Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

03 2009

„In die Produktion!“: Die sozialistischen Objekte des russischen Konstruktivismus

Christina Kiaer

Übersetzt von Birgit Mennel

In der ersten Ausgabe der russischen Avantgarde-Zeitschrift Lef schrieb der konstruktivistische Theoretiker Ossip Brik 1923 einen kurzen Text mit dem Titel „In die Produktion!“. Am Beispiel von Alexander Rodtschenko eröffnete er seinen Artikel mit folgenden Worten: „Rodtschenko war ein abstrakter Künstler. Er wurde zum konstruktivistischen Künstler und zum Produktionskünstler, und zwar nicht nur dem Namen nach, sondern in der Praxis.“ Brik fährt fort: „Rodtschenko weiß, dass man, solange man in seinem eigenen Atelier bleibt, nichts erreicht; er weiß, dass man ins wirkliche Arbeitsleben eintreten, dass man sein eigenes Organisationstalent dorthin tragen muss, wo es gebraucht wird – in die Produktion.“[1] Brik gehörte zu einer Gruppe theoretisch versierter marxistischer KritikerInnen und SchriftstellerInnen am Moskauer Institut für Künstlerische Kultur (oder INKhUK), die sich Ende 1921 der Beförderung der sogenannten „produktivistischen“ Plattform des Konstruktivismus zu widmen begannen. Einige der berühmtesten konstruktivistischen KünstlerInnen, wie etwa Wladimir J. Tatlin, Karl Ioganson, Warwara F. Stepanowa, Ljubow S. Popowa sowie selbstverständlich Rodtschenko, versuchten auf vielerlei und jeweils sehr unterschiedliche Weise in die sowjetische Massenproduktion nach der Russischen Revolution einzutreten. Doch obwohl die Diskussionen, die 1921 zur Ausformulierung des Konstruktivismus sowie des Produktivismus führten, die „Laborarbeit“, die Industrietechnologie und das Ingenieurwesen betonten, ging es bei einem Großteil der produktivistischen Arbeiten schließlich weniger um Technologie und Fabrik als vielmehr um die Erfindung und Theoretisierung einer neuen Art von nützlichen materiellen Objekten, die eine Veränderung des Alltagslebens im Sozialismus herbeiführen sollten. In diesem Text werde ich mich mit den verschiedenen künstlerischen Modellen der „Produktionskunst“ beschäftigen und im Zuge dessen darlegen, dass vor allem die produktivistische Idee des „sozialistischen Objekts“ auch heute noch relevant sein könnte für eine radikale kulturelle Produktion.

Ich beginne zunächst mit dem, was man das „reinste“ Modell des Produktivismus nennen könnte, nämlich die Entscheidung des konstruktivistischen Bildhauers Karl Ioganson, seine Arbeit als Künstler niederzulegen und stattdessen in einer Blechwalzenfabrik in Moskau zu arbeiten. Ioganson war einer der Unterzeichner des ursprünglichen konstruktivistischen Programms und hatte seine „Räumlichen Konstruktionen“ im Frühjahr 1921 gemeinsam mit seinen konstruktivistischen Kollegen Rodtschenko und den Brüdern Stenberg in der berühmten OBMOKhU-Ausstellung der Gesellschaft Junger Künstler gezeigt. Wie die Kunsthistorikerin Maria Gough in ihrer bahnbrechenden Untersuchung zu Ioganson kürzlich darlegte, hatte Ioganson, als er 1923 aus den kunsthistorischen Aufzeichnungen verschwand, tatsächlich eine Arbeit als Metallschneider in der Fabrik Krasnyi Prokatchik (Rote Walze) in Moskau angenommen.[2] Während dieser Tätigkeit erfand er eine „Finiermaschine“, die er als mechanisiertes System zur Behandlung von Aluminium, Blech und Blei beschrieb und die zur Steigerung der Arbeitsproduktivität um 150% führen sollte. Er erreichte mithin das Ziel eines „Erfinders an der Werkbank“; er war eher ein richtiger Arbeiter an der Fabrikwerkbank, der auch Erfinder ist, als ein Künstler, der die Rolle eines Chefdesigners übernimmt. In anderen Worten: Als Produktivist durfte er sich keinesfalls von den anderen ArbeiterInnen entfremden. Doch wie Gough hervorhebt, entschied er sich durch die Erfindung einer produktivitätssteigernden Maschine im Konflikt zwischen den Parteibürokraten, die eine Produktivitätssteigerung durch Arbeitsbeschleunigung forderten, und den VerteidigerInnen der ArbeiterInnenrechte, die gegen die Ausbeutung der ArbeiterInnen im Namen der sozialistischen Produktion kämpften, gewissermaßen für eine Seite. Ioganson sollte sich in diesem Konflikt noch weiter kompromittieren, als er letztlich die Werkbank verließ, um ausschließlich als Parteiagitator und Produktionsorganisator in der Fabrik zu arbeiten – ein damals vorhersehbarer Ausgang für ein gebildetes Mitglied der Intelligentsia, das sich für ein Engagement in der proletarischen Arbeit entschied.

Wie Gough argumentiert, war es der produktivistische Kritiker Nikolai Tarabukin, berühmt für sein Buch Von der Staffelei zur Maschine (Ot mol’berta k mashine), der das durch Ioganson repräsentierte Modell des Produktivismus theoretisierte; er argumentierte, dass die Rolle des konstruktivistischen Künstlers in der Produktion nicht die des Designers nützlicher Objekte sein sollte – was ihm eine allzu sehr mit der veralteten Handwerkstradition verbundene Praxis zu sein schien –, sondern vielmehr die eines Ingenieurs der Produktion selbst. „Der Künstler-Produzent (khudozhnik-proizvodstennik) in der Produktion“, schrieb er, „steht vor allem anderen vor der Anforderung, die prozessualen Aspekte der Produktion zu entwickeln. Für die ArbeiterIn in der Produktion wird der Produktionsprozess selbst – der das eigentliche Mittel zur Fabrikation des Objekts ist – zum Ziel seiner Aktivität.“[3] Ioganson war der einzige Konstruktivist, der Tarabukins Anweisungen zum Eintritt in den Produktionsprozess selbst Folge leistete, und verkörperte damit die konstruktivistische Phantasie des in der Metallindustrie arbeitenden Künstler-Ingenieurs – in jener Industrie also, die in der bolschewistischen Hierarchie der Industriearbeiten bei weitem die größte Wertschätzung erfuhr und zudem ein ausschließlich männlich dominierter Produktionsbereich war. Dadurch verschwand Ioganson jedoch völlig aus der künstlerischen Gemeinschaft, von der er zuvor ein lebendiger Teil gewesen war.

