06 2001
High sein. Frei sein.
Plötzlich tauchten sie aus den U-Bahn-Aufgängen am Stephansplatz auf, die rund 400 Punks, Hausbesetzer, ARENAutInnen, Burggartenbewegungs-Menschen und diverse andere Freaks (oder was man in Wien damals darunter verstand). Sie sangen, skandierten lose Sprüche wie "High sein, frei sein, Terror muss dabei sein", ließen sich hier nieder, um plötzlich wieder aufzuspringen und wie auf geheime Verabredung in die verwinkelten Gassen der City und vor zum legendären Spekulanten-Haus des Baulöwen Kallinger am Judenplatz zu stürmen. Eine Stunde lang narrten sie die Polizei, ehe die die Demonstranten beim Lugeck zernieren konnte. Ein paar Steine flogen noch gegen die dortige Filiale des Textilunternehmens Schöps - Hauptinteressent am besetzerfreigemachten ARENA-Gelände -, dann schlug das Imperium zurück: 97 Verhaftete, zahlreiche Verletzte, willkürlich verprügelte ZuseherInnen. Wegen "Teilnahme an einer illegalen Demonstration", "Erregung öffentlichen Ärgernisses" und "ungestümen Verhaltens" setzte es Verwaltungsstrafen zwischen 1000 und 3500 Schillingen. Verwirrung bei Gegnern (Bruno Kreisky: "wohlstandsverwahrloste Mittelschüler aus gutem Haus"; die bürgerliche Presse: "von Ausländern infiltrierte und gesteuerte Wahnsinnige") und Freunden ("Die Linke": "das Fehlen einer politischen Perspektive ist nicht zu übersehen"), da den Kids alle "verhandelbaren" Forderungen völlig egal waren - mühsam wird später irgendwo ein Flugblatt aufgestöbert, das konkrete Parolen aufstellt. Doch die Woche danach kamen schon (oder trotzdem, oder deswegen) 1500 Leute, um gegen die "Polizeirandale" zu demonstrieren. Von da ab löste sich vieles in Wien, was vorher ein Ding der Unmöglichkeit schien, in Wohlgefallen auf: Abbruchhäuser werden zur "Instandbesetzung" freigegeben, der zuständige Stadtrat legt sich eigenkörperlich in die als Liegewiese freigegebenen Wiener Parkanlagen, die Bands bekommen ein Rockhaus. Nur mit der Freigabe von Cannabis kann man sich nicht wirklich anfreunden.
Die Jugendbewegung vom März 1981 stellte das politische Establishment (rechts wie links) vor ein Rätsel. Seit 1867, dem Jahr der Proklamation der Staatsgrundgesetze, hatte man die Demonstrationsfreiheit fest in die Formen der Repräsentativ-Demokratie eingebaut. Auf den Straßen vorgetragene Petitionen, selbst Krawalle, wurden, wenn sie nur einen klaren Adressaten hatten, den polizeilichen Auflagen folgten und sich den Spielregeln der "kommunikativen Vernunft" beugten, von den Institutionen als "Signale" aufgefasst, wo sich ein nicht integriertes Oppositionspotenzial gestaut hatte. Manchmal wurden ganze marginalisierte Gruppen so überhaupt erst von der Politik entdeckt, wie die Frauen, die 1910 am internationalen Sozialistenkongress in Kopenhagen entschieden, jährlich am 8. März für die Erlangung des Wahlrechts zu demonstrieren. Was also kündigte sich 1981 (zeitgleich in Zürich, Berlin und London) an? Mit Michel Foucault hätte man meinen können: die Verweigerung der integristischen Strategie weist auf ein Ende der Macht der Institutionen hin, über die verordnete Form des Ausdrucks den Vorstellungshorizont der OpponentInnen fundamental einzuschränken. Und die karnevalistische Inszenierung der "Demos", die in diesem Jahr auch Dornbirn und die städtischen "Jugendszenen" an der Ost-West-Achse Österreichs erfasste, war wirklich effektiv: sie sicherte ambitionierten Projekten "Autonomie", selbst wenn der Staat für Veranstaltungszentren und Kulturprogramme (mit)bezahlte. Und doch wäre es vorschnell, die 80er Jahre den SpontaneistInnen, Punks und Autonomen allein gutzuschreiben, die den 1. März zum Ereignis gemacht hatten. Denn genauer betrachtet gehört dieses Jahrzehnt - demonstrationsmäßig - den Sanften, den PatriotInnen, den Uneigennützigen. Und Schuld daran war Ronald Reagan.
