Existenzregimes garantiert: Zum einen gab es da eine Sphäre der Gemeinschaft im eigentlichen Sinn, gekennzeichnet durch eine absolute Gleichheit der Glieder, die sie ausmachten; zum anderen gab es eine Sphäre der individuellen Freiheiten dieser Glieder, ihrer Partikularismen und ihrer Differenzen, die all das umfasste, was auf ihre Singularität bezogen werden konnte. Die Sphäre des Politischen wurde also als dem ersten Bereich, das heißt dem des Öffentlichen entsprechend bestimmt; die zweite Sphäre wurde dagegen als die des privaten Bereichs des Lebens qualifiziert. Das Öffentliche, in seiner Neutralität gegenüber den Partikularismen, wurde durch die Gestalt des Staates verbürgt. Es hatte jedoch aus eben diesem Grund zur Voraussetzung, dass die Subjektivitäten auf das verzichten, was sie erst zu solchen machte (man muss aufhören, die Rechte der Person geltend zu machen, um BürgerInnenrechte zu erhalten), und dass sie ihre Macht an die Struktur der politischen Repräsentation abgaben und übertrugen. Im Gegensatz dazu wurde das Private als jener Raum individueller Freiheit bestimmt, der die Artikulation der Differenzen zuließ, zumindest solange dadurch die Form der Aufteilung von öffentlich und privat selbst nicht in Frage gestellt wurde, das heißt, solange nicht versucht wurde, die entsprechenden Gründe und Rechte im öffentlichen Raum geltend zu machen und gegen dessen Regeln zu verstoßen.
Diese kurze – und wohl allzu schematische – Rekapitulation ist insofern notwendig, als sich heute gerade all diese Elemente in einer Krise befinden. Wir werden uns hier weder mit der Krise der Staatsform noch mit der immer fragiler werdenden Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Lebenssphäre aufhalten (in einer Zeit, in der die Dispositive biopolitischer Regierungsweisen die Aufgabe verfolgen, das ganze Leben in Dienst zu nehmen, und in der das Leben selbst, einschließlich seiner intimsten Aspekte, zu einem Einsatz der Macht geworden ist). Ebenso wenig werden wir uns mit den wiederholt auftretenden Funktionsstörungen der politischen Repräsentationsmechanismen beschäftigen, die in Frankreich seit 2002 – und andernorts seit noch längerer Zeit – leider zunehmend augenfällig wurden. Wichtig scheint uns hingegen der Hinweis zu sein, dass die Möglichkeit der Einrichtung einer (staats)bürgerlichen Gleichheit und Freiheit historisch an eine Entsubjektivierung und Entsingularisierung der Figur des politischen Subjekts als solchem gebunden blieb. Doch wenn es zutrifft, wie wir zu zeigen versucht haben, dass die Subjektivierungsprozesse im Herzen der schieren Möglichkeit zum Widerstand stehen, dann ist kaum einzusehen, wie heute die öffentliche Sphäre allein (das heißt die Konstruktion eines egalitären politischen Raums, der durch die Neutralisierung der Differenzen erlangt wird) diese Möglichkeit gewährleisten könnte.
Einige haben, im Wissen um das Problem, andere Wege zu beschreiten versucht. Da es schwierig war, von der Konsistenz eines politischen und demokratischen Gemeinsamen auf andere Weise Rechenschaft zu geben, wollten sie eine De-facto-Zusammengehörigkeit voraussetzen, die der politischen Sphäre selbst vorgelagert war: Von habermasianischen und neukantianischen Theoretisierungen einer Vernunftgemeinschaft oder Sprachgemeinschaft als Grundlage der modernen Polis bis hin zu den Variationen über die Notwendigkeit einer präindividuellen Ebene, die das Transindividuelle fundiere, von der Rückkehr der Universalien zur neumetaphysischen Kritik der Geschichtlichkeit – es gibt unzählige Versionen. Doch ihnen allen ist gemeinsam, dass sie das offenkundige Problem des gegenwärtigen politischen Denkens auf einen nicht befragten Grund (bzw. auf eine Fundierung) beziehen; auf die Konstruktion des ‚Gemeinsamen’ der Gemeinschaft der Menschen, das heißt die Konstruktion des machtvollen Gefüges ihrer Differenzen als Differenzen.
Andere wiederum haben es vorgezogen, das Kind mit dem Bade auszuschütten: Wenn es denn Gemeinschaft gibt, so kann dies nur die Gemeinschaft der Gemeinschaftslosen sein, und die Form unserer Universalität kann im besten Fall jene unseres Partikularismus sein – oder, im schlechtesten Fall, die der Kraft und Mittel unserer eigenen Intoleranz. Es ist jedoch aus ziemlich offensichtlichen Gründen nur schwer einzusehen, wie so etwas wie eine neue demokratische Polis von einem wesenhaft privativen und subtraktiven Denken aus entworfen werden könnte (eine Polis, die ihren eigenen Mangel, die Abwesenheit von Gemeinschaft in ihr, ihre Unvollständigkeit vergemeinschaften würde).
Manche schließlich haben sich dazu entschieden, die Entsubjektivierungsprozesse aufzugreifen, die im Zentrum der Konstruktion von moderner politischer Gleichheit standen, diese Prozesse jedoch zugleich von jeglichem Bezug auf einen präzisen politischen und historischen Rahmen (und auf die Figur des Staates) zu lösen: Vom Denken der „dritten Person“ bis hin zu den Mahnungen, alle Subjektprädikate wegzulassen, um auf diese Weise endlich den Kerngehalt zu finden, oder auch zu den Theoretisierungen des Unpersönlichen als Grund dessen, was mir ‚eigen’ ist und was uns zugleich gemeinsam ist – auch hier sind die Varianten vielzählig.
