10 2014
Ein Tag ist so lange wie ein Jahr
Faraz Gondal ist ein zwanzigjähriger Geflüchteter, der acht Monate in U-Haft verbracht hat.
Ich war acht Monate lang in Österreich in Untersuchungshaft. Die Zelle war wie ein Grab, wie wenn man tot ist. Dort, wo wir sitzen und essen, dort scheißen wir auch. In den großen Zellen sind vier Leute, ich war aber immer in einer Zelle für zwei Leute. Das war auch schlecht, 24 Stunden kannst du nicht immer mit einem reden, kannst du nicht immer das gleiche Gesicht sehen.
Eine Stunde pro Tag durften wir spazieren gehen, im Kreis im Hof. Das war nicht sehr groß, aber es war gut. Wenn du 23 Stunden in der Zelle bist, ist das ein gutes Gefühl, die frische Luft.
Wenn wir alle zum Spaziergang gegangen sind, dann durften wir mit den anderen sprechen. Aber wenn wir am Fenster gesprochen haben, ist die Wache gekommen und hat gesagt, das ist verboten. Einmal habe ich mit jemandem geredet, der unter mir in der Zelle war. Dort war eine Kamera und die hat uns aufgenommen und dann ist die Wache gekommen und hat gesagt, dass das verboten ist. Das verstehe ich nicht, warum das verboten ist, wenn jemand allein in der Zelle ist und es geht ihm schlecht und er möchte mit jemandem reden. Wenn man dreimal dabei erwischt wird, dass man am Fenster geredet hat, dann wird man bestraft.
Ganz selten war das Essen gut, aber fast immer war es ganz schlecht. Das Brot war wie Holz – wenn man jemandem damit auf den Kopf schlägt, kann er sterben. Einmal war ein alter Mann mit mir in der Zelle, der hatte keine Zähne, der hat das Brot in Wasser gelegt, damit er es essen kann.
Einkaufen ist dort auch ganz schlecht. Draußen kann ich billig einkaufen, dort gibt es das Gleiche wie draußen, aber es hat den doppelten Preis. Weil die Leute dort ein Geschäft machen wollen. Und weil sie wissen, dass wir das kaufen müssen, egal, wie teuer es ist. Das wird nicht kontrolliert, das macht die Polizei ja selbst.
Alle im Gefängnis haben solche Gefühle
Ich hatte oft Pech mit den Zellenkollegen, ich habe auch mit kranken Leuten dort gewohnt. Ein Junge war dort mit mir, er war aus Albanien, er hat jemanden umgebracht. Er war schon vorher zehn Jahre lang im Gefängnis, er war nicht normal. Ich habe mit ihm zweieinhalb bis drei Monate lang gelebt.
Und dann habe ich die Zelle gewechselt und habe mit einem türkischen Jungen gelebt, der war noch mehr krank als der andere. Er war drogensüchtig und Alkoholiker. Aber das habe ich nur von anderen gehört, ich habe ihn nie gefragt, was er macht. Aber einmal war meine Geduld zu Ende und dann haben wir gestritten. Aber wir haben uns nicht geschlagen. Dann habe ich die Wache gerufen und bin in eine andere Zelle gekommen.
Einmal war ich mit einem Jungen in der Zelle, der nur arabisch gesprochen hat, ich kann nicht arabisch. Wir haben mit Körpersprache geredet. Wir haben viel Stress gehabt, weil wir nicht sprechen konnten. Er war zwei Wochen mit mir, dann habe ich zum Beamten gesagt, wir verstehen einander nicht, wir haben viel Stress. Dann ist einer gekommen, der deutsch gesprochen hat.
Einen Monat lang war ich ganz allein in meiner Zelle. Allein sein ist nicht schlecht, aber es ist auch nicht gut. Man hat immer Angst und denkt nach, was passieren kann. Wenn jemand anderer da ist und man im Gefängnis Stress hat, dann kann man reden – und dann geht der Stress aus dem Kopf.
Die Psychologin ist jede Woche zu mir gekommen und ich habe ihr gesagt, dass ich so viel nachdenke und dass ich mich umbringen will. Dann hat mich die Psychologin nicht mehr allein in einer Zelle gelassen. Wenn man allein in einer Zelle ist, kann man alles machen, auch sterben.
Alle im Gefängnis haben solche Gefühle, nicht nur ich. Ich habe einen algerischen Jungen gesehen, der hat sich geschnitten, an der Brust, am Arm, aber auch am Kopf. Und ein paar Tage danach haben ihn die Wachen geschlagen.
