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06 2007

Pathologien der Hyper-Expression

Franco Berardi aka Bifo

Übersetzt von Steffi Weiss, Beratung: Klaus Neundlinger

Unbehagen und Repression

Das antiautoritäre Denken des zwanzigsten Jahrhunderts wurde direkt oder indirekt durch die Freudsche Konzeption von Repression beeinflusst, die er in seiner Schrift Das Unbehagen der Kultur ausgearbeitet hat.

 „An dieser Stelle musste sich uns die Ähnlichkeit des Kulturprozesses mit der Libidoentwicklung des Einzelnen zuerst aufdrängen. Andere Triebe werden dazu veranlasst, die Bedingungen ihrer Befriedigung zu verschieben, auf andere Wege zu verlegen, was in den meisten Fällen mit der uns wohlbekannten Sublimierung (der Triebziele) zusammenfällt.  [...] ist es unmöglich zu übersehen, in welchem Ausmaß die Kultur auf Triebverzicht aufgebaut ist, wie sehr sie gerade die Nichtbefriedigung (Unterdrückung, Verdrängung oder sonst etwas?) von mächtigen Trieben zur Voraussetzung hat. Diese ‚Kulturversagung’ beherrscht das große Gebiet der sozialen Beziehungen der Menschen; wir wissen bereits, sie ist die Ursache der Feindseligkeit, gegen die alle Kulturen zu kämpfen haben“. (Gesammelte Werke XIV. London: Imago 1948, S. 457).


Freud zufolge ist Repression demnach ein unumstößliches, für soziale Beziehungen konstitutives Merkmal. Zwischen den Dreißiger- und den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts hat das kritische Denken in Europa vor allem die Frage nach der Beziehung zwischen der anthropologischen Dimension der Entfremdung und der historischen Möglichkeit der Befreiung gestellt. Die Position, die Sartre in der unmittelbar vom Freudschen Denken beeinflussten Schrift Kritik der dialektischen Vernunft (1964) darlegt, ergreift für den aus anthropologischer Sicht grundlegenden und somit unüberwindbaren Charakter der Entfremdung Partei. Im Gegensatz dazu betrachtet der historisch-dialektische Marxismus die Entfremdung als historisch bedingtes Phänomen, das folglich durch die Abschaffung der kapitalistisch geprägten sozialen Beziehungen überwindbar ist.

In seiner Abhandlung aus dem Jahr 1929 nimmt Freud die Linien dieser Diskussion vorweg und kritisiert die Naivität des dialektischen Denkens:

„Die Kommunisten glauben den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinem Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine Natur verdorben. [...] Wenn man das Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren Genuss teilnehmen lässt, werden Übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden. [...] Ich habe nicht mit der wirtschaftlichen Kritik des kommunistischen Systems zu tun, ich kann nicht untersuchen, ob die Abschaffung des privaten Eigentums zweckdienlich und vorteilhaft ist. Aber seine psychologische Voraussetzung vermag ich als haltlose Illusion zu erkennen.“ (S. 472f.)

Es geht mir in diesem Zusammenhang nicht darum, die Debatte zwischen Historizismus und Existenzialismus, oder diejenige zwischen Marxismus und Psychoanalyse wiederzueröffnen; dies ist Aufgabe der Philosophiehistoriker, die sich mit dem 20. Jahrhundert beschäftigen. Mein Anliegen besteht darin, auf die Existenz eines diesen konträren Positionen gemeinsamen philosophischen Rahmens, einer gemeinsamen analytischen Prämisse hinzuweisen, die sich in der Auffassung der modernen Zivilisation als eines auf Repression basierenden Systems begründet.

Laut Freud basiert der Kapitalismus – wie jedes kulturelle System – auf der notwendigen Verdrängung der individuellen Libido und auf der sublimierenden Organisation der kollektiven Libido. Diese Sichtweise wird nach Freud im Denken des 20. Jahrhunderts auf verschiedenste Art bekundet.

Aus der Sicht der Freudschen Psychoanalyse ist dieses Unbehagen konstitutiv und unüberwindbar, und die psychoanalytische Therapie schlägt uns vor, mittels der Sprache und durch Anamnese die neurotischen Formen, die dieses Unbehagen in uns erzeugt, zu heilen. Die philosophische Kultur existenzialistischer Ausrichtung teilt die Freudsche Überzeugung von der Unüberwindbarkeit des konstitutiven Charakters der Entfremdung und der Repression der libidinösen Triebe.

