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06 2001

Takin' it to the Streets. Von Massen - auf den Straßen und andernorts

Roman Horak

journal
protest

Vom späten Raymond Williams stammt jene, in letzter Zeit häufiger zitierte Bemerkung, dass es keine Masse gebe, nur Sichtweisen von ihr. Getroffen hat er sie im Zusammenhang der Debatte um Massen- und Popularkultur und sie ist natürlich doppelt zu verorten, oder besser, sie verweist einmal auf die Rede von der ‚Massengesellschaft' und zum anderen auf Williams' zentrales Thema, auf die Auseinandersetzung mit den Bedeutungen und Wirksamkeiten der unterschiedlichen Begriffe von ‚Kultur'. Für diesen kleinen Aufsatz ist Ersteres von größerer und unmittelbarerer Wichtigkeit, wiewohl wir auf die Wechselwirkungen von ‚Kultur' und ‚Massengesellschaft' im weiteren Verlauf nicht vergessen wollen.

Als die "klassische Darstellung zum Aufkommen der Massenkultur zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts" bezeichnet John Carey in seinem Buch über die Intellektuellen und die Massen Jose Ortega y Gassets 'Der Aufstand der Massen' (1930). Wie H. G. Wells und zahlreiche andere Autoren sieht auch Ortega die 'Bevölkerungsexplosion' in Europa als Anfang allen Übels. In mehren Punkten skizziert er seinen Befund der Vermassung der Gesellschaft. Das Bevölkerungswachstum führe - erstens - dazu, dass Überfüllung herrsche. Allerorten - in den Zügen, Cafés, Theatern, auf der Straße und an den Stränden - drängten sich die Menschen. Dies sei aber - zweitens - nicht bloß als eine Überfüllung zu verstehen, sondern zugleich als eine Invasion zu nehmen. Und das bedeute, dass Orte, die für die Besten geschaffen worden seien, nun von der Menge bevölkert würden. Als drittes Moment dieser Entwicklung folge die Diktatur der Masse. "Die Massen glauben an den Staat als eine Maschine zur Erlangung der von ihnen begehrten materiellen Genüsse, aber er wird das Individuum vernichten".

In einer Fußnote verweist Carey auf den Einfluss, den Oswald Spenglers 'Der Untergang des Abendlandes', "der in den 'fließenden Massen' der 'parasitischen Stadtbewohner' ein Anzeichen dafür sah, dass der Kulturzyklus des Abendlandes sich seinem Ende nähere", auf diese Sichtweise ausgeübt hat.

Wichtig ist für uns hier die Verquickung des räumlichen Arguments mit der politischen Konklusio. Wenn wir in diesem Text von den unterschiedlichen Varianten der Aneignung, Besetzung und Redefinition des öffentlichen Raumes und den diversen dazu konstruierten / dazugehörigen Bildern reden wollen, werden wir immer wieder auf diese rhetorische Figur stoßen, freilich nicht bloß in der kulturpessimistischen Ortegaschen Variante.

Die Massen auf der Straße, das ist der engere Rahmen - und zugleich ein weites Feld -, dem unser Augenmerk gelten soll. Nicht die idyllische sommerliche Landstraße haben wir vor Augen, auch nicht wesentlich Straße als Verbindung zweier Punkte im mathematisch-geographischen Sinne, sondern ihre differenten, aber konkret wirksamen Zuschreibungen im urbanen Raum. Bedrohung der öffentlichen Ordnung via sichtbarer, kollektiver oder wenigstens gruppenförmiger Präsenz auf der Straße wird ein Leitthema sein, aber auch politische Hoffnungen, die sich auf ihr materialisieren, wollen wir nicht außer Acht lassen.


Street Corner Society

"A street corner in Harlem, 1940. Outside a South London café, 1952. Greenwich Village, New York, 1958. Outside the Ace Café, North Circular Road, London 1962. Downtown. Kingston, Jamaica, 1963. Carnaby Street, London 1965."