Mit den Österreichern machen sie das nicht
Ich habe zum ersten Mal gesehen, wie schlecht die Polizei ist. In meinem Land ist die Polizei auch ganz schlecht, aber sie schlägt dich nicht ins Gesicht, von hinten ja, aber nicht ins Gesicht und sie treten nicht mit den Füßen oder boxen. Hier ist die Polizei ganz rassistisch, hat kein Herz.
Mit den Österreichern machen sie das nicht. Die Österreicher haben nicht mit uns gewohnt. Die Österreicher haben eine Spezialzelle, mit einem guten Fernseher, alles gut. Dort, wo ich gewohnt habe, waren nur Ausländer, keine Österreicher.
Diese acht Monate im Gefängnis, das war kein Leben. Das war eine Strafe, es war ganz schlecht. Ich war in U-Haft. Normalerweise haben Leute in der U-Haft viele Möglichkeiten, Sport und so. Dort gab es auch viele Möglichkeiten, man kann Fußball spielen, Sport machen. Wir haben immer gefragt, aber in sieben Monaten konnte ich nur einmal Sport machen.
Auf der anderen Seite haben Österreicher gewohnt, in einem Stock Männer, in einem Stock Frauen und in einem Stock die Kranken. Diese Leute gehen immer spazieren und zum Sport. Aber für uns in der U-Haft war gar nichts.
Die Polizisten waren Rassisten, sie haben immer geschimpft, als wären wir ihre Feinde. Sie haben über uns gelacht. Nicht alle, aber viele – nur zwei oder drei Polizisten waren gut.
Mit einem habe ich manchmal geredet, er hat schon lange dort gearbeitet, aber die meisten anderen waren neu. Das waren die Rassisten. Der alte Polizist hat gesagt, die Leute haben ein Problem, sie kommen herein und irgendwann gehen sie wieder raus. Unsere Aufgabe ist es nur, das Essen zu verteilen und die Tür auf- und zuzusperren. Es ist nicht unsere Arbeit zu schimpfen.
Meine Familie hat gedacht, ich bin gestorben
Acht Monate lang habe ich nicht mit meiner Familie gesprochen. Acht Monate lang habe ich nicht die Stimme meiner Mutter oder meines Vaters gehört, von niemandem. Das war schlecht für mich, aber es war auch ganz schlecht für die Familie, wenn der Sohn acht Monate lang im Gefängnis ist und Vater und Mutter können seine Stimme nicht hören. Als ich ins Gefängnis gekommen bin und mich anderthalb Monate nicht melden konnte, hat meine Familie gedacht, dass ich vielleicht gestorben bin. Weil es keinen Kontakt gab und niemand hier konnte meine Familie informieren, niemand hier kennt meine Familie. Dann hat mich eine Freundin besucht und ich habe ihr die Nummer meiner Familie aufgeschrieben. Dann hat sie mit meiner Familie geredet. Dann war meine Familie ruhiger, weil sie gehört hat, dass ich okay bin. Sie wollten auch helfen, aber was können sie tun – sie sind dort und ich bin hier.
Nachdem sie mich frei gelassen haben, habe ich mit meiner Mutter und meinem Vater geredet und sie haben geweint und haben gesagt, komm zurück. Aber ich kann nicht zurückgehen, ich habe dort Probleme.
Vielleicht hätte er weitergelebt
Dort ist ein Mann gestorben, ich glaube, das war an einem Sonntag. Er war vielleicht 30 oder 31 Jahre alt. Er war auch Ausländer. Als ich gehört habe, dass er gestorben ist, habe ich gefragt, wer mit ihm in der Zelle war. Und der hat mir erzählt, dass der Mann die ganze Nacht Schmerzen hatte und er hat immer die Wachen gerufen, aber sie sind nicht gekommen. Sie haben gesagt, wir kommen, aber sie sind nicht gekommen. Er hat alle zehn oder fünfzehn Minuten gerufen, aber die Wachen haben immer gesagt, du musst noch warten. Die ganze Nacht hat er gerufen und sie sind nicht gekommen.
Vielleicht hätte er weitergelebt, wenn die Wachen gekommen wären. Wenn jemand sterben muss, muss er sterben. Aber vielleicht hätte er weiterleben können, wenn er Hilfe bekommen hätte.