 

Mikhail Kaufman, Aleksandr Rodchenko, 1922


Auch Rodtschenko hatte an diesen maskulinen Industriephantasien teil. In Briks Text „In die Produktion!“ nahm er auf Rodtschenkos „eiserne konstruktivistische Kraft“ Bezug, die im berühmten Foto von Rodtschenko aus dem Jahr 1922 zum Ausdruck kommt, auf dem dieser – dazu bereit, seine „Laborarbeiten“ hinter sich zu lassen und in einer auf Technologie oder Ingenieurwesen basierenden Fabrik zu arbeiten – in Arbeitsstiefeln und selbst entworfener prozodezhda bzw. „Produktionskleidung“ vor seinen (zertrümmerten) „Räumlichen Konstruktionen“ von 1920–1921 posierte. Anders als Ioganson tat er diesen Schritt niemals: Der Traum der Schwerindustrie tauchte stattdessen in seinen Illustrationen von Industriemaschinen auf kleinen Objekten des alltäglichen Gebrauchs auf, wie etwa auf seinem Entwurf für eine in der Massenproduktion hergestellte Karamellbonbonschachtel der Marke „Unsere Industrie“ aus der staatseigenen Fabrik Roter Oktober. Vladimir Tatlins technologischen Ambitionen widerfuhr ein ähnliches Schicksal. Er entwarf sein berühmtes technologisches Wunderwerk, das „Monument der Dritten Internationale“, im Jahr 1919; obwohl es niemals gebaut wurde, wäre es eine große planungstechnische Leistung gewesen mit seinen vier sich drehenden Glasgebäuden, die an einem 400 Meter hohen, im Inneren befindlichen spiralförmigen Eisenrahmen aufgehängt waren. Doch 1924 entwarf er ernsthaft alltägliche Herde, Töpfe und Pfannen für proletarische Küchen. Tatlin gab die Phantasie der metallverarbeitenden Fabrik – die ohnedies nur ein kleiner Sektor der relativ primitiven Sowjetökonomie war – auf und widmete sich stattdessen der Entwicklung von Industrieprototypen für einfache, nützliche Objekte des Alltagslebens auf seinem grundlegendsten Bedürfnisniveau: der warme Wintermantel, der hygienische Männerfreizeitanzug, der effiziente Holzofen – allesamt abgebildet in einem Artikel über Tatlins Arbeit, der 1924 im populären Magazin Krasnaia panorama (Roter Ausblick) unter dem Titel „Novyi byt“ („Das neue Alltagsleben“) erschien. „Die Zeit für ‚amerikanisierte‘ Herde ist unter den Bedingungen unseres russischen Alltagslebens (byt) noch nicht reif“, erklärte er seinem Freund, dem Kritiker Nikolai Punin. „Wir brauchen Dinge, die genau so einfach und primitiv sind wie unser einfaches und primitives byt.“[4]

 

Aleksandr Rodchenko and Vladimir Mayakovsky, Box for Our Industry caramels, 1923

 

     

       

- Photograph of Vladimir Tatlin with his Monument to the Third International, 1920.
- Vladimir Tatlin, Designs for clothing and a stove, illustrated in the article “Novyi byt,” Krasnaia panorama, no. 23, 1924.
- Vladimir Tatlin, Corner Counter-Relief, no. 133, 1915.  Aluminum and tin sheeting, oil pigment, priming paint, wire, fastening components, dimensions unknown. No longer extant.
- Vladimir Tatlin, Sketch for a multi-purpose metal pot, 1923.


Um dieser Verschiebung in der konstruktivistischen Praxis – von Ingenieursphantasien zu einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit der Konstruktion eines neuen Alltagslebens im Sozialismus – Sinn zu geben, müssen wir ein Verständnis für die bolschewistische Theorie des Alltagslebens entwickeln, wie sie in der Massenkampagne für das „neue Alltagsleben“ bzw. novyi byt zum Ausdruck kam. Der Parteiführer Leo Trotski argumentierte 1923 in seinem Buch Fragen des Alltagslebens (Voprosy byta), dass sich die großen Ideale der Revolution niemals realisieren ließen, wenn die Menschen nicht die Art und Weise veränderten, wie sie ihre Leben auf der grundlegendsten, alltäglichen Ebene in ihrem Zuhause und innerhalb ihrer Familien lebten.[5] Zu diesem Zweck forderte er die Befreiung der Frau aus der häuslichen Sklaverei, die Vergesellschaftung der Kinderbetreuung sowie die Entkoppelung von Heirat und Privateigentumsbeziehungen. Diese Ideen wurden auf zahlreichen Propagandaplakaten aus dieser Zeit zur Beförderung des novyi byt verbildlicht. Bilder von Frauen, die von traditionellen Haushaltsgegenständen versklavt wurden auf der einen Seite, wurden auf der anderen Seite mit Bildern von Frauen kontrastiert, die sich frei in den entleerten Räumen von neuen – bis dato jedoch zumeist bloß vorgestellten – öffentlichen Speisehallen, Wäschereien und Tagesfürsorgestätten bewegten.[6] Trotski wie auch diese Plakate folgen der üblichen russischen Praxis, das byt als einen hauptsächlich mit Frauen verbundenen Lebensbereich zu betrachten; Probleme des byt waren Frauenprobleme. Sie sollten dadurch gelöst werden, dass das materielle Leben völlig der Kontrolle des Individuums und der Familie entzogen wird, und zwar durch die Konstruktion kollektiver Institutionen. Die wesenhafte Weiblichkeit des byt wurde im bolschewistischen Denken niemals in Frage gestellt. Die Vorstellung, dass Geschlechtergleichheit zu Hause einfach dadurch erreicht werden könnte, dass Männer an den Pflichten – und Freuden – des Alltags Anteil nehmen, war völlig undenkbar.

Die ProduktivistInnen widersetzten sich andererseits diesem aus der bürgerlichen Sozialordnung übernommenen konventionellen Gendering der Erfahrung, und zwar durch die Arbeit an der Veränderung des Alltagslebens von innen, durch die Anfertigung neuer Objekte auf der alltäglichen Ebene von Herden, Kleidung und Karamellbonbonschachteln.[7] Mit seiner neuen Theorie des sozialistischen Objekts bestritt der junge produktivistische Theoretiker Boris Arwatow sowohl Trotzkis Forderung nach der Vernichtung des existierenden byt als auch Tarabukins Insistieren auf der Überlegenheit des industriellen Prozesses gegenüber der Objektproduktion. Arwatows Schlüsseltext „Alltagsleben und Kultur des Dings“ (Byt i kul’tura veshchi) aus dem Jahr 1925 stellte den Versuch dar, sich vorzustellen, in welcher Weise passive kapitalistische Waren im Sozialismus in aktive sozialistische Dinge verwandelt werden könnten.[8] Er forderte „das Ding als Erfüllung der physiologisch arbeitenden Fähigkeiten des Organismus, als sozial arbeitende Kraft, als Instrument sowie als Mitarbeiter“. Diese neuen sozialistischen Objekte, die im Sinne von „Mitarbeitern“ mit der menschlichen Praxis verbunden waren, sollten neue Erfahrungen des Alltagslebens, neue Konsumptionsbeziehungen sowie neue menschliche Subjekte der Modernität produzieren („EL“, S. 124). Für Arwatow ging die proletarische Kultur nicht nur aus der Transzendierung des materiellen Lebens bzw. des byt hervor, sondern ließ sich durch ein „organisches“ und „flexibles“ Arbeiten in ihm erreichen, um das Leben so in einen Prozess der „Schaffung des Alltagslebens“ (bytotvorchestvo) zu verwandeln („EL“, S. 121). Organisch und flexibel sind die richtigen Termini zur Beschreibung von Tatlins Bereitschaft, seine künstlerische Praxis auf jene Dinge hin auszurichten, die unter den zeitgenössischen Bedingungen des sowjetischen byt tatsächlich gebraucht wurden – trotz der Tatsache, dass dies mit einer radikal anderen und weniger geschätzten Art der „Schöpfung“ verbunden war als seine früheren avantgardistischen Bestrebungen. Auf diese Weise forderte der kollektive Einzug des Produktivismus ins Alltagsleben die gegenderten Hierarchien moderner Kunst heraus.