Mit einer - hier verkürzt wiedergegebenen - Aufzählung mittlerweile schon beinahe mythologisierter Orte jugend- bzw. subkultureller Prägung leitet Ted Polhemus sein reich illustriertes Buch über ‚street style' ein. ‚Hanging Out', lautet die Kapitelüberschrift und sie bezeichnet jene Praxis, die von der jeweils ordnenden Macht immer schon mehr als ‚bloßes Herumhängen' gelesen und entsprechend sanktioniert wurde. Polhemus' Augenmerk gilt nicht so sehr den Varianten der Raumaneignung seitens der Jugendlichen als ihrer Sichtbarkeit, genauer dem Stil der einzelnen subkulturellen Formationen, der über die Kleidung zugleich Differenz (nach außen) und Zugehörigkeit (nach innen) herstellen soll.

Vieles an der Debatte um Jugendkultur, wie wir sie seit den späten siebziger Jahren kennen und führen, hat sich allzu eng an den Prozessen der Stilbildung, an den bunten Erscheinungsformen festgemacht, oft verdeckte / überlagerte die Diskussion über die Abfolge jeweils ‚dominanter Stile' jene dahinter liegende Wirklichkeit der ‚Street Corner Society'.

Spätestens seit William Foot Whytes gleichnamiger Studie über die ‚Eckensteher' in einem italienischen Slum einer amerikanischen Stadt aus dem Jahre 1943 wurde Jugend als Problem mit Fokussierung auf Devianz Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung. Abweichung ist dabei nicht nur zu verstehen als Regelbruch, was den Verhaltenscodex angeht, auch wenn dies freilich den Kern der Argumentation ausmacht, Abweichung / Devianz - etymologisch klingt es an - hat auch eine räumliche Dimension. Nicht bloß das metaphorische ‚Vom-Weg-abkommen' wird beklagt und zurückgewiesen, die störende Präsenz auf den Straßen herumlungernder junger Männer konstatieren JugendpflegerInnen, Polizei und SoziologInnen seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts als ‚soziales Problem', wie Geoffrey Pearson in seinem Buch ‚Hooligan. A History of Respectable Fears' (1983) detailreich nachgezeichnet hat. Der Blick auf das ‚Herumlungern' konstruiert nicht direkt eine bestimmte Masse, aber sieht die ‚Eckensteher' als ein Phänomen der Massengesellschaft und als eine Folge der Urbanisierung. Die Auflösung traditionaler Lebenswelten und hergebrachter Bindungen in der Moderne befördert die so Entwurzelten auf die Straße und damit aber gerade in jenen Raum, der einmal mehr und mehr als funktionaler (Verkehr, Gütertransport) gedacht wird und der zum anderen - immer noch und verstärkt - zugleich als Terrain möglicher massenhafter politischer Insubordination einen Ort möglicher Bedrohung vorstellt.

So verweisen die Wenigen (die Überblickbaren, leichter Verortbaren) den kontrollierenden Blick stets auf die Masse (die Unzählbaren, Vazierenden), ‚Hanging Out', selbststilisierendes Nichtstun im öffentlichen Raum wird als Regelbruch konstatiert, auch und nicht zuletzt weil es diesen der Macht als Territorium möglicher - massenhafter und explizit politisch begründeter - Widerständigkeit präsent hält. Die Bedrohung durch die ‚Street Corner Society' geht nicht von ihr selber aus, als Referenzsystem aber hält sie die Vorstellung der anderen, der ‚massenhaften' Insubordination am Leben.