Mir ist auch einmal etwas passiert. Ich war am Gang, wir wollten rausgehen zum Spaziergang. Von 24 Stunden darfst du eine Stunde hinaus zum Spazieren. Ich habe geraucht. Und einer von der Wache ist gekommen und hat gesagt, du darfst hier nicht rauchen. Er hat aber geraucht. Und ich habe gesagt: Warum, was ist los? Du bist ein Mensch und ich bin ein Mensch. Wenn du hier rauchst, rauche ich auch hier. Er hat gesagt: Warte hier! Dann sind alle zum Spazieren hinausgegangen und ich wollte auch gerne hinausgehen. Aber die Wachen haben mich in eine Zelle gebracht und dort haben sie mich geschlagen. Das waren drei Wachen, einer hat mich mit der Faust auf den Kopf geschlagen, dann war ich am Boden, dann hat er mich mit dem Fuß in die Rippen getreten. Ich habe geweint, aber das war den Wachen scheißegal, sie haben mich weiter und weiter geschlagen. Und dann haben sie mich in meine Zelle geschmissen, wie einen Hund. Und ich war dort zehn oder fünfzehn Minuten allein und habe geweint und geweint. Ich war ganz hilflos, ich konnte nichts tun.
Dann ist mein Zimmerkollege gekommen, der war älter als ich. Ich hatte eine große Beule auf dem Kopf. Er hat mir dann ein Handtuch mit heißem Wasser gegeben und immer wieder Wasser darauf gegeben. Aber ich hatte starke Schmerzen an den Rippen. Ich habe in der Nacht nach dem Arzt geschrien, aber der Arzt ist nicht gekommen. Der Arzt kommt nur am Montag, für normale Kontrollen. Und am Mittwoch kommt der Zahnarzt. Wenn jemand am Dienstag oder am Donnerstag oder am Freitag ein Problem hat, kommt kein Arzt. Vier bis fünf Tage ist es mir ganz schlecht gegangen.
Einmal habe ich mit einem Jungen gewohnt, 14 Tage lang, der ist letzte Woche gestorben. Er war jünger als ich, er war 19. Er hat mir seine Geschichte erzählt. Vor 15 Jahren ist seine Mutter von ihm weggegangen, da war er vier oder fünf Jahre alt. Dann hat er immer mit seinem Vater gewohnt. Der Vater war Türke. Dann hat der Vater eine Frau aus Polen geheiratet. Und er hatte immer Probleme mit der Stiefmutter, weil die ihn nicht geliebt hat. Und wegen der Stiefmutter hat der Vater ihn von zu Hause weggeschickt. Das war vor acht Jahren, da war er 11 Jahre alt. Und dann hat er in einem Heim gewohnt. Fünf Jahre lang hat er dort gewohnt. Er wollte immer zu seinem Vater, aber wenn er zu ihm gegangen ist, hat der Vater gesagt, geh weg von mir.
Und dann hat ihn die Organisation, der das Heim gehörte, nach Namibia geschickt. Dort war er drei Jahre, um zu sehen, wie die Leute dort leben, wie alles dort so ist. Und nach drei Jahren ist er nach Österreich zurückgekommen und hat immer Probleme gehabt. Er war schon das fünfte Mal im Gefängnis. Einmal war er sechs Monate, einmal zwei Monate …
Und er hat mir gesagt, immer, wenn er ins Gefängnis musste, wollte er sich umbringen. Ich habe gesagt: Du bist sehr jung, wie kannst du das machen? Er hat gesagt: Wenn du zwei oder drei Jahre bekommst, bringst du dich auch um. Ich habe gesagt: Ja, vielleicht, wenn ich so eine lange Strafe bekomme, dann mache ich das vielleicht. Aber wenn ich nur fünf oder sechs Monate bekomme, dann mache ich so eine Scheiße nicht. Aber er hat gesagt, er bringt sich um, wenn er fünf Monate bekommt. Er hat das immer wieder gesagt, wenn sie ihn nicht rauslassen, bringt er sich um.
Meine Verhandlung war früher und ich bin rausgekommen. Ihn ist niemand besuchen gekommen, keine Freunde. Er hatte auch eine Freundin und auch ein Kind mit diesem Mädchen. Er hat mir die Nummer von dem Mädchen aufgeschrieben und hat gesagt, bitte, wenn du rausgehst, ruf sie an und sag ihr, sie soll mich bitte besuchen.
Aber ich habe vergessen, dass ich die Nummer habe. Und ich bin vier Tage später rausgekommen und dann war er allein in der Zelle. Davor waren wir zu zweit, aber dann war er immer allein. Und ein Mann hat mir gesagt, ein Junge ist dort gestorben. Er hat den Namen gesagt, aber ich habe den Namen nicht im Kopf gehabt. Aber dann habe ich den Zettel wieder gesehen, auf den hat er seinen Namen geschrieben und auch den Namen seiner Freundin. Und ich habe den Namen von diesem Jungen gesehen und dann war ich fertig, das war ein Schock für mich. Er war so jung und wir haben so viel geredet und so viel gelacht. Er war ein sehr lustiger Junge und hatte ein schönes Herz. Er hat mir auch gesagt, wenn wir rauskommen, gehen wir fort, dann haben wir viel Spaß. Er hat mir auch seine Nummer gegeben und seinen Facebook-Namen. Ich habe nicht gewusst, dass ich ihn nie mehr in meinem Leben sehen werde.