Für meinen Teil scheint mir, dass die Lösung des Problems des Gemeinsamen der Singularitäten, oder auch des Gemeinsamen der Differenzen als Differenzen, nur über ein nicht allein positives, sondern bejahendes, mithin ontologisch vermögendes Denken angegangen werden kann. In anderen Worten, das Problem des Gemeinsamen verläuft über die Anerkennung der Art und Weise, wie sich die Differenzen heute zusammensetzen können. Dabei ist nicht von einer Anerkennung dessen auszugehen, was sie identisch werden lässt (denn das sind sie nicht) oder was sie als komplementär erscheinen lässt (denn sie sind nicht die Teile eines vorab gegebenen Ganzen), sondern vielmehr von einer Anerkennung ihrer momentanen und punktuellen Verknüpfung in einer Kräftebeziehung, die sie bestimmt und von der sie sich zu lösen suchen. Dieser Durchgang durch die Materialität des Konflikts scheint in vielerlei Hinsicht entscheidend. Durch die Anerkennung eines Gemeinsamen der Kampfeinsätze lässt sich die Konstruktion dieses Gemeinsamen als neue Form einer kommenden Universalität bewerkstelligen. Darum geht es beispielsweise in den biopolitischen Kämpfen, die für eine Neubestimmung dessen eintreten, was ein ‚würdevolles Leben’, mithin ein sozial, kulturell und politisch verstandenes Leben sein kann: Ganze Sektoren unserer Gesellschaft – MigrantInnen, Arbeitslose, Frauen, Prekäre, RentnerInnen, wohnungslose ArbeiterInnen, oder allgemeiner: Ausgeschlossene aller Schattierungen – scheinen sich ihren Differenzen zum Trotz darin wiederzufinden.
Man wird uns sagen: Das bleibt alles ziemlich vage, und das ist sicherlich richtig. Es ist schwierig, sich die kommende Konstruktion des Gemeinsamen zu vergegenwärtigen. Viel leichter ist es, das Gemeinsame dort zu erkennen, wo es sich bereits zeigt: etwa in der Verbindung der Kämpfe jener beiden – historisch doch so unterschiedlichen – Subjekte, die die ArbeiterInnen und die StudentInnen 1968 bildeten; oder, jüngeren Datums, in der Verzahnung der Kämpfe gegen den CPE (contrat premier embauche: Erstanstellungsvertrag) und der Bewegungen der Jugendlichen aus der Banlieue; in der Verflechtung der MigrantInnenbewegungen mit dem Kampf um die Anerkennung von ArbeiterInnenrechten; in der Ausweitung eines Frau-Werdens oder eines Prekär-Werdens der Arbeit auf die gesamte Sphäre der Lohnarbeit (unter Einschluss der Führungskräfte); in der Transversalisierung einer bestimmten Zahl von Forderungen und, vor allem, in der erstaunlichen subjektiven Qualität, die diese Prozesse der Neuerfindung des Politischen auf neuen Grundlagen annehmen.
Sicherlich, nichts kann uns dessen versichern, dass diese Bewegungen von Natur aus gut sind, dass es sich nicht um das noch unscharfe Antlitz einer zukünftigen Unterdrückung, einer noch größeren Gewalt handelt. Aber vor dieser Gewalt konnte uns auch die moderne Politik mit ihren durch die Vertragsform doch so verbürgten Subjekten und ihrer doch so fest in der Repräsentation und im Wahlsystem verwurzelten Demokratie nicht bewahren. Die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts ist eine einzige Litanei von durch den Urnengang an die Macht gekommenen Diktatoren, von Parlamenten, die auf demokratischem Weg eingesetzt wurden, ehe sie den Flammen geweiht wurden, von mörderischen souveränen Völkern, wilden Nationalismen und totalitären Staaten.
Setzen wir daher auf andere Subjekte des Politischen. Die Gegenwart führt uns vor Augen – a posteriori, gewiss – wie sehr diese Neuzusammensetzungen von Differenzen, diese Mischformen und Übertragungen, diese Panaschierungen und Kontaminierungen, die Differenzen, anstatt sie zu bedrohen, mächtiger werden lassen – zusammen mächtiger, aus einem gemeinsamen Vermögen. Die Gegenwart zeigt uns außerdem, dass die Hoffnung auf ein Zusammenleben heute sehr wohl wieder geweckt werden muss; auf ein Zusammenleben, dessen Institutionen wir noch erfinden müssen, dessen Reichtum sich aber bereits zeigt. Soziale Kooperation, Zirkulation der Wissensformen, Ressourcenteilung, die Produktivität der miteinander in Beziehung gesetzten Intelligenzen – alles in allem das Gegenteil des nackten Lebens: politisch und sozial bestimmtes Leben, Erfindung des Selbst und Erfindung der anderen, Erfindung des Selbst durch die anderen –, all das ist allgegenwärtig: Es geht lediglich um die Entscheidung, wer von jetzt an diesen enormen gemeinsam produzierten Wertfaktor regiert und welche Institutionen es zukünftig geben wird. Vielleicht eine pascalsche Wette: die einer neuen, noch zu konstruierenden Universalität, die einer Politik des Gemeinsamen aller, die auch eine Ethik der Differenzen wäre.