Die politische Masse

Die Masse als ‚gefährliches Tier' ist jedoch nur eine der zahlreichen Varianten ihrer Codierung. Gerade in den diversen Traditionen gesellschaftskritischen Denkens schlägt uns (auch) eine ganz andere Sichtweise entgegen, wenn von den revolutionären Massen (man beachte den Plural) die Rede ist. Als Kollektivsubjekt der Veränderung werden diese mit einer historischen Mission versehen, durch und in deren Erfüllung die sie formenden Einzelnen gleichsam zu sich kommen und ihre ‚Massenförmigkeit' in der freien Assoziation der autonomen Subjekte verlieren. Soweit der Kern der klassisch-linken (modernen und zugleich eschatologisch angelegten) Theorie. Für die Strategie und konkrete gesellschaftsverändernde Praxis der Arbeiterbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert warf sich damit aber ein grundlegendes Problem auf, das in der Frage gipfelte, ob und wie denn das Proletariat (als Agens der Umwälzung) rechtens dazu gebracht werden könnte oder müsste, die ihm zugeschriebene Aufgabe zu erfüllen. Zwischen den sozialdemokratisch-leninistischen Konzeptionen, die, wie auch immer unterschiedlich gewichtet und motiviert, die Rolle der organisierenden Partei in den Vordergrund rückten, und den diversen anarchistisch-syndikalistischen Vorstellungen von der Spontaneität der Massen pendelten die jeweils situativ begründeten dominanten Sichtweisen, die immer dann besonders hart aufeinander prallten, wenn die (abstrakten) Massen als (konkrete) Menge auf die Straße gingen.

Rosa Luxemburg hat in ihrer, unter dem Eindruck der russischen Revolution von 1905 verfassten Schrift über ‚Massenstreik, Partei und Gewerkschaften' mit Blick auf die deutsche Sozialdemokratie versucht, diesen Widerspruch zu lösen. Sie macht ihre Argumentation am Begriff des Klassenbewusstseins fest, das sie zweifach definiert. Einmal als ‚theoretisches' und ‚latentes', das in ruhigen Zeiten parlamentarischer Demokratie das vorherrschende wäre. Wenn die Massen allerdings ‚auf dem Schauplatz erscheinen' - und dies ist durchaus physisch gemeint - , schlägt es um in ein ‚praktisches' und ‚aktives'. Tritt diese, die revolutionäre Situation ein, so schult sie das Proletariat, in der umwälzenden Praxis, auf den Straßen (aber nicht nur da) finden also Lernprozesse statt, die helfen können, die Umwälzung voranzutreiben. Und hier kommt die Partei ins Spiel. Ihre Aufgabe ist es, die politische Führung der Bewegung zu übernehmen, dieser Aufgabe gerecht werden kann sie allerdings nur, wenn sie beizeiten daran (mit)gearbeitet hat, das latente Klassenbewusstsein in ein aktives zu transformieren. Die Luxemburgische Dialektik formuliert ein dynamisches Modell der Veränderung jenseits der gerade in der deutschen Sozialdemokratie jener Jahre dominanten Idee von historischer Mechanik. Insofern überwindet sie auch die Bipolarität ‚Rationalität der Partei' - ‚Spontaneität der Massen'. Die Kraft und das Feuer der Analyse Rosa Luxemburgs speist sich allerdings aus der Letztbegründung, dem Glauben an die Naturnotwendigkeit der Revolution.

Nach den Erfahrungen des vorigen Jahrhunderts ist dieser wohl endgültig verloren gegangen, und schwer gelitten hat gewiss auch die mit ihm verbundene Vorstellung einer revolutionären Partei, die, gleichsam als Vehikel der Logik der Geschichte, die Veränderung voranzutreiben hat. Was geblieben ist und was wir in jüngster Zeit auch wieder häufiger, gerade angesichts der ordnungs- und sicherheitspolitischen Maßnahmen gegen jene, die journalistisch mit dem Terminus ‚Globalisierungsgegner' versehen werden, erleben, ist die anhaltende (nicht nur) symbolische Bedeutung des öffentlichen Raumes. Die Auseinandersetzungen um ihn und in ihm haben die Moderne durchzogen. In vielerlei Gestalt und mit unterschiedlichen Konnotationen versehen - von den kulturkonservativen Klagen über seine Überfüllung durch die Massen hin zur revolutionären Rhetorik der Arbeiterbewegung und auch in den Diskussionen über die herumhängenden Eckenstehern - verweist uns die Rede über ihn auf das simple Faktum, dass Macht (Hegemonie) nicht bloß in den Köpfen, sondern immer auch physisch wirksam werden muss.