Am 15. Mai 1982 sahen die WienerInnen die bis dahin größte Demonstration in der 2. Republik vom Westbahnhof über die Mariahilferstraße zum Rathausplatz ziehen. 70.000 waren gekommen, um gegen den NATO-Nachrüstungsbeschluss anzugehen. Pershing-II und Marschflugkörper, so wollte es die Reagan-Doktrin, sollten einen taktischen atomaren Erstschlag gegen die Sowjetunion von europäischem Boden aus denkbar machen. Die traditionellen Träger der groß-politischen Demonstrationskultur hatten schon im Herbst des Vorjahres mobilisiert - 10.000 in Wien, 4.000 in Linz, ein paar weniger in Salzburg. (Die Ausbreitung der Demo-Kultur von der Professionisten-Arbeit in der Hauptstadt in die Bundesländer war allerdings eine entscheidene Folge der Anti-AKW-Bewegung von 1976/77 gewesen.) Harry Belafonte hat gemeinsam mit dem Wiener Vorsitzenden der Jungen Generation in der SPÖ, Michael Häupl, gesprochen. (Wer erinnert sich aber nicht an die Peinlichkeit, als ein rassistischer Gastwirt dem Calypso-Star den Zutritt zu seiner Discothek verweigerte.) Aber diesmal war es anders: Die Demonstration ließ alle Alters-, Klassen-, Kultur- und Konfessionsbekenntnisse jenseits, JungpolitikerInnen aller Couleurs drängten auf die RednerInnenliste, Hare-Krishna-Jünger verkauften Grießpudding, und die Corona einer genuin österreichischer Version von crossover (mit Ludwig Hirsch, Erika Pluhar und André Heller im Mittelpunkt) eroberte sich als Mitveranstalterin das Epitheton "Friedenskünstler". Zum Schluss gab es gar einen ökumenischen Gottesdienst unter Kardinal König im Stephansdom. Widerstand war in Ansätzen bereits zu einem logistisch zu planenden Unternehmen geworden, das neben der Versorgung mit Lebensmitteln auch Unterhaltung beisteuern musste.
Am 22. Oktober wiederholte sich das Geschehen, diesmal mit noch mehr, nämlich an die 100.000 TeilnehmerInnen. Und mit noch mehr Weihestimmung. (Was die BerichterstatterInnen der orthodoxen, im Ostermarsch- und Anti-Imperialismus-Klima der 60er und 70er Jahre befangenen Linken ziemlich, die ihren Nachrüstungsbeschluß exekutierenden NATO-Generäle aber gar nicht irritiert hat.)
Wie anders hatte es noch 1975 ausgesehen, nachdem der schon todkranke letzte alt-faschistische Diktator Franco 5 Mitglieder der illegalen baskischen FRAP grausam, mit dem Würgeeisen, hinrichten hatte lassen. So wie überall in Europa kam es am 2. Oktober auch in Wien zu Protesten und Kundgebungen, die in eine Großdemonstration von einigen tausend, meist sozialdemokratisch oder linksradikal eingestellten Personen mündete. Vor dem Büro der spanischen Fluglinie "IBERIA" stoppte der Zug, während eine Abteilung von Polizisten mit Schutzschildern keinen halben Meter vor der riesigen Glasvitrine des Lokals am Ring Aufstellung nahm: Es kam, wie es in solchen Situationen kommen muss: Erst flogen ein paar Steine in kunstvollen Bahnen über die Köpfe der Polizisten hinweg, dann, als die Scheibe zu bersten begann, setzte ein ordentlicher Steinhagel ein, der auch die Wachebeamten traf. (Angeblich wurden 66 Polizisten dabei verletzt.) Doch das war nur das Zeichen für die Polizei, der in diesen Tagen schon einmal ein Malheur unterlaufen war, als sie nämlich die spanische Botschaft zu sichern vergaß und einigen hundert Demonstranten das Eindringen dort (Schadenssumme: einige hunderttausend Schilling) ermöglichte, loszuschlagen. Wahllos wurde auf alles, was sich rund 200 Meter um die Oper herum bewegte, eingeschlagen, sogar völlig unbeteiligte, betagte Frauen wurden noch als vermeintlich Fliehende von den Treppen der Straßenbahnlinien gezerrt und attackiert. Doch alles in allem hatte, wie ein Demo-Verantwortlicher in Anspielung auf Bruno Kreiskys Diktum vom nötigen europäischen Aufholprozess ironisch kundtat, Wien endlich auch bei seinen Demonstrationen "Europareife" erreicht. (Bezeichnend