Doch Tatlins beharrliches Insistieren auf einer primitiven materiellen Bedürfniskultur verhinderte, dass seine Objekte eine wirkliche Antwort bildeten auf Arwatows Beschäftigung mit der Frage, wie die Warenform und die mit ihr einhergehenden Begehren im Alltag einer sozialistischen Modernität verändert werden würden. Die sozialistischen Objekte von ProduktivistInnen wie Rodtschenko und Popowa befassten sich unmittelbar mit der widersprüchlichen Konsumkultur der frühen Sowjetunion. In der zweiten Ausgabe des Magazins Lef, die Popowa anlässlich ihres frühen Todes im Alter von 35 Jahren gewidmet war, schrieben die HerausgeberInnen: „Popowa war eine Konstruktivistin-Produktivistin, und zwar nicht nur den Worten nach, sondern auch in ihren Taten. Als sie und Stepanowa dazu eingeladen wurden, in der [ersten staatlichen Baumwolldruck-]Fabrik zu arbeiten, war niemand glücklicher als sie. Tag und Nacht fertigte sie ihre Zeichnungen für Textilwaren an und versuchte in einem kreativen Akt, die ökonomischen Anforderungen, die Gesetze des äußeren Designs und den mysteriösen Geschmack der Bauersfrauen aus Tula zu vereinen.“[9] Den Lef-HerausgeberInnen zufolge versuchte Popowa also nicht nur die technischen Probleme zu lösen, die sich mit der utilitaristischen Form („die Gesetze äußeren Designs“) verbanden, sondern wollte auch einen Beitrag zur neuen sozialistischen Ökonomie („die ökonomischen Anforderungen“) leisten und den KonsumentInnenwünschen („der mysteriöse Geschmack der Bauersfrauen aus Tula“) gerecht werden. Im Unterschied zu Tatlin, der den subjektiven Geschmack der vornehmen Herren, die gerne traditionelle, „schöne“ Männeranzüge trugen, ablehnte, gingen Stepanowa und Popowa tiefgreifendere und systematischere Verpflichtungen ein, wenn es um die Lösung des „Geheimnisses“ der KonsumentInnenwünsche in der Moderne geht.

Obwohl Textildesign traditionell eine weibliche Praxis war, die eher mit den angewandten und dekorativen Künsten denn mit der Industrieproduktion in Verbindung gebracht wurde, betrachtete man ihre Arbeit in der Fabrik für Stoffdesign im Kontext der konstruktivistischen Hierarchisierungen von feinen und nützlichen Künsten nicht als einen Schritt zurück oder weg vom Konstruktivismus – wie die lobenden Worte der Lef-HerausgeberInnen deutlich machen. Popowa und Stepanowa versuchten ihre Rolle in der Fabrik als die von produktivistischen Künstlerinnen-Ingenieurinnen zu definieren und verlangten, dass sie die Administration in die Produktionsentscheidungen sowie in die Arbeit in den Industrielabors der Fabrik mit einbezog. Auch KritikerInnen definierten ihre Arbeit niemals als weiblich; vielmehr wurden ihnen die Rolle von konstruktivistischen Pionierinnen zugewiesen. Der wichtigste Kritiker Iakow Tugendkhol’d beispielsweise bezeichnete Popowas Textildesignarbeit als „eine Bresche, die in die Bastille unseres Fabrikskonservatismus geschlagen wird“[10].

Es war der historische Moment der 1921 eingeführten semi-kapitalistischen Neuen Politischen Ökonomie (NPÖ), die den privaten Handel und die private Fertigung teilweise legalisierte, um auf diese Weise die nach der kommunistischen Kriegsökonomie der Bürgerkriegsjahre ums Überleben kämpfende Sowjetökonomie anzukurbeln; staatseigene Geschäfte mussten nun Profit erwirtschaften und trafen daher im Allgemeinen sichere und konservative Designentscheidungen. Viele der massenhaft hergestellten visuellen Objekte der frühen Jahre der NPÖ illustrieren auf anschauliche Weise das, was wir mit Tugendkhol’d den „Konservatismus“ der kommerziellen visuellen Kultur der NPÖ nennen können: Objekte wie zum Beispiel verzierte Speisekarten, die den GastronomInnen gratis zur Verfügung gestellt wurden und die, mit traditionellen Werbebildern bedruckt, Wein, Schokolade und Modehäuser im Privatbesitz anpriesen; oder auch Werbeplakate für private wie für staatseigene Unternehmen. Ich konnte keine Werbungen für die erste staatliche Baumwolldruckfabrik, in der Popowa und Stepanowa arbeiteten, ausfindig machen, aber die Werbeplakate für andere staatseigene Stoff- und Bekleidungskonzerne dieser Zeit entsprechen dem gerade entstandenen Modemarkt der NPÖ: Auf diesen Plakaten posieren Leute in eleganter und modischer Kleidung; ein Plakat zeigt sogar eine Zeichnung eines Models auf der Bühne in einer Modeschau.

Popowa und Stepanowa wussten, dass ihre Arbeit in der staatseigenen sowjetischen Fabrik dem Modemarkt der NPÖ genügen musste; als sie vom Fabrikmanagement ihre Teilhabe an der Produktion verlangten, forderten sie nicht nur den „Kontakt zu SchneiderInnen, Modeateliers und Modemagazinen“, sondern wollten zudem „an der Verkaufsförderung der Fabrikprodukte in der Presse, der Werbung und den Magazinen ebenso wie an der Gestaltung der Fensterauslagen arbeiten“.[11] Steponowas Reaktion auf die Mode des NPÖ bestand im Großen und Ganzen in unverblümter Ablehnung: So sind etwa ihre berühmten Entwürfe für Sportkleidung linear und androgyn und antizipieren scheinbar eine sozialistische Zukunft, in der Klassen- und Geschlechtergleichheit vorherrschen. Diese Sportbekleidung wurde im Lef abgebildet, in dem sie sie in ihrem Artikel „Die Kleidung von heute ist Produktionskleidung“ bekannt machte. „Mode“, schrieb sie, „die psychologisch unser Alltagsleben [byt], unsere Gewohnheiten und unseren ästhetischen Geschmack widerspiegelt, macht den Weg frei für Kleidung, die für die Arbeit in verschiedenen Arbeitsbranchen vorgesehen ist.“[12] Im Gegensatz dazu zeichnete Popowa in ihrem Versuch, sich eine egalitäre Modeform vorzustellen, Entwürfe für Dutzende von modischen Frauenkleidern, in die sie ihre Stoffentwürfe einarbeitete.