Das war meine Schule
Als ich ins Gefängnis gekommen bin, konnte ich gar kein Deutsch, nur Englisch. Aber acht Monate lang habe ich im Gefängnis immer ferngesehen und so habe ich deutsch gelernt. Ich habe auch den Beamten gefragt, ob ich zum Deutschkurs gehen kann; dort hat es zweimal in der Woche einen Deutschkurs gegeben. Ich habe oft geschrieben, bitte, kann ich zum Deutschkurs gehen. Auch den Arzt habe ich gefragt. Aber ich durfte nicht gehen. Dann habe ich allein gelernt, niemand hat mir geholfen. Ich habe nur vom Hören gelernt. Als ich herausgekommen bin, haben alle gefragt, wie ich deutsch gelernt habe. Ich habe gesagt, das war meine Schule, acht Monate im Gefängnis.
Im ersten Monat konnte ich nicht deutsch sprechen. Wenn ich ein Problem hatte, habe ich geklingelt und englisch mit den Wachen gesprochen. Aber sie haben immer gesagt, wir sind hier nicht in England oder Australien, hier ist Österreich, hier musst du deutsch sprechen. Wenn ich etwas gesagt habe, haben die Beamten gesagt, wir verstehen dich nicht. Aber normalerweise versteht jeder hier englisch. Aber die Beamten waren Rassisten und wollten nicht englisch sprechen, wollten keine Arbeit haben, wollten nur seine Ruhe haben. Es ist ihnen alles egal, auch wenn jemand stirbt.
Vielleicht hätte ich nicht deutsch gelernt, wenn die Beamten nicht immer gesagt hätten, dass ich deutsch sprechen muss, weil das hier ein deutsches Land ist. Aber was macht jemand, der neu hier ist und nicht deutsch spricht? Dann muss er doch englisch sprechen. Wenn jemand lange in Österreich gelebt hat, ist es egal, dann kann er deutsch sprechen. Aber wenn jemand neu ist wie ich – ich war gerade sechs oder sieben Monate in Österreich.
Zweimal im Monat hat mich jemand besucht. Ich habe hier keine Familie und ich kenne hier nicht viele Leute. Aber diese Leute waren sehr herzlich mit uns, sie sind gekommen, haben gefragt, was wir brauchen und das gebracht.
Einmal ist eine Freundin gekommen und da musste ein Beamter mithören. Da war kein Beamter dort, der englisch versteht. Ich glaube das aber nicht, aber sie haben das gesagt. Und sie ist aus Wien nach Wiener Neustadt gefahren und die Beamten haben ihr gesagt, dass sie mich nicht besuchen darf. Dann ist sie zurück nach Wien gefahren und hat mir einen Brief geschrieben, dass sie da war, aber nicht zu mir durfte.
Zuerst habe ich mit manchen Leuten im Gefängnis englisch gesprochen, aber dann habe ich nur mehr deutsch gesprochen. Ich habe gesagt, ich verstehe kein englisch, ich verstehe nur deutsch. Aber ich habe kein deutsch verstanden, ich habe das nur gesagt, damit ich besser verstehen kann. Und dann habe ich Wörter aufgeschrieben, damit ich sie nicht vergesse. Aber was ich im Fernsehen gehört habe, konnte ich nicht aufschreiben, weil sie dort so schnell sprechen. Und ich kann nicht gut deutsch schreiben.
Für uns gibt es keine Gerechtigkeit
Draußen geht ein Tag ganz schnell vorbei. Aber wenn jemand im Gefängnis ist, ist ein Tag dort so lang wie ein Jahr, weil man immer denkt. Ein Tag ist sehr lang. Ich war acht Monate lang dort und ich dachte manchmal, ich bin nur diese acht Monate lang auf der Welt. Ich konnte mich an nichts vorher erinnern. Wenn man so viel denkt, vergeht die Zeit schwer. Ich habe immer gedacht, die Uhr ist stehen geblieben. Draußen läuft der Zeiger, aber im Gefängnis bleibt er stehen.
Dort steht immer „justice“, aber für uns gibt es keine Gerechtigkeit, nur für die Polizisten oder die Richter. Vielleicht auch für Österreicher, aber für Ausländer nicht, das steht nur dort.