dann die "Nachwirkungen": beim Prozess gegen einige willkürlich verhaftete Demonstrationsteilnehmer im Mai 1976 wurden den FotografInnen die Apparate beschlagnahmt, dem Verteidiger der Ausschluss vom Verfahren angedroht, eine politische Argumentation nicht zugelassen, und wichtiges Beweismaterial wie eine ZiB-Dokumentation über das gewalttätige Vorgehen der Polizei konnte "nicht aufgefunden" werden.) Im Nachhinein ist man immer schlauer: Was sich Ende der 60er/ Mitte der 70er Jahre tat, war im Grunde eine Reprise der Klassenkämpfe, ausgetragen von einer studentischen Neoavantgarde. Reprise deshalb, weil der eine Part, die traditionelle Arbeiterklasse, bereits kurz vor seiner Atomisierung durch Globalisierungsprozesse und technologische Umrüstung stand. Der andere Part, nennen wir ihn den kapitalistischen Staat, hingegen sammelte eigentlich noch so richtiggehend seine Kräfte und agierte als selbstgerechte, Abweichungen und Gegenmeinungen denunzierende Disziplinarmacht. Man musste als politisch wacher Mensch nicht nur die Berichte über den Vietnamkrieg lesen, und die selbstgerechten und flächendeckenden Kommentare, um in Kategorien von Freund und Feind - in der ebenfalls typischen virilen Vorstellung - zu verfallen. Da gab es noch die Bilder von den (von der Polizei oder der Nationalgarde) ermordeten schwarzen Bürgerrechtskämpfern in den USA, und zuhause fühlte man sich ebenfalls auf allen Ebenen reglementiert und kujoniert. (Schließlich gab es da protegierte Schleifer beim Bundesheer, gewaltbereite Lehrer mit Erfahrungen von der "Ostfront", rassistische Stereotype, die selbst die Äußerungen eines Hugo Portisch - etwa im Mega-Seller "So sah ich Afrika" - durchzogen. Die Welt war auch kleiner geworden, und es war ein politisches Symbol, wenn der Schah von Persien in Österreich von einer Koalition aus RegierungspolitikerInnen und den Fans der Regenbogenpresse empfangen wurde. Wenn sich dann noch herausstellte, dass die österreichischen Behörden den iranischen Geheimdienst ungehindert gegen oppositionelle iranische Studenten wüten ließ, dann sprach doch einiges für die These einer globalen antiimperialistischen Widerstandsfront.)
"Militanz", das englische Substantiv "militant" ist natürlich wesentlich eleganter und unverfänglicher, war nicht mehr charakteristisch für die Demonstrationskultur der 80er. Wahrscheinlich auch, weil sie sich gegenüber dem neuen Glanz, in dem sich die neoliberal aufpolierten "starken" Staaten Reagans und Maggie Thatchers zeigten, unzeitgemäß ausnahm. (Großbritannien versenkte eben vor den Falklands Argentiniens Flotte.) In der Zeit weitreichender Ohnmachtsgefühle wurde die Bereitschaft zum Selbstopfer - in "zivilen" Dimensionen freilich, nicht nach dem Beispiel der buddhistischen Mönche, die sich in Vietnam selbst verbrannt hatten - ultimatives politisches Zeichen. Nirgends kam das deutlicher zum Vorschein, als bei der Besetzung der Hainburger Au. Trotz eisiger Kälte und übermäßig harter Polizeieinsätze rückten die Au-BesetzerInnen nicht von den Prinzipien des passiven Widerstands ab, und da sie mit symbolischen Gesten wie dem Absingen der Bundeshymne Lauterkeit wie Erhabenheit ihrer Anliegen vermittelten, nahmen sie die Politik sozusagen in Haft. Erst musste Kanzler Fred Sinowatz den "Weihnachstfrieden" ausrufen, dann machte der negative Spruch der von der Regierung eingesetzten Ökologie-Kommission dem Autostraßenprojekt durch die Hainburger Au endgültig ein Ende. Zu ähnlichen Anlässen hat Jean Baudrillard einmal die Beobachtung gemacht, dass die Macht implodiert, sobald sie auf keine Gegenwehr mehr trifft, durch deren Vehemenz sie erst wieder ihre Aufrüstung und Präventionen legitimieren kann. Dass es soweit nicht kam, dafür sorgten schon die spektakulären Zusammenstöße bei der Opernball-Demo am 2. Februar 1989.