 

Varvara Stepanova, Designs for sports clothes, 1923


Walter Benjamin, ein herausragender Theoretiker der Massenkultur und des Sozialismus, fragte in seinem Passagen-Werk optimistisch: „Stirbt die Mode vielleicht – in Russland z. B. – daran, dass sie das Tempo nicht mehr mitmachen kann – auf gewissen Gebieten zumindest?“[13] Seine Frage impliziert, dass nur die Geschwindigkeit des tatsächlichen sozialen Wandels, der durch die Revolution herbeigeführt wird, den Reiz des schier endlosen Zyklus der Modeerneuerung zu verdrängen vermag. Doch ein Editorial in der ersten nachrevolutionären Ausgabe des Frauenmagazins Zhurnal dlia khoziaek (Das Magazin der Hausfrau) im Jahr 1922 erklärte  in überschwänglichen Tönen: „Unsere Leserinnen mögen denken, die Mode sei ausgestorben […], aber unsere alte Freundin Mode, welche die weibliche Hälfte der menschlichen Spezies voller Macht regiert, hat nicht die Absicht zu sterben!“[14] Die vielen eleganten Pariser Kleiderschnitte, die in Zeitschriften wie Das Magazin der Hausfrau abgedruckt wurden, richteten sich an Frauen, die Stoff kauften und dann zu Hause nähten oder Kleider aus kleinen Produktionsbetrieben bestellten. Die Massenproduktion von Kleidung war im vorrevolutionären Russland nahezu inexistent und die Idee billiger, in der Fabrik hergestellter stilvoller Kleidung, die für jeden erhältlich sein sollte, war angesichts des primitiven Zustands der russischen Bekleidungsindustrie noch weitestgehend eine Utopie.

Popowas modische Kleiderentwürfe waren im Gegensatz zu den ausländischen Schnittmustern, die sich in den Magazinen abgedruckt fanden, für die massenhafte Reproduktion mit den begrenzten Kapazitäten der sowjetischen Bekleidungsproduktion gedacht (obwohl sie im Unterschied zu ihren Stoffentwürfen niemals in Produktion gingen). Was sie visuell interessant macht, ist nicht den teuren Stoffen und den komplexen Schnitten ausgefallener ausländischer Muster geschuldet, sondern den kecken Grafiken ihrer Stoffentwürfe, wie etwa bei einem Kleid, für dessen Entwurf sie ihren blau-schwarz-weißen optischen „Ziel“- Stoff verwendete. Im Vergleich zur reich abgestuften Farbnuancierung ihrer früheren, durch den Suprematismus inspirierten Serie von Zeichnungen, der „Malerischen Architektonik“ aus den Jahren 1916–1919, können die Stoffentwürfe als eine Art Kulminationspunkt ihrer bewussten konstruktivistischen Abwendung vom individuellen, sinnlichen Malgespür hin zu anonymeren lineareren Formen gesehen werden, die auf dem industriellen Vorbild mechanischen Zeichnens basieren. Die Art und Weise, wie die früheren Malereien einen räumlichen Illusionismus heraufbeschworen, wird beibehalten, grafisch jedoch vereinfacht und in Stoffentwürfe umgewandelt. Popowa erneuert mit stark vereinfachten Mitteln die stilvollen Effekte der westlichen Mode im Flapperstil: Das Kleid bekommt seine Form eher durch die Schärpe denn durch die Konfektionierung; der Kragen wird nur ansatzweise am Kleid befestigt. Dieses Kleid ist für die Massenproduktion bereit.

 

     

- Foreign fashion patterns illustrated in The Housewives’ Magazine, 1925
- Liubov’ Popova, Design for a dress, 1923-4, india ink on paper


Dieses Kleiderdesign fordert auch die konventionelle Produktion von Weiblichkeit heraus, wie sie durch die Mode vorangetrieben wird. Im Vergleich zu den dezenteren Kleidern in den sowjetischen Modemagazinen, die diesem Kleid mit ihren fein gefalteten Kragen ähneln, macht Popowas massiver Kragen die Schultern breiter und  verdeckt die Brust, wodurch er diesem scheinbar femininen Kleid eine Note von Androgynität verleiht. Gleiches gilt auch für das gewagte optische Muster des Stoffes selbst: die in der Ferne verschwindenden schwarzen Löcher und die hervorstechenden blauen Ziele haben eine bizarre Wirkung, wenn sie über die voluminösen Falten des Kleides hinweg wiederholt werden und den weiblichen Körper so in etwas Futuristisches und Mechanistisches verwandeln. Dieses Kleid oszilliert auf provokante Weise zwischen der zeitgenössischen Mode des NPÖ, in all seiner Weiblichkeit und Orientierung an Konsumentinnenwünschen, und dem konstruktivistischen Rationalismus mit seiner Kritik an der bürgerlichen Weiblichkeit. Gerade diese doppelte Bedeutung, die Popowas Praxis des Kleiderdesigns hatte, charakterisiert die vorübergehenden „sozialistischen Objekte“ des Produktivismus während der NPÖ: Sie berücksichtigt die individuellen Wünsche der weiblichen Konsumentin, die ihren Alltag im Hier und Jetzt des durch die NPÖ bestimmten Russland lebt, während sie diesen zugleich kritisch gegenübersteht und sie in feministischere und kollektivistischere Bahnen zu lenken versucht.