Im Umfeld des marxistischen und antiautoritären Denkens hingegen wird die Repression als eine gesellschaftlich bedingte Form betrachtet, die durch soziales Handeln beseitigt werden kann, indem die produktiven und begehrenden Energien, die wirklicher Antrieb der gesellschaftlichen Entwicklung sind, befreit werden.

In beiden philosophischen Szenarien spielt das Konzept der Repression jedenfalls eine wichtige Rolle, denn dieses Konzept erklärt sowohl die neurotischen Pathologien, mit denen sich die psychoanalytische Therapie auseinandersetzt, als auch den durch den Kapitalismus bedingten gesellschaftlichen Widerspruch, den die revolutionären Bewegungen aufheben wollen, um eine Überwindung der Ausbeutung und der Entfremdung zu ermöglichen.

„Es ist unmöglich, zu verkennen, in welchem Ausmaß die Kultur auf dem Triebverzicht errichtet ist, wie sehr die Nicht-Befriedigung (Unterdrückung, Verdrängung, usw.) mächtiger Triebe ihre Vorraussetzung darstellt.“

In den 60er und 70er Jahren bleibt das Konzept der Repression als Hintergrund jedes politischen Diskurses, in dessen Zentrum das Begehren steht, erhalten. Die politische Relevanz des Begehrens wurde immer als Gegensatz zu den Dispositiven der Repression betrachtet. Diese Auffassung hat sich oft als eine konzeptuelle und auch politische Falle erwiesen. Zum Beispiel hat die italienische 1977er Bewegung ab einem gewissen Punkt (nach den Verhaftungswellen, die den Aufständen im Februar und März gefolgt sind) am Kongress in Bologna im September beschlossen, die Repression ins Zentrum der politischen und theoretischen Auseinandersetzung zu stellen. Vielleicht war dies ein grundlegender Fehler: Indem wir das Thema der Repression zur wichtigsten Ebene des Diskurses gemacht haben, wurden wir vom Erzählstrom der Macht fortgetragen und haben die Fähigkeit verloren, in Bezug auf die Macht asymmetrische und unabhängige Lebensformen zu imaginieren.

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts jedoch scheint sich die gesamte Problematik der Repression aufzulösen und von der Bildfläche zu verschwinden.

Die Pathologien, die die Bühne unserer Zeit dominieren, sind eben nicht mehr die durch die Repression der Libido bedingten neurotischen Krankheiten, sondern vielmehr die durch den expressiven Ausbruch des just do it bedingten schizoiden Pathologien.

 
Struktur und Begehren

Das antiautoritäre Denken der 1970er Jahre bewegt sich innerhalb des Freudschen Horizonts, auch wenn es diesen erweitert und die ursprünglich mit ihm verbundenen historischen Perspektiven umkehrt. In Eros and Civilization (Triebstruktur und Gesellschaft) proklamiert Marcuse die tatsächliche Möglichkeit einer kollektiven Befreiung des Eros. Die Repression hält die Potenziale der Technologie und des Wissens nieder und verhindert so deren volle Entfaltung; die kritischen Subjektivitäten hingegen entwickeln ihre eigene Handlungsmacht, indem sie die volle Ausdruckskraft der produktiven und libidinalen Potenziale ausschöpfen und so die Bedingungen für ein gänzliches Realisieren des Lustprinzips schaffen.

Die Analyse der modernen Gesellschaft verflicht sich schließlich mit der Beschreibung der disziplinären Dispositive, über die sich die sozialen Institutionen und der öffentliche Diskurs auf repressive Weise herausbilden. Die kürzliche Veröffentlichung der Seminare des Jahres 1979 (im besonderen die Veröffentlichung des Seminars, das der „Geburt der Biopolitik“ gewidmet war) zwingt uns, den Schwerpunkt des Foucault’schen Denkens weg von der repressiven Disziplinierung hin zur Schaffung biopolitischer Kontrolldispositive zu verschieben; denn in seinen früheren Werken, die der Genealogie der Moderne gewidmet sind (insbesondere Wahnsinn und Gesellschaft, Die Geburt der Klinik, Überwachen und Strafen), bewegt sich Foucault auf seine Weise noch innerhalb des „repressiven“ Paradigmas.