Am Ende der 80er finden wir jedenfalls 2 heterogene Gruppen politischer "VeteranInnen" - die (größere Gruppe) atmosphärisch orientierter Ökologen-PazifistInnen, und die militanten AutonomistInnen. Dass sie dennoch miteinander können und, jedenfalls personell gesehen, im politischen Projekt der "Grünen" ein Arrangement finden, hat vielleicht etwas mit einer österreichischen Tradition zu tun. Denn der Demonstrationskultur hierzulande liegt - geschichtlich gesehen - eine "trinitarische Formel" zugrunde: die älteste Form bilden die katholischen Prozessionen, die ja, beispielsweise zu Himmelfahrt, nicht nur Ritual, sondern auch Inbesitznahme der Stadt und Schauspiel vor den Nicht- und Andersgläubigen ist. Die zweite Inspirationsquelle sind der bürgerliche "Korso", bei dem (regelmäßig im Mai) demonstrative Auffahrten und Spaziergänge in der Prater Hauptallee die gesellschaftliche Position der Familien über prunkvolles Erscheinen und privilegierte Gruppenbildungen mit anderen zementierten, und ähnliche Manifestationen. Als drittes schließlich die Aufmärsche der Sozialdemokratie seit dem 1.Mai 1890, die, anfangs immer mit einem leichten Hang zu Ausschreitungen, vor allem der Stärkung der eigenen Moral und der Ästhetisierung der eigenen Macht dienten. Demonstrationen sollten also nie mit "sachrationalen" Vorgangsweisen allein assoziiert werden, denn sie sind ebensogut Kommunikations- oder Kommunions-Felder wie Terrain sozialer Distinktion und Repräsentation.
"Gute" Demonstrationen, Demonstrationen die sich in das Gedächtnis eingraben, zeichnen sich wahrscheinlich dadurch das, dass sie von all dem etwas haben: emotionelle Bindung, "Überschuss" an Repräsentation ("Wir sind das Volk", ihr seid nur der geschäftführende politische Ausschuss), aber auch Anerkennung der internen Meinungsunterschiede. So gesehen waren doch die Anti-AKW-Demonstrationen der späten 70er Jahre, auch wenn sie im Regelfall nur 5000-6000 Leute auf die Straße brachten, die "besten"; oder jedenfalls unter den "TOP TEN". Denn sie versammelten höchst eigenwillige Köpfe mit ganz unterschiedlichen Plattformen und divergierenden Stilen, und sie waren hundertprozent erfolgreich: Nach der gewonnenen Volksabstimmung 1978 blieb Zwentendorf eingepackt.
Indes: die Welt hat sich verändert. Nachdem erst einmal Anfang der 90er zwölf Sattelschlepper die Megasound-Maschinen der ersten "Free-Party" über den Ring gezogen haben, hat sich der Rahmen für Demonstrationen, die etwas auf sich halten, geändert: Sie brauchen ein gewisses Maß an Theaterregie, Freiraum für Kreative, professionelle PR in Vor- und Nachbereitung, und viel Prominenz. Das macht sie für Militante alten Zuschnitts und deren machtstrategisches Denken natürlich weniger interessant, aber dafür wirksam unter politischen Bedingungen, die ohnehin von medial vermittelten Gesten und vom Spektakel leben. Das "Lichtermeer" vom 23. Jänner 1993, das mit 250.000 mehr als die Hälfte gegen den "Ausländerhass" allein in Wien auf die Straße brachte, als dann eine Woche später das Anti-Ausländervolksbegehren der FPÖ in ganz Österreich an Unterschriften lukrieren konnte, stellt einen Prototyp der 90er-Demos dar; einen anderen die Rave- und Trillerpfeifen-gestärkten Studentenaktionen vom März 1996 gegen das sogenannte "Sparpaket". Aber in die Wiederbeanspruchung der Straße mischt sich auch eine gewisse Skepsis: Die Professionalisierung der Demonstrationskultur kann auch bis zu dem Punkt vorangetrieben werden, wo sie zum Simulacrum wird. Dieser Fall tritt ein, wenn sich herausstellt, dass die Österreichische Hochschülerschaft die Vorbereitung der Demos gegen die Einführung der Studiengebühren einer PR-Agentur überträgt. Honorar für die ghost-writer der Protest-Ansprache des ÖH-Vorsitzenden: ca. öS 8.000,- Demo-Coaching für findige Jungunternehmer, "Wag the dog" oder was?