Popowas historische Erfahrung als Frau verlieh ihre Beiträgen zur konstruktivistischen „Kunst ins Leben“ eine Spezifität und Dringlichkeit, die daran mitwirkten, diese Kunst zu definieren. Gleichzeitig war einer der Gründe dafür, dass sie als Künstlerin die historische Gelegenheit hatte, einen so außerordentlichen Beitrag zu einer wichtigen Avantgardebewegung zu leisten, gerade die vom Konstruktivismus an den Tag gelegte Zurückweisung der gegenderten Hierarchien der künstlerischen Praxis sowie seine Offenheit für die Arbeit in traditionell feminisierten Bereichen des Alltags. Die Zusammenarbeit Rodtschenkos mit dem Revolutionsdichter Wladimir Majakowski, die unter dem Namen „Reklam-Konstruktor“ („Werbekonstrukteur“) stattfand und in der Produktion von Werbungen sowie anderen Verkaufsdesigns zur Bewerbung der staatseigenen sowjetischen Betriebe bestand, ist etwa ein ebensolcher Fall von dem Alltag gewidmeter produktivistischer Arbeit seitens männlicher Künstler. Erinnern wir uns, dass Ossip Brik Rodtschenko als einen echten Produktionskünstler mit „eiserner konstruktiver Kraft“ feierte, dass er sich aber im selben Artikel auch über die konsumentenorientierte Kultur des NPÖ beklagte, die sich ungünstig auf die produktivistischen Ambitionen einer Transformation der Industrieproduktion auswirkte: „Rodtschenko ist geduldig. Er wird warten. Inzwischen tut er, was er tun kann – er revolutioniert den Geschmack und bereitet so den Boden für eine materielle Kultur der Zukunft.“[15] Die passive Terminologie von „warten“, „tun, was er kann“ und „den Boden bereiten“ legt nahe, dass es um das profane, repetitive und feminisierte Wesen der Arbeit im Alltagskonsum geht. Rodtschenko selbst jedoch betrachtete seine Arbeit nicht als minderen Ersatz für (die Phantasie von) Arbeit in der Schwerindustrie – er war sehr beschäftigt mit seinen umfangreichen Werbungs- und Verpackungsentwürfen für triviale Objekte des alltäglichen Konsums wie Kekse, Zigaretten und Bonbons. Rodtschenko prahlte: „Ganz Moskau war mit unserer Arbeit überzogen […]. Wir machten etwa fünfzig Plakate, hundert Aushängeschilder, Verpackungen, Behälter, Leuchtreklamen, Litfasssäulen sowie Illustrationen in Magazinen und Zeitungen.“[16] Das schiere Ausmaß und die Ernsthaftigkeit, mit der sie an dieses Projekt herangingen, ist ein Zeichen für ihre Gleichgültigkeit gegenüber den gewöhnlichen Erwartungen an die avantgardistische Männlichkeit.

Majakowskis Werbejingles richten sich direkt und ohne Ironie an sowjetische KonsumentInnen der ArbeiterInnenklasse. In der Werbung für eines der Produkte von Mosselprom, dem staatlichen Landwirtschaftsunternehmen, steht zu lesen: „Kochöl. Aufgepasst, arbeitende Massen. Dreimal billiger als Butter! Nährreicher als andere Öle! Nirgends sonst als bei Mosselprom.“ Es ist nicht überraschend, dass konstruktivistische Werbungen eine pro-bolschewistische, gegen die NPÖ gerichtete Sprache sprachen, doch das Bild des „Reklam-Konstruktor“-Werbegeschäfts ist noch komplizierter. Viele ihrer kommerziellen Grafiken gehen über diese gradlinige Sprache von Klassendifferenzen und utilitaristischen Bedürfnissen hinaus und liefern eine Theorie des sozialistischen Objekts.

Im Gegensatz zu Briks Behauptung, dass sie mit dieser Art von Arbeit lediglich „den rechten Augenblick abwarten“, behaupte ich, dass ihre Werbungen den Versuch darstellen, die Beziehung zwischen den materiellen Kulturen der vorrevolutionären Vergangenheit, der Gegenwart des NPÖ und des sozialistischen novyi byt der Zukunft mit theoretischer Genauigkeit zu erarbeiten. Sie konfrontieren sich der Frage, die aus der Theorie von Boris Arwatow erwächst: Was geschieht mit den individuellen Phantasien und Begehren, die im Kapitalismus durch den Warenfetisch und Markt organisiert wurden, nach der Revolution? Eine ihrer eindrucksvollsten Werbungen ist ein Plakat aus dem Jahr 1923 für Kekse der Marke Roter Oktober von Mosselprom. Majakowskis Slogan scheint prosaisch in der Stimme des grinsenden, Kekse kauenden Mädchens zu sprechen: „Ich esse Kekse aus der Fabrik Roter Oktober, vormals Einem.“ Der zweite Teil des Slogans ist bedeutsam und führt die zeitliche Komplexität des Plakats ein: Einem war vor der Revolution eine der wichtigsten Süßwarenfabriken und ein bekannter Markenname. Der Slogan erinnert die BetrachterInnen also an das vorrevolutionäre Leben dieser sowjetischen Ware. Rodtschenko und Majakowski scheinen sogar absichtlich an ein Artefakt aus der materiellen Kultur der vorrevolutionären Vergangenheit zu erinnern: ein Einem-Werbeplakat aus den frühen 1900er Jahren, ebenso ein einzelnes kleines Mädchen zeigend, das über die Moskwa vom Kreml zur Einem-Fabrik springt, die bis auf den heutigen Tag auf einer Insel in der Moskwa liegt.[17] Der Slogan dieses früheren Plakats: „Meinen ersten Schritt mache ich für Kekse von Einem“ wird ebenfalls mit der Stimme des jungen Mädchens gesprochen, was nahe legt, dass sich Majakowski für seinen Roter-Oktober-Reim von dieser vorrevolutionären Werbung bzw. von anderen ähnlichem Werbungen inspirieren ließ. Im zeitlichen Narrativ des Textes und des Bildes sehen wir die kapitalistische Vergangenheit von Einem und die NPÖ-Gegenwart von Mosselprom, die sich auf die sozialistische Zukunft von Roter Oktober zubewegen – eine Bewegung, die im Bild der Spirale von Keksen versinnbildlicht wird, die sich ihren Weg in den Mund des Mädchens bahnen. Dieses Bild kann als „dialektisches Bild“ verstanden werden, wie von Walter Benjamin im Passagen-Werk theoretisiert: als das, „worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt[18]. Diese Konstellation liefert den „Blitz der Erkenntnis“ zur Verständigung über die sozialistische Zukunft. Sie macht die KonsumentInnenwünsche lesbar.

 

Menert Brothers, Advertisement for Einem cookies, early 20th century.

 

Aleksandr Rodchenko and Vladimir Mayakovsky, Advertising poster for Red October cookies, 1923


Benjamin stellte sich vor, dass das träumende Kollektiv der bürgerlichen Kultur aus seinem „Traumschlaf“ der Warenphantasmorgie in einer sozialistischen Kultur erwachen würde, wenn die Wunschbilder dessen, was er die „Urvergangenheit“ nannte – die mythische, egalitäre Gesellschaft des materiellen Überflusses –, in den neuesten technologischen Formen sichtbar gemacht werden. Die Wunschbilder der harmonischen Urvergangenheit hinterließen ihre in der materiellen Massenkultur der jüngsten, überholten Vergangenheit eingebetteten Spuren – für ihn in der materiellen Kultur der Arkaden in der Vergangenheit seiner Großeltern – und seien durch neue materielle Formen der Modernität zu erlösen, um eine sozialistische Zukunft zu erzeugen.[19] Rodtschenkos und Majakowskis Designs führen Benjamins Vorschlag buchstabengetreu aus: Sie beziehen sich auf die Spuren der jüngst überholten Vergangenheit – zum Beispiel auf die altmodischen Gravuren der industriellen Maschinerie auf der Karamellbonbonschachtel „Unsere Industrie“ oder auf das kleine Mädchen aus dem vorrevolutionären Einem-Plakat – und versuchen, diese im „Jetzt“ von Mosselprom wieder bewusst zu machen, indem sie konstruktivistische Objekte zitieren, wie etwa das Hexagon, das das Roter-Oktober-Mädchen umgibt und das an die Form von einer der geometrischen „Räumlichen Konstruktionen“ Rodtschenkos aus den Jahren 1920/21 bzw. allgemein an die modernistische grafische Form selbst erinnert.