Trotz der Aufgabe des Freudschen Denkrahmens, die der Anti-Ödipus offen zum Ausdruck bringt, bewegen sich auch Deleuze und Guattari innerhalb des von Freud in der Schrift Das Unbehagen der Kultur (1929) umrissenen problematischen Feldes: Das Begehren ist die treibende Kraft der Bewegung, die die Gesellschaft genauso durchzieht und bestimmt wie die Entwicklung der Singularität. Die begehrende Kreativität jedoch muss sich stets mit den Kriegsmaschinen repressiven Typs auseinandersetzen, mittels derer die kapitalistische Gesellschaft jede Nische der Existenz und der Vorstellungskraft bedrängt. Dem Konzept des Begehrens darf jedoch nicht durch eine Lesart „repressiven“ Typs seine Schärfe genommen werden. Vielmehr wird im Anti-Ödipus das Konzept des Begehrens dem des Mangels gegenübergestellt. Der Bereich des Mangels, auf dem die dialektische Philosophie aufbaute und mit dem die Politik des 20. Jahrhunderts ihr (Un)Glück schuf, ist das Feld der Abhängigkeit, nicht das der Autonomie. Der Mangel ist ein durch das Regime der Ökonomie, der Religion, der psychiatrischen Herrschaft determiniertes Produkt.

Die Prozesse der erotischen und politischen Subjektivierung können sich nicht auf dem Mangel gründen, sondern auf dem Begehren als Basis. Von diesem Gesichtspunkt aus ermöglichen es uns Deleuze und Guattari zu verstehen, dass die Repression nichts als eine Projektion des Begehrens ist. Das Begehren ist nicht Ausdruck einer Struktur, sondern es kann tausend Strukturen schaffen. Das Begehren kann die Strukturen kristallisieren, sie in obsessive Ritornelle umwandeln. Das Begehren schafft die Fallen, die das Begehren überlisten.

Auch im analytischen Dispositiv, das sich durch die Foucault’sche Genealogie und durch die Philosophie des Werdens von Deleuze und Guattari herausbildet, herrscht eine Auffassung von Subjektivität als Kraft des Wiederauftauchens von unterdrücktem Begehren gegen die repressive soziale Sublimierung vor. Eine antirepressive Sichtweise, oder vielmehr, wenn man so will, eine „expressive“ Sichtweise.

Die Beziehung zwischen Struktur und Begehren ist der Wendepunkt, der das schizoanalytische Denken Guattaris außerhalb des Bereichs des Freudschen Denkens von Lacan ansiedelt. Das Begehren kann nicht ausgehend von der Struktur verstanden werden, als eine mögliche Variante, die von der Unveränderbarkeit des psychischen Mathems abhängt. Das kreative Begehren produziert unendlich viele Strukturen, unter denen auch jene zu finden sind, die als Repressionsdispositive funktionieren.

 
In der Sphäre des Semiokapitals

Um jedoch aus dem Freudschen Denkrahmen auszubrechen, bedurfte es der Position von Jean Baudrillard, dessen Denken uns in jenen Jahren als abschreckend erschien. Jean Baudrillard entwirft einen gänzlich anderen Horizont: In seinen Werken der frühen 70er Jahre (Das System der Dinge, La société de consommation, Requiem für die Medien, und schließlich Oublier Foucault) vertritt Baudrillard die These, dass das Begehren der Motor der Kapitalentwicklung ist, dass die Ideologie der Befreiung der totalen Herrschaft der Ware entspricht, dass die neue Dimension des Imaginären nicht die der Repression, sondern die der Simulation, der Verbreitung von Simulakren und der Verführung ist.

Baudrillard hat im Übermaß der Ausdrucksformen den Wesenskern der Überdosis des Realen erkannt.

„Das Reale wächst wie die Wüste [...] Die Illusion, die Leidenschaft, die Droge, aber auch die List, das Simulakrum – alle waren sie die natürlichen Feinde der Realität. Wie von einer unheilbaren und heimtückischen Krankheit befallen, haben sie alle an Energie verloren.“ (J. Baudrillard: Die Intelligenz des Bösen. Wien: Passagen 2006, S. 22f.)