"Gute" Demonstrationen lassen sich organisieren, aber das sagt noch nicht, ob sie auch "wichtig" werden können. Viele Aspekte kommen dazu ins Spiel, die nicht zu kontrollieren sind: strategische Optionen der Behörden (inklusive der Polizei), Kalküle der offiziellen Politik, Gewaltbereitschaft bei TeilnehmerInnen (oder GegnerInnen)... Unter besonderen Umständen können Demonstrationen dann auch ein Land verändern. So war es 1965, als die Proteste gegen einen antisemitischen Professor an der Hochschule für Welthandel die Stimmung im Lande änderten. Allerdings mit dramatischen Begleitumständen, da bei einer großen Kundgebung einer antifaschistischen Plattform der Pensionist und ehemalige kommunistische Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von einem rechtsradikalen Gegenkandidaten erschlagen worden ist. Seitdem konnte sich aber die Rechte nie mehr wirklich massiv auf der Straße bewegen.
Was also können Demonstrationen? Sie können Marginalisierten
zur Artikulation verhelfen, die Stadt (nicht zuletzt durch
Verkehrsstaus) karnevalistisch umkehren und "Situationen"
("Anderes" erleben) schaffen, sie können selbstverständlich
die Politik veranlassen, Entscheidungen zu revidieren, zu
beschleunigen oder auszusetzen ... Im Grunde lassen wir uns
doch von den großen Bildern leiten: von den dramatischen
Druckgrafiken zu Haymarket/Chicago 1886, wo die Polizei ArbeiterInnendemonstrationen
einfach über den Haufen geschossen hat; von den Hungerprozessionen
in St. Petersburg 1905, filmisch in Szene gesetzt von Pudovkin;
oder von den Agenturfotos über die Mütter der Plaza
Mayor in Buenos Aires, die von der Diktatur Aufklärung
über das Schicksal ihrer "verschwundenen" Kinder
fordern ... Und Österreich ? Die Sozialdemokraten Brötzenberger
und Joachimstaler haben es als Polizeiopfer während der
Preisdemonstrationen 1911 immerhin zu einem Denkmal am Ottakringer
Friedhof und zu einer Platzbenennung gebracht; das Ernst-Kirchweger-Haus
wurde der KPÖ von einer jungen Szene sozusagen abgetrotzt.
Für Radikalität ist also gesorgt, ebenso für
wissenschaftlich-literarische Verewigung: Elias Canettis kluge
Analyse der Demonstation vom 15. Juli 1927, während der
der Justizpalast in Flammen aufgegangen ist, ist sozusagen
zum "Klassiker" der Psychologie der Macht und der
Masse avanciert. Mit den 1981 wieder aufgenommenen Frauendemos
am 8. März und der ersten Gay Day Parade der Homosexuellen
Initiative Wien am 23. Juni 1984 wurden auch hier wunderbare
Beispiele demonstrativer Distinktion gesetzt, die das kulturelle
Leben der Stadt auf Dauer verändert haben. Dennoch lassen
sich Konjunkturen ausmachen: wenn die 60er den städtischen
Linken und AutonomistInnen gehörten, die 70er den regionalen
Bürgerinitiativen, die 80er den neoromantischen Jungen,
so die 90er den karnevalesken neuen RealistInnen. Aus allem
lässt sich lernen. Vor allem aber: Demonstrationen machen
Mut, und diese Erfahrung muss jeder für sich und immer
wieder von Neuem machen.
[überarbeitete Fassung eines im Falter 45/99 erschienenen Artikels.]