Die Kekse von Roter Oktober sind in der Ära des NPÖ der Ersatz bzw. der Platzhalter für die großartigeren sozialistischen Objekte, die von der sozialistischen Industrie eines Tages produziert werden. Sie können analog zu dem verstanden werden, was der Psychoanalytiker D. W. Winnicott die „Übergangsobjekte“ der oralen Phase der frühen Kindheit nannte: Schnuller oder zerkauter Deckenzipfel.[20] Das Übergangsobjekt, das Winnicott auch „den ersten Nicht-ich-Besitz“ nennt, erlaubt es dem Kind, sich an das „Realitätsprinzip“ der fehlenden Befriedigung durch die Mutterbrust – als wahres Objekt des Begehrens – anzupassen. Das eigentlich begehrte Objekt der KonstruktivistInnen ist das sozialistische Objekt, das sich die avanciertesten technologischen Formen der Industrie zunutze machen wird, um die sensorische Erfahrung seiner menschlichen NutzerInnen zu erweitern oder sie aus dem Traumschlaf der Warenphantasmorgie aufzuwecken. Aber im Moment des NPÖ passen sich die KonstruktivistInnen an das Realitätsprinzip an, daran also, dass die großflächige Produktion solcher Objekte noch nicht möglich ist, und richten ihre grafischen Anstrengungen darauf, die Prozesse des Objektbegehrens auf ihrer ursprünglichsten, körperlichen Ebene freizulegen. Ihre Werbungen sind „Übergangsobjekte“, die den Übergang von den fetischistischen, durch die Ware gespeisten kapitalistischen Begehrensstrukturen zu den gleichermaßen starken, aber nunmehr expliziten und verstehbaren Begehrensstrukturen der semi-sozialistischen Objekte des NPÖ untersuchen – eine Untersuchung, die schließlich vollständig organisierte Begehren nach sozialistischen Objekten zum Ergebnis hat.

 

Anonymous, Red October advertising image, ca. 1922


Aber auch die visuelle Gestalt des Roter-Oktober-Mädchens ruft Nostalgie hervor; es erinnert jedoch nicht nur an das sentimentale Bild des pummeligen Babymädchens auf dem vorrevolutionären Einem-Plakat, sondern fordert dieses auch heraus. Rodtschenko verpasste dem kleinen Mädchen dünn gezeichnete Augenbrauen und knallroten Lippenstift, und gab ihr so ein vage sexualisiertes, erwachsenes Aussehen, das sich beunruhigend zwischen zwei wiedererkennbar begehrenswerten Bildern von Weiblichkeit einnistet: entweder das gesunde kleine kommunistische Mädchen, von dem man erwarten würde, dass sie Kekse von Roter Oktober isst, oder die Figur der modernen aufreizenden Frau, die mit westlicher Werbung in Verbindung gebracht wurde. Ein Verkaufsdesign von Roter Oktober, das bereits 1922 angefertigt wurde (also ein Jahr ehe sich Rodtschenko und Majakowski des Verkaufsimages von Mosselprom annahmen) und das eine schöne, verträumt in die Luft starrende Brünette mit weißen Blumen im Haar und in den Armen zeigt, erlaubt uns nachzuvollziehen, wie groß Rodtschenkos Distanz zur visuellen Art-déco-Sprache war, wie sie in solchen konventionellen Werbeillustrationen jener Zeit zum Ausdruck kommt. Wir könnten das Roter-Oktober-Mädchen auch mit der weiblichen Figur auf einer zeitgenössischen Werbung für den Leningrad State Tobacco Trust vergleichen, die vom Plakatkünstler Aleksandr Zelinskii entworfen wurde und für Zigaretten der Marke Sappho wirbt. Das Bild der gelbhaarigen, stark mit Rouge geschminkten Frau mit geschlossenen Augen in scheinbar narkotischer Trance, die von der zwischen ihren knallroten Lippen gehaltenen Zigarette hervorgerufen wird, erinnert an die „exotische“ lesbische Sexualität der altgriechischen Dichterin Sappho selbst. Sie könnte auch eine Figur aus Benjamins „schlummerndem“ Kollektiv sein. Die konstruktivistischen Werbungen weisen solch eine fetischisierte, eine orale Sexualität imitierende Bildsprache zugunsten einer expliziteren Darstellung des oralen Triebs zurück. Die konstruktivistischen Werbungen scheinen zu sagen, dass die Objekte der industriellen Massenkultur einen machtvollen Einfluss auf das menschliche Subjekt ausüben; dass jedoch die Differenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus darin besteht, dass im Sozialismus das Wesen dieses Einflusses für das Subjekt artikulierbar wird, selbst wenn dieser nicht unmittelbar verändert oder überwunden werden kann. Der konstruktivistische Zug in Richtung Transparenz war nicht nur materiell, wie in den systematischen „Räumlichen Konstruktionen“ von Ioganson und Rodtschenko bzw. in Popowas leicht machbarem Flapperkleid, sondern psychologischer Art; er bot ein kritisches Verständnis der exzessiven Natur des KonsumentInnenbegehrens dar – den „Blitz der Erkenntnis“ –, das notwendig wäre für das Erwachen aus der Warenphantasmagorie des Kapitalismus. Es ist diese Transparenz des Objektbegehrens, das die Werbungen von Rodtschenko und Majakowski entwerfen, wodurch sie im Widerspruch zu Peter Bürgers bekannter Aussage stehen, dass die avantgardistische Kunst, wenn sie als Form der Massenkultur ins Leben übergeführt wird, eine "unterwerfende" [21] ist.