Baudrillard nimmt eine Tendenz vorweg, die im Laufe der Jahrzehnte vorherrschend geworden ist: In seiner Analyse der Simulation verändert sich die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, insofern das Subjekt in die subalterne Position dessen, der einer Verführung unterworfen wird, gezwungen wird. Nicht das Subjekt ist der Handelnde, sondern das Objekt. Infolgedessen löst sich die gesamte Problematik der Entfremdung, der Repression und des Unbehagens auf. In einer seiner letzten Schriften („Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“) scheint Deleuze das Denkmuster, das sich aus der Foucault’schen Auffassung von Disziplinierung herleitet, wieder in Frage zu stellen und in eine andere Richtung zu gehen: und zwar in diejenige, die Baudrillard seit Anfang der 70er Jahre vorgezeichnet hat. Was mich jedoch interessiert, ist das psychopathologische Szenario, das sich in den Jahren herausbildet, in denen sich die Industriegesellschaft sich ihrem Ende nähert und in den Semiokapitalismus übergeht, beziehungsweise in den Kapitalismus, der auf der immateriellen Arbeit und auf der Explosion der Infosphäre basiert.

Die Überproduktion ist eine inhärente Charakteristik der kapitalistischen Produktion, da die Warenproduktion nicht mit den konkreten Bedürfnissen der Menschen korrespondiert, sondern mit der abstrakten Logik der Wertproduktion. Aber in der Sphäre des Semiokapitalismus ist die spezifische sich manifestierende Überproduktion eine semiotische: ein unendlicher Überschuss an Zeichen zirkuliert in der Infosphäre, und die individuelle und kollektive Aufmerksamkeit wird dadurch mit Reizen überflutet.

Die Intuition Baudrillards hat sich retrospektiv betrachtet als wichtig erwiesen. Die vorherrschende Pathologie der Zukunft ist nicht Produkt der Repression, sondern des fremdbestimmten Antriebs zum Ausdruck, des verallgemeinerten Zwangs zum Ausdruck.

In der ersten videoelektronischen Generation scheinen sich tatsächlich Pathologien des Hyperausdrucks und nicht mehr Pathologien der Repression zu verbreiten.

Wenn wir uns mit den Leiden unserer Zeit, mit den Formen des Unbehagens der ersten vernetzten Generation beschäftigen, dann befinden wir uns nicht im konzeptuellen Rahmen, der von Freud in Das Unbehagen der Kultur beschrieben wird. Die Freudsche Denkweise nimmt das Verbergen als Basis der Krankheit an. Etwas wird uns verborgen, etwas verschwindet, etwas wird verdrängt. Etwas wird uns verboten.

Heute hingegen scheint es offensichtlich, dass als Basis der Krankheit nicht mehr das Verstecken, sondern die Hyper-Vision, der Überschuss an Sichtbarkeit, die Explosion der Infosphäre steht.

Nicht die Repression also, sondern die Hyper-Expressivität ist der technologische und anthropologische Kontext, innerhalb dessen wir die Genese zeitgenössischer Psychopathologien verstehen müssen: ADD (Attention Deficit Disorder - Aufmerksamkeitsdefizitstörung), Dyslexie und Panik. Pathologien, die einerseits auf eine andere Modalität der Verarbeitung des informativen Inputs hinweisen, die sich jedoch andererseits als Leiden, Unbehagen, Marginalisierung manifestieren.

Ich möchte hier anmerken, dass – auch wenn es vielleicht nicht nötig wäre – mein Diskurs nichts mit den reaktionären und bigotten Predigten über die Übel einer allzu permissiven Gesellschaft zu tun hat, und nichts mit nostalgischen Betrachtungen darüber, wie gut die Repression der vergangenen Zeiten dem Intellekt und den Sitten getan hat.

