Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

08 2001

Transparentes Verschwinden - Massenproteste und Repression in den westlichen Demokratien

Klaus Neundlinger

Am 27. Juli nahm Silvio Berlusconi erstmals im italienischen Parlament zu den Vorwürfen gegenüber der Polizei bezüglich gewalttätiger Übergriffe und schwerer Menschenrechtsverletzungen während des G8-Treffens und danach Stellung. Er hielt, beständig lächelnd, einen halbstündigen Monolog, in dem er zwar eine Aufklärung der Vorwürfe versprach, gleichzeitig aber keinen Zweifel darüber aufkommen ließ, dass er weiterhin an dem von vielen Medien gezeichneten Bild einer Menge gewaltbereiter Demonstranten, deren Zerstörungswut das Vorgehen der Polizei rechtfertige, festhält. Zu Beginn seiner Rede machte er sich in zynischer Weise über den Protest vieler Abgeordneter lustig, indem er diesen als einer ehemaligen Regierungskoalition unwürdig diskreditierte.

Indes waren die Vorwürfe, die in Zusammenhang mit der Stürmung der Diaz-Schule und des unabhängigen Pressezentrums erhoben wurden, so massiv geworden, dass selbst bürgerliche Zeitungen - allen voran "La Repubblica" - begannen, Zeugenaussagen zu veröffentlichen, die schockierende Zusammenhänge hinter dem gesamten Polizeieinsatz vermuten lassen. Ein anonym interviewter Polizist, der in der Kaserne von Bolzaneto in der Nähe von Genua seinen Dienst versieht, beschrieb detailliert, wie Einsatzkommandos der italienischen Justizwache (polizia penitenziaria) schon vor dem Gipfel einen Teil der Kaserne zu einem Gefängnis umfunktionierten. Dorthin wurden in der Nacht des Sturms auf die Schule und das Pressezentrum die Gefangenen gebracht, wo sie den Aussagen des Polizisten zufolge stundenlang mit dem Gesicht zur Wand stehen mussten, immer wieder geschlagen und bedroht wurden. Wer aufs Klo gehen wollte, musste durch einen Spalier gehen und seine Notdurft bei offenen Türen verrichten, andere mussten faschistische Lieder singen. Frauen wurden sexuell belästigt, mussten sich ausziehen und wurden mit der Androhung sexueller Gewalt eingeschüchtert. Die Fotos der gestürmten Gebäude mit den Blutspuren an den Wänden der Diaz-Schule sprechen eine ebenso deutliche Sprache. Etwa 20 Minuten lang prügelten die PolizistInnen ohne Hemmungen auf alle Anwesenden ein. Ungefähr 60 Menschen wurden auf Tragbahren aus der Schule getragen. Ein englischer Journalist, der sich wegen der Betreuung einer Internetseite in dem Medienzentrum aufgehalten hatte und an keiner einzigen der Demonstrationen selbst teilgenommen hatte, wurde von den Schlägen der Polizei so schwer verletzt, dass er einen Lungenriss erlitt. Er verdankt sein Überleben nach eigenen Angaben nur dem Umstand, dass ein in die Schule gekommener Arzt die Polizisten davon abhielt, ihn in die Kaserne zu überstellen und ihn sofort in ein Spital einliefern ließ.

Die Tatsache, dass diese Aktionen auch von Einheiten durchgeführt wurden, die für die Bewachung der Gefängnisse zuständig sind und die mit Kommandos des italienischen Geheimdienstes zusam-mengearbeitet haben sollen, wirft einige Fragen hinsichtlich des Zustands der Gewaltentrennung in Italien auf. Wie ist es möglich, dass diese Einheiten in den zivilen Raum eindringen und Zentren des Widerstands gegen den globalen Kapitalismus und dessen desaströse soziale Folgen verwüsten, die Subjekte dieses Widerstands verprügeln und in Polizeikasernen transportieren können, ohne dass die Festgenommenen die Möglichkeit haben, mit Anwälten zu sprechen oder rechtzeitig eine ärztliche Untersuchung in Anspruch zu nehmen?