 

Aleksandr Zelenskii, Advertisement for Sappho cigarettes, 1924

Im Gegensatz zur verträumten Art-déco-Frau in der früheren Werbung von Roter Oktober sowie im Gegensatz zur betörten „Sappho“ könnte das Roter-Oktober-Mädchen als ein „bewusstes“ weibliches Subjekt beschrieben werden. Selbstverständlich ist diese seltsame und spaßige Figur eines Mädchens nicht wirklich die Repräsentation der bewussten, vom Bolschewismus emanzipierten neuen Frau. Aber sie wirkt als ein Zeichen für den Diskurs der weiblichen Bewusstheit und Emanzipation, der innerhalb des Konstruktivismus mit einer Reihe von Ideen über neue und aktive Objekte in Verbindung stand, die den Alltag zu transformieren vermögen. Rodtschenkos Frau Stepanowa diente ihm für die auf Buchdeckeln und Massenmagazinen veröffentlichten Fotografien und Fotomontagen häufig als Modell für diese bewusste sowjetische Frau; so beispielsweise auch für den Coverentwurf eines Buches mit dem Titel Das neue Alltagsleben und die Kunst (Novyi byt i iskusstvo), auf dem eine selbstsichere Stepanowa mit einem ArbeiterInnenkopftuch uns so angrinst wie das Roter-Oktober-Mädchen.[22] Frauen und das novyi byt waren in Rodtschenkos Vorstellung ebenso miteinander verbunden wie im bolschewistischen Diskurs über die Emanzipation der Frauen. Diese Verbindung führte ihn jedoch ihm Unterschied zu den Bolschewiken nicht zur Verleumdung oder Auslöschung des byt.

Es gibt einen Moment, in dem Rodtschenko diese Verbindung zwischen der Emanzipation der Frauen und den Idealen des Konstruktivismus untypischerweise offenlegte. In einem aus Paris – wohin er 1925 reiste, um die sowjetische Sektion der Exposition Internationale des Arts Décoratifs et Industriels zu gestalten – nach Hause gesandten Brief schrieb Rodtschenko: „Das Licht aus dem Osten ist nicht nur die Befreiung der ArbeiterInnen; das Licht aus dem Osten ruht in der neuen Beziehung zu Personen, Frauen, Dingen. Unsere Dinge in unseren Händen müssen Gleiche sein, Genossen, und nicht jene schwarzen und traurigen Sklaven, die sie hier sind.“[23] Die Wendung in seinem Satz deutet darauf hin, dass die Zurückweisung der passiven Waren, die er in Paris sah, für ihn mit der Zurückweisung der Pariser Konventionen von passiver Weiblichkeit und von Frauen als Sexobjekten verbunden war. Rodtschenkos Brief bezieht sich wiederholt auf die vergegenständlichten Frauen von Paris – Frauen, die er in ihren kurzen, engen Röcken auf der Straße sieht; Frauen, die nackt in Kabaretts auftreten; kurz, „den Kult der Frau als Ding“[24]. Im Unterschied dazu stellt er sich eine neue Beziehung zur Frau im sowjetischen Osten vor, und obwohl er diese neue Beziehung nicht weiter theoretisiert oder beschreibt, können wir mutmaßen, dass er sich die Frau als Gleiche und als eine Genossin vorstellte, dem Modell der sowjetischen Kampagne für die Emanzipation der Frauen gemäß. Seine Briefe demonstrieren, dass er sich sein berühmtestes konstruktivistisches Objekt, das Interieur für einen Arbeiterclub, das er für die sowjetische Sektion der Pariser Ausstellung entwarf, sicherlich als einen „Genossen“ dachte. Er schreibt voller Wärme von der Sauberkeit und Beleuchtung seines Clubs, von der Art und Weise, in der seine materiellen Formen den Pariser Dreck, Symbol des erotisierten Überschusses des Warensystems zurückweisen: „Es ist wahr, dass er so einfach, sauber und hell ist, dass man niemals absichtlich Schmutz hineintragen würde.“ Rodtschenko projiziert sein Begehren auf seine technologischen Formen; er macht sie warm für ihre kollektiven sozialen Funktionen und humanisiert sie. Selbst wenn der Inhalt seiner Begehrensprojektion nicht vollständig bewusst gemacht werden kann, so wird er in der endgültigen materiellen Verkörperung des Objekts doch auch nicht unterdrückt. Das Begehren kann nunmehr erkannt und auf kollektive Zwecke ausgerichtet werden.

In dem Sinne, dass sein Klub auf die sozioökonomischen Anforderungen ebenso reagiert wie auf die Bedürfnisse des menschlichen Körpers, einschließlich der unbewussten, stellt er auch eine mögliche Antwort auf Benjamins Frage aus dem Passagen-Werk dar:

„Wann und wie werden die Formenwelten, die in der Mechanik, im Film, im Maschinenbau, in der neuen Physik, etc. ohne unser Zutun heraufgekommen sind und uns überwältigt haben, das was an ihnen Natur ist, uns deutlich machen? Wann wird der Zustand der Gesellschaft erreicht sein, in dem diese Formen oder die aus ihnen entstandenen sich als Naturformen uns erschließen?“[25]

Das konstruktivistische Objekt sollte idealerweise nur die allermodernste Technologie verwenden und an der „Verdeutlichung“ sowie am „Erschließen“ für das menschliche Subjekt arbeiten, genauso wie dies ein Genosse in einem Gespräch tun würde. (Hier kann erneut auf Rodtschenko verwiesen werden, der über das Problem der „Dinge“, wie er die Pariser Waren sieht, nachgrübelt: „Die Person lernt, mit den Dingen zu lachen, glücklich zu sein und ein Gespräch zu führen.“[26]) Doch Rodtschenkos Clubinterieur wird, obwohl es ein raffiniertes Design aus geometrischen, funktionalistischen Formen der internationalen modernistischen Bewegung hat, tatsächlich in Handarbeit aus Holz gefertigt; ebenso wie der traditionell bedruckte Baumwollkalikostoff von Popowa und Stepanowa und die bedruckte Pappe der Mosselprom’schen Karamellbonbonschachtel ist es kein gutgläubiges Beispiel für die in Massenproduktion hergestellten neuesten technologischen Erfindungen. Die ökonomische Verwendung von Holz wurde aufgrund der budgetären Zwänge der Ausstellung notwendig gemacht; aber sie zeigte insgesamt auch das Engagement des Konstruktivismus, mit der materiellen Knappheit der NPÖ und somit mit den Bedürfnissen des existierenden sowjetischen byt fertigzuwerden.