 
Pathologien der Expressivität

In der Einleitung eines Buches, das sich mit heutigen Formen von Psychopathologien auseinandersetzt (Civiltà e Disagio, herausgegeben von Cosenza, Recalcati, Villa), schreiben die Herausgeber Folgendes:

 „Mit diesem Buch wollten wir das Begriffspaar Unbehagen und Kultur im Licht der tiefgreifenden sozialen Veränderungen, die unsere Lebensweise erfasst haben, begrifflich neu fassen. Eine der bedeutendsten Transformationen ist die Verschiebung, die der vom gesellschaftlichen Über-Ich getragene Imperativ seit seiner ersten Fassung durch Freud durchgemacht hat. Während das Freudsche Über-Ich die Triebunterdrückung fordert, scheint das heutige den Ansporn zum Genießen als neuen sozialen Imperativ einzusetzen. Tatsächlich stehen heute die symptomatischen Formen des Unbehagens der Kultur in enger Beziehung zum Genießen. Sie sind wahre Praktiken des Genusses (Drogenmissbrauch, Bulimie, Adipositas, Alkoholismus), oder aber Ausdruck einer narzisstischen Verschlossenheit des Subjekts, die einen Stau im körperlichen Genießen produziert (Anorexien, Depressionen, Panik).“ (Civiltà e disagio (Kultur und Unbehagen), Bruno Mondadori, 2006)

Die vorherrschende soziale Psychopathologie, die Freud in der Neurose identifizierte und die er als Konsequenz der Verdrängung beschrieb, wird heute durch die Psychose abgelöst und hängt immer viel eher mit der Dimension des Handelns und des informativ-energetischen Überschusses zusammen als mit der Verdrängung. In seinen schizoanalytischen Arbeiten hat sich Guattari mit der Möglichkeit auseinandergesetzt, das gesamte Feld der Psychoanalyse neu zu definieren: und zwar ausgehend von einer Neudefinition der Beziehung zwischen Neurose und Psychose und von der methodologischen und epistemischen Zentralität der Schizophrenie. Diese Neudefinition hat große politische Auswirkungen gehabt und ist mit dem Ausbruch aus den neurotischen Grenzen zusammengefallen, die der Kapitalismus der Ausdrucksmöglichkeit setzte, indem er die Tätigkeit in die repressiven Grenzen der Arbeit zwang und das Begehren der disziplinierenden Verdrängung unterwarf.

Aber der schizomorphe Druck der Bewegungen und der expressive Ausbruch des Sozialen haben zu einer Metamorphose (Schizometamorphose) der sozialen Sprachen, der Produktivitätsformen, und in letzter Instanz der kapitalistischen Ausbeutung geführt. Die Psychopathien, die sich unter den ersten Generationen des vernetzten Zeitalters ausbreiten, sind in keiner Weise vom Gesichtspunkt des repressiven und disziplinären Paradigmas aus zu begreifen. Es handelt sich nämlich nicht um Pathologien der Verdrängung, sondern um Pathologien des just do it.

„Deshalb nimmt die Psychose eine so zentrale Stellung ein. Diese ist im Unterschied zur Neurose, welche eine Pathologie der symbolischen Ebene darstellt (da sie auf dem sprachlich-rhetorischen Charakter der Verdrängung und auf der normativen Basis des Ödipus-Komplexes gründet), immer eine Pathologie des Realen: sie ist nicht von der symbolischen Kastration beherrscht und demnach näher an der Wahrheit der Struktur (es ist tatsächlich unmöglich, das Reale des Genießens gänzlich zu symbolisieren).“ (Recalcati: La personalità borderline e la nuova clinica, in Civiltá e disagio, S. 4)

Und auch:

„Der Grund für die Zersplitterung der Identität verweist auf die Abwesenheit eines zur Identifikation geeigneten Zentrums, das es etwa dem neurotischen Subjekt erlaubt, mittels festgelegter Grenzen ein starkes Ich aufzubauen, das die Fähigkeit zur Integration der frühen Objektbeziehungen und der mit ihnen verbundenen Identifikationen mit einschließt.“ (Recalcati, op. Cit. S. 22).

Von einem semiopathologischen Gesichtspunkt aus kann die Schizophrenie als ein Überschuss des semiotischen Flusses hinsichtlich der möglichen Interpretationsleistung gesehen werden. Und wenn das Universum zu schnell zu laufen beginnt und zu viele Zeichen interpretiert werden wollen, dann kann unser Gehirn nicht mehr die Linien und die Punkte, die den Dingen Form geben, unterscheiden. Wir versuchen folglich, einen Sinn durch einen Prozess der Über-Inklusion, durch die Aufweichung der Grenzen der Bedeutung, zu erfassen.