Das hegemoniale Modell der liberalen westlichen Demokratien verwandelt sich immer mehr zu einem leeren Topos, der einen grundlegenden Zusammenhang verdeckt: Die Ausweitung der Märkte und der Abbau von transparenten Regulativen bewirken, dass der Zugang zu grundlegenden Rechten immer stärker denen vorbehalten bleibt, die über die ökonomischen Ressourcen und die geeigneten Netzwerke verfügen, ihre Rechte auch durchzusetzen. Diesen schwelenden Kriegszustand sollte man nicht außer Acht lassen, wenn man das Problem der Gewalt in politischen Auseinandersetzungen diskutiert. Seine institutionellen Voraussetzungen lassen sich am Beispiel Italiens einige Jahrzehnte zurückverfolgen.
Dort sind im Lauf der 70er Jahre eine Reihe von Gesetzen und Dekreten in Kraft getreten, die von vielen Kommentatoren und nicht zuletzt auch immer wieder von amnesty international scharf kritisiert wurden. Tatsächlich handelt es sich um Bestimmungen, die verfassungsmäßig garantierte Grundrechte einschränken und vor allem nach 1977 zu einem Klima der Denunziation führten, das nicht ohne Wirkung auf die italienische Justiz blieb. Es handelt sich dabei um die institutionelle Antwort auf die ökonomische und soziale Krise, die sich in den Massenprotesten der 77er-Bewegung artikulierte. Diese Proteste wurden von einem solchen Maß an Verzweiflung der Jugendlichen gegenüber ihren Lebensumständen getragen, dass sie vor allem im März 1977 in Bologna und Rom zu Unruhen und Aufständen führten, die unter Einsatz des Militärs und spezieller Polizeieinheiten niedergeschlagen wurden. In Bologna wurde, nachdem das Universitätsviertel von den Jgendlichen drei Tage lang besetzt worden war, im Zuge der Niederschlagung des Aufstandes auch die unabhängige Radiostation Radio Alice gestürmt. Der staatliche Kampf gegen den Terrorismus weitete sich dann zu einer Jagd auf autonome Gruppierungen und Intellektuelle aus, die aufgrund ihres politischen Engagements in den Arbeitskämpfen und in der 77er-Bewegung zunächst der "geistigen Mittäterschaft" des linksextremen Terrors bezichtigt wurden. Am 7. April 1979 wurden dann 140 Intellektuelle (unter ihnen der Philosoph Antonio Negri) festgenommen und als "Drahtzieher" der Roten Brigaden angeklagt. Die Prozesse zogen sich bis weit in die 80er Jahre, und obwohl man den Angeklagten im strengen Sinn nichts nachweisen konnte, wurden dennoch viele zu langen Strafen verurteilt.

Carlo Ginzburg, ein berühmter Historiker, hat in seinem Essay "Der Richter und Historiker" anlässlich des Prozesses gegen Adriano Sofri darauf hingewiesen, dass sich der Richter in den Verhandlungen immer wieder als "Historiker" betätigt hat. Aus widersprüchlichen Zeugenaussagen wurden Zusammenhänge konstruiert, die für die Urteilsfindung eines unabhängigen Gerichtes aufgrund des Mangels an Beweisen keine Bedeutung haben dürften. Diese Praxis wurde ebenfalls von Beobachtern der Verfahren gegen die Angeklagten des 7. April kritisiert und als inquisitorisch eingestuft. Der Historiker und Soziologe Sergio Bologna spricht deshalb von einer Stellvertreterfunktion der Justiz, die eine mangelnde politische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Kämpfen der 70er Jahre und der damit verbundenen Krise kompensieren sollte. Das Prinzip eines Prozesses, der fast ausschließlich auf der Glaubwürdigkeit von selbst belasteten Zeugen aufbaut (der so genannte pentitismo), wurde dann in den Mafia-Prozessen der 80er Jahre noch weiter ausgebaut.

Eine der Bestimmungen der "Legge Cossiga", eines Gesetzes aus dem Jahr 1980, das vor allem die "Vereinigung mit terroristischen Zielen und dem Zweck der Zerstörung der demokratischen Ordnung" unter Strafe stellte und die Basis des Prozesses gegen die Angeklagten des 7. April bildete, betrifft auch die am 22. Juli 2001 inhaftierten und am 14. August vorläufig entlassenen Mitglieder der VolxTheater-Karawane. Dieses Gesetz wurde von amnesty international schon im Jahresbericht von 1980 kritisiert, unter anderem deshalb, weil Festgenommene bis zu 96 Stunden ohne Konsultation eines Rechtsanwaltes festgehalten werden können. Den Mitgliedern der Karawane wird nach Artikel 416 des Codice penale "associazione per delinquere" (Vereinigung zu verbrecherischen Zwecken) vorge-worfen.