***

Wie Tatlins effizienter Herd und Popowas nüchterne und doch modische Kleider, die aus ihrem in Massenproduktion hergestellten Stoff angefertigt wurden, verkörpert das Roter-Oktober-Mädchen auf Rodtschenkos Plakat – das von ihrem Logenplatz auf den über ganz Moskau verstreuten Mosselprom-Kiosken heruntergrinst – den Einzug der ProduktivistInnen ins sowjetische Alltagsleben. Wir können all diese produktivistischen Arbeiten als „Übergangsobjekte“ beschreiben, „Übergangsobjekte“, die den Übergang von den fetischistischen, durch die Ware gespeisten kapitalistischen Begehrensstrukturen zu den gleichermaßen starken, aber nunmehr expliziten und verstehbaren Begehrensstrukturen der semi-sozialistischen Objekte des NPÖ untersuchen. Diese Untersuchung sollte schließlich vollständig organisierte Begehren nach sozialistischen Objekten selbst zum Ergebnis haben. Diese und andere produktivistische Objekte lieferten den Blitz eines kritischen Verständnisses der Massenkultur und des Objektbegehrens in der NPÖ, der für das Erwachen aus dem Traumschlaf des Kapitalismus in einer zukünftigen sozialistischen Kultur notwendig sein würde. 2009 warten wir immer noch auf dieses Erwachen. Die Prämisse dieser Konferenz – dass die „Neuen Produktivismen“ der gegenwärtigen KünstlerInnen die politische Kraft des ursprünglichen Produktivismus fortführen und umrüsten können – ist ein viel versprechendes Zeichen. Wie Arwatow einst sagte: „Es ist eine Utopie, aber wir müssen es sagen. […] Es ist wahr, dass die Situation tragisch ist […], aber sie ist keine ausweglose Situation. Es ist die Situation eines Mannes am Flussufer, der auf die andere Seite muss. Man muss ein Fundament legen und eine Brücke bauen.“[27]

 

 

[1] Osip Brik, „V Proizvodstvo“, in: Lef, Nr. 1, 1923, S. 105–108.

[2] Vgl. Maria Gough, „Red Technics: The Konstruktor in Production“, Kapitel 5, in: Dies., The Artist as Producer: Russian Constructivism in Revolution, Berkeley/CA: University of California Press 2005.

[3] Zitiert nach Gough, Der Künstler als Produzent, op. cit., S. 148.

[4] Nikolai Punin, „Rutina i Tatlin“ in: Ders., O Tatline, I. N. Punina and V. I Rakitin (Hg.), Moscow: Literaturnoe-Khudozhestvennoe Agenstvo „RA“ 1994, S. 71.

[5] Leon Trotskii, Voprosy byta, Moskau: Krasnaia nov’ 1923, übers. als Leo Trotski, Fragen des Alltagslebens, Essen: Arbeiterpresse Verlag 2001.

[6] Illustrationen solcher Propagandaplakate für das novyi byt wie auch eine Reihe von anderen der in diesem Text besprochenen Bilder finden sich in meinem Buch Imagine, No Possessions: The Socialist Objects of Russian Constructivism, Cambridge/MA: MIT Press 2005.

[7] Für eine feministische Analyse des Produktivismus vgl. meinen Aufsatz „His and Her Constructivism“, in: Margarit Tupitsyn (Hg.), Rodchenko and Popova: Defining Constructivism, London: Tate Publishing 2009, S. 143–159.

[8] Boris Arvatov, „Byt i kul’tura veshchi (k postanovke voprosa)“, in: Al’manakh proletkul’ta, Moskau 1925, S. 75–82; für die englische Übersetzung vgl. „Everyday Life and the Culture of the Thing (Toward the Formulation of the Question), übers. v. Christina Kiaer, October, Nr. 81 (Sommer 1997), S. 119–128; weitere Bezugnahmen auf diese Übersetzung werden im Text selbst als „EL“ ausgewiesen. (Für die deutsche Übersetzung vgl. „Alltag und die Kultur des Dings“, übers. v. Anke Henning, in: Anke Henning [Hg.], Über die Dinge. Texte der russischen Avantgarde, Hamburg: Fundus Band 181, S. 307–327; Anm. d. Übers.)

[9] „Pamiati L. S. Popvoi“, in: Lef, Nr. 2 (1924), S. 4.

[10] Tugendkhol’d, zitiert nach Natalia Adaskina, „Constructivist Fabrics and Dress Design“, in: The Journal of Decorative and Propaganda Arts, Vol. 5, Sommer 1997, S. 157.

[11] V. F. Stepanowa und L. S. Popanowa, „Memo für die Direktion der ersten staatseigenen Baumwolldruckfabrik“, unveröffentlichtes Manuskript aus dem Jahr 1924, Rodtschenko-Stepanowa Archiv, Moskau, zitiert nach A. N. Lavrent’ev, „Poeziia graficheskogo dizaina v tvorchestve Varvary Stepanovoi“, Tekhnicheskaia estetika 1980, S. 25.

[12] Warwara Stepanowa, „Kostium segodniashnego dnia – prozodezhad“, in: Lef, Nr. 2, 1923, S. 65–68.

[13] Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 120.

[14] „Modnaia khronika“, in: Zhurnal dlia Khoziaek, Nr. 1, 1923, S. 3.

[15] Osip Brik, „Vo proizvodstvo!“, op. cit., S. 108

[16] Rodchenko, „Rabota s Maiakovskim“, in Varava A. Rodchenko (Hg.), A. M. Rodchenko, Stat'i, vospominaniia, avtobiograficheskie zapiski, pis'ma, Moscow: Sovetskii khudozhnik 1982, S. 67

[17] Die Einem-Fabrik wurde nach der Revolution in Roter Oktober umbenannt; sie war bis vor kurzem noch in Betrieb, als das schöne alte Fabriksgebäude – auf seiner mitten in Moskau gelegenen Insel eine erstklassige Immobilie – in ein Zentrum für Gegenwartskunst umgewandelt wurde.

[18] W. Benjamin, Das Passagen-Werk, op. cit., S. 578.

[19] Zum „Erwachen“ vgl. insbesondere den Abschnitt K [Traumstadt und Traumhaus, Zukunftsträume, Anthropologischer Nihilismus, Jung] in Benjamins Passagen-Werk sowie Susan Buck-Morss’ aussagekräftige Anmerkung zu dieser Idee, in: Dies., Die Dialektik des Sehens: Walter Benjamin and das Passagenwerk, übers. v. Joachim Schulte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, Kap. 8.

[20] D. W. Winnicott, „Transitional Objects and Transitional Phenomena: A Study of the First Not-Me Possession“, in: The Yearbook of Psychoanalysis 10, 1954, S. 64–80.

[21] Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 73.

[22] Für eine Illustration dieses Buchdeckeldesigns vgl. Rodchenko and Popova: Defining Constructivism, op. cit., S. 100.

[23] Aleksandr Rodchenko, „Rodchenko v Parizhe. Iz pisem domoi“, in: Novyi lef, Nr. 2, 1927: S. 20 (Brief vom 4. Mai 1925).

[24] Ibid., S. 12 (Brief vom 25. März 1925).

[25] W. Benjamin, Das Passagen-Werk, op. cit., S. 500 (Abschnitt K3a, 2).

[26] A. Rodchenko, „Rodchenko v Parizhe. Iz pisem domoi“, op. cit., S. 20 (Brief vom 4. Mai 1925).

[27] „Transcript of the Discussion of Comrade Stepanova’s Paper ‚On Constructivism‘, 22. Dezember 1921, privates Archiv, übers. v. James West in: Richard Andrews, Milena Kalinovska, Milena, Henry Art Gallery, Art into Life: Russian Constructivism, 1914–1932, New York: Rizzoli 1990, S. 74–79; das Zitat von Arwatows Diskussionsbeitrag findet sich auf S. 76.