„Wir wollen doch nichts anderes als ein wenig Ordnung, um uns vor dem Chaos zu schützen. Nichts ist schmerzvoller, furchteinflößender als ein sich selbst entgleitendes Denken, als fliehende Gedanken, die kaum in Ansätzen entworfen, schon wieder verschwinden, bereits angenagt vom Vergessen oder in andere hineingestürzt, die wir ebensowenig beherrschen. Dies sind unendliche Variabilitäten, deren Verschwinden und Erscheinen zusammenfallen. Dies sind unendliche Geschwindigkeiten, die mit der Bewegungslosigkeit des farblosen und stummen Nichts verschwimmen, das sie durchqueren, ohne Natur oder Denken.“  (Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie? Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996, S. 238)

 
Semiotik der Schizophrenie

Ein Zeichenregime kann als repressiv definiert werden, wenn in ihm jeder Signifikant einem Signifikat zugeschrieben wird, und zwar nur einem einzigen. Wehe dem, der nicht in der richtigen Weise die Zeichen der Macht interpretiert, wer nicht die Fahne grüßt, wer dem Vorgesetzten keinen Respekt zollt, wer das Gesetz übertritt. Aber das Zeichenregime, in dem wir uns heute befinden, wir BewohnerInnen des semiokapitalistischen Universums, ist durch einen Exzess an Geschwindigkeit der Signifikanten charakterisiert und stimuliert eine Art interpretativer Hyperkinese.

Die Over-Inclusion, die der schizophrenen Interpretation eigen ist, wird zur vorherrschenden Modalität des Navigierens in einem von videoelektronischen Medien wuchernden Universum.

Im Kapitel „Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie“ definiert Bateson die schizophrene Interpretation(sleistung) folgendermaßen:

„Der Schizophrene zeigt eine Schwäche in drei Bereichen dieser Funktion: (a) Er hat Schwierigkeiten, den Mitteilungen, die er von anderen Personen empfängt, den richtigen Kommunikationsmodus zuzuweisen. (b) Er hat Schwierigkeiten, denjenigen Mitteilungen, die er selbst nonverbal äußert oder aussendet, den richtigen Kommunikationsmodus zuzuordnen. (c) Er hat Schwierigkeiten, seinen eigenen Gedanken, Sinneseindrücken und Wahrnehmungsgegenständen den richtigen Kommunikationsmodus beizulegen.“ („Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie“. In: Ökologie des Geistes. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 270-301, hier S. 274).

In der videoelektronischen Infosphäre befinden wir uns alle unter den Bedingungen, die die schizophrene Kommunikation kennzeichnen. Insofern der Mensch als Empfänger von Informationen mit signifikanten Impulsen überhäuft wird und in Folge unfähig ist, das Signifikat der Aussagen und der Reize zu erarbeiten, leidet er an den drei Schwierigkeiten, von denen Bateson schreibt. Zudem gilt es eine weitere Besonderheit des Schizophrenen in Betracht zu ziehen, die ebenfalls von Bateson beschrieben wird: die Unfähigkeit, zwischen metaphorischem und wörtlichem Sinn zu unterscheiden.

„Die Besonderheit des Schizophrenen besteht nicht darin, dass er Metaphern benutzt, sondern darin, dass seine Metaphern nicht etikettiert sind.“ (Bateson, S. 275)

Im Universum der digitalen Simulation jedoch sind die Metapher und die Sache selbst immer weniger unterscheidbar, das Ding wird zur Metapher und die Metapher zum Ding, die Repräsentation nimmt die Stelle des Lebens ein und das Leben die Stelle der Repräsentation. Der semiotische Fluss und die Warenzirkulation überschreiben ihre Codes und beginnen Teil der selben Konstellation zu werden, die Baudrillard als Hyperrealität definiert. So wird das schizophrene Register zur vorherrschenden Art der Interpretation. Das kollektive kognitive System büßt die kritische Kompetenz ein, die in der Fähigkeit bestand, den Wert der Wahrheit oder Falschheit von Aussagesequenzen bei durchschnittlich wacher Aufmerksamkeit zu unterscheiden. Im von schnellen Medien überwucherten Universum wird die Interpretation nicht mittels Reihen aufeinanderfolgender Aussagen, sondern mittels assoziativer Spiralen und a-signifikanten Verbindungen vollzogen.