Die für ihr Lächeln bekannte österreichische Außenministerin Ferrero-Waldner weigerte sich anfangs, sich für die inhaftierten österreichischen Mitglieder der VolxTheaterKarawane auf diplomatischem Wege einzusetzen, wie dies etwa die deutschen Bundestagsabgeordneten Ströbele, Buntenbach und Lippmann getan hatten. Dass sie aus Akten des Innenministeriums über die Gefangenen zitierte und in einer Pressekonferenz behauptete, einige der Festgenommenen seien schon in Österreich durch die "Störung der öffentlichen Ordnung und Hausbesetzungen" aufgefallen, stellt eine Verletzung der Unschuldsvermutung und folglich eine Missachtung der Grundrechte der Betroffenen dar. Diese Ak-teneinträge waren, wie sich später herausstellte, in die Anklage der italienischen Justiz eingegangen, da sie von der österreichischen Polizei auf der Basis des so genannten "Polizeikooperationsgesetzes" an die italienischen Behörden weitergeleitet worden waren. An diesem Zusammenspiel von Behörden und MinsterInnen über nationalstaatliche Grenzen hinweg wurde deutlich, wie leicht es möglich ist, aufgrund von Datenbanken, die inquisitorischen Registern gleichen, welche jederzeit für politische Interessen eingesetzt werden können, öffentliche Denunziation und Kriminalisierung von Menschen mit politischen Anliegen zu betreiben.

Der Tatsache, dass die Ausnahmegesetzgebung jener Zeit und die Kontinuitäten in der Rechtsprechung eine offensichtliche Aushöhlung der Grundrechte darstellen, kommt in Bezug auf die Ereignisse um den Gipfel von Genua eine besondere Bedeutung zu. Die verschiedenen Gruppen und Initiativen, die sich im Zusammenhang des Protestes gegen die Folgen der so genannten Globalisierung herausgebildet haben, streben eine politische Auseinandersetzung an, die mit konkreten Inhalten verbunden ist. Von der Regulierung der Finanzmärkte zugunsten sozialer und ökologischer Belange über eine gerechte Verteilung der materiellen und symbolischen Ressourcen, die Forderung nach einer gerechten Migrations- und Asylpolitik bis zur Forderung nach garantierten Grundrechten unabhängig von Herkunft und Nationalität wurden in den letzten Jahren immer wieder Modelle entwickelt, um mit den RepräsentantInnen der reichsten Länder und den VertreterInnen der transnationalen Organisationen in Verhandlungen eintreten zu können. Das Ergebnis war die wiederholte Bekundung des Verständ-nisses für die Anliegen, zu der die in den Verhandlungen erzielten Kompromisse in einem krassen Gegensatz stehen. Die Inhalte, die von diesen Gruppen formuliert und vertreten werden, können in jedem Fall zur Basis von Verhandlungen und politischen Entscheidungsprozessen gemacht werden, die über Verträge, Abkommen oder Gesetze institutionalisiert werden können.

Wenn jedoch die Strategie der gewählten RepräsentantInnen auch auf internationaler Ebene darauf hinausläuft, die außerinstitutionellen Kämpfe zu kriminalisieren, indem AktivistInnen eingeschüchtert, Opfer polizeilicher Willkür und staatlich gedeckter Gewalt werden, dann stellt sich die Frage, ob nicht sie es sind, die ihr Mandat überschreiten und Mittel der politischen Auseinandersetzung ergreifen, die man nur unter dem Begriff Repression subsumieren kann. Neben den inhaltlichen Forderungen der so genannten GlobalisierungsgegnerInnen, die eine Massenbewegung darstellen und deshalb eine große innere Vielfalt aufweisen, geht es in der öffentlichen Diskussion immer mehr um die Frage, in welcher Form es noch möglich ist, diese Inhalte zu artikulieren. Die Konstruktion einer "internationalen Organisation" mit dem Namen "Black Block" stellt den Versuch dar, das Politische an den mannigfaltigen Artikulationsformen zum Verschwinden zu bringen. Dem absurden Versuch, der VolxTheaterKarawane, die sich bei vielen Gelegenheiten öffentlich zu ihrem Engagement geäußert hat, klandestine, kriminelle Motive zu unterstellen, muss deshalb mit öffentlichem Protest und jenem kritischen und historischen Bewusstsein begegnet werden, für das es keine Grenzen und deshalb auch keine Gefängnisse gibt: der Freiheit des Denkens.

[Der zweite Teil des Textes wurde zuerst veröffentlicht in: Falter 33/01, S.5f.]