 
Interpretation unter den Bedingungen der Überreizung

In einem Aufsatz mit dem Titel „Learner based listening and technological authenticity“ untersucht Richard Robin, ein Wissenschaftler der George Washington University, die Effekte, die die Beschleunigung des Redeflusses auf das Verständnis der Hörer hat.

Robin basiert seine Forschung auf der Berechnung der Anzahl an Silben, die pro Sekunde vom Sender ausgesandt werden. Je mehr der Redefluss sich beschleunigt, je höher die Anzahl der ausgesprochenen Silben pro Sekunde liegt, desto geringer ist die Verständnisleistung von Seiten des Hörers hinsichtlich der Bedeutung des Gehörten. Je schneller der Silbenfluss pro Sekunde ist, umso geringer ist die Zeit, die der Hörer für eine kritische Verarbeitung der Nachricht zur Verfügung hat. Die Sprechgeschwindigkeit und die Anzahl semiotischer Impulse, die in einer Zeiteinheit gesandt werden, stehen in einer bestimmten, funktionellen Relation zur verfügbaren Zeit für eine bewusste Verarbeitung von Seiten des Empfängers.

„Die Geschwindigkeit der Lautabfolge wirkt auf die ZuhörerInnen einschüchternd. Es gibt Beweise für den Umstand, dass die Globalisierung in Gebieten, in denen die westlichen Kommunikationsstile die autoritären Stile abgelöst haben, generell eine schnellere Sprechgeschwindigkeit bewirkt haben. In der Ex-UdSSR zum Beispiel hat sich die Silbenzahl pro Sekunde laut Messungen nach dem Fall des kommunistischen Regimes verdoppelt: von drei Silben auf fast sechs. Im Nahen Osten und in China haben ähnliche Vergleichsstudien zu denselben Ergebnissen geführt.“ (Robin, R. (1991): „Russian-language listening comprehension: where are we going? where do we go?“, Slavic and East European Journal, 35(3), 403-410).

Diese Beobachtungen von Robin enthalten ausgesprochen interessante Implikationen, um den Übergang einer autoritären Form der Macht überzeugenden Typs (wie es die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts waren) zu einer biopolitischen Form der alles durchdringenden Macht (wie der aktuellen Infokratie): Erstere sind auf dem Konsens aufgebaut: Die BürgerInnen müssen die Beweggründe des Präsidenten, des Generals, des Führers, des Sekretärs oder des duce verstehen. Nur eine einzige Informationsquelle ist autorisiert. Dissidente Stimmen unterliegen der Zensur.

Das infokratische Regime des Semiokapitals hingegen gründet seine Macht auf Reizüberflutung, beschleunigt die semiotischen Flüsse, lässt die Informationsquellen solange wuchern, bis diese in das weiße Rauschen des Ununterscheidbaren, des Irrelevanten, des Undechiffrierbaren übergehen.

Die Kunst des 20. Jahrhunderts hat sich als Fluss des Begehrens vorgestellt, als befreiende Expressivität. Der Surrealismus feiert die Macht des Ausdrucks des Unbewussten als befreiende Kraft der sozialen und psychischen Energien. Aber in unserer Zeit ist die Kunst (die Produktion semiotischer Artefakte) zum Strom der Verunreinigung der Psychosphäre geworden. Gleichzeitig ist die Kunst auch Therapiefluss der mentalen Ökologie. Die Kunst hat die Stelle der Polizei im universalen Dispositiv der geistigen Vorherrschaft eingenommen. Aber zur gleichen Zeit sucht sie nach Wegen der Therapie.

Während in der Gesellschaft der ersten Moderne die vorherrschende Pathologie epidemischen Ausmaßes die durch Repression verursachte Neurose war, so haben die heute sich epidemisch ausbreitenden Pathologien psychotisch-panischen Charakter. Die Überflutung der Aufmerksamkeit mit Reizen reduziert die Fähigkeit zur kritischen schlussfolgernden Interpretation, aber reduziert auch die verfügbare Zeit für die emotionale Auseinandersetzung mit dem Anderen, mit dem Körper des Anderen und dem Diskurs des Anderen, der verstanden werden möchte, ohne dazu von sich aus imstande zu sein.