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10 2014

Wir nennen das Gefängnis "Schule"

Simon S. im Gespräch mit Simo Kader

Simo Kader | Simon S.

Übersetzt aus dem Englischen und dem Französischen von Birgit Mennel

Simon S. verbrachte rund 2 Jahre in österreichischen Gefängnissen. Simo Kader hat insgesamt rund 6 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht. Beide verdanken diese Erfahrung vor allem ihrem unverfestigten Aufenthalt und horrenden Verurteilungen aufgrund geringfügiger Delikte. 

Kannst du mir von Deinen Erfahrungen im Gefängnis erzählen sowie davon, was Dich dorthin gebracht hat? Haben diese Erfahrungen dein Leben verändert?

Beginnen wir mal mit dem „Warum“: Ich bin nach Österreich gekommen und musste schauen, dass ich irgendwie über die Runden komme. Die entmutigenden Erfahrungen mit den verschiedenen Büros, in denen ich war, ließen mich spüren, dass es unmöglich war, die Pläne, die ich für mein Leben hatte, erfolgreich umzusetzen. Ich musste also nach dem einfachsten Weg suchen, um meinem Leben einen Sinn zu geben, das heißt, ich nahm mir, so wie alle anderen auch, vor, Geld zu verdienen und wieder abzuhauen, nach Afrika zurückkehren. Ich wollte einfach sein, wie alle anderen, das heißt, mein eigenes Geld haben und selbst Entscheidungen treffen. Darum habe ich mich in das spezifische Verbrechen verstrickt, das mich schließlich ins Gefängnis gebracht hat.

Glaubst Du, dass alle Fremden, dass alle – und ich spreche jetzt vor allem von der afrikanischen Mentalität, weil wir beide Afrikaner sind – dasselbe erlebt haben wie Du? Oder hältst Du es für möglich, dass es auch solche gibt, die hierher kommen und rasch eine Zukunft und Möglichkeiten haben?

Ich glaube nicht, dass wir afrikanischen Migrant_innen alle dieselbe Mentalität haben. Wir erwarten uns doch Unterschiedliches vom Leben. Manche sind schon, ehe sie hierher gekommen sind, auf einen Deal eingestiegen, der ihnen eine Menge Geld bescheren soll. Dann gibt es die, die einfach kommen, um zu sehen, was im Leben geht und wie sie weiterkommen können. Andere wiederum wissen gar nicht, was sie wollen. Manche kommen aufgrund ihrer Involvierung in kulturelle Aktivitäten, andere wegen diplomatischer Beziehungen, dann gibt es welche, die aus Gründen des Sports hier sind, und manche schließlich stranden hier wegen Prostitution oder Drogenhandel, wobei Letzteres in erster Linie Männer betrifft. Was in Europa aus dir wird, entscheidet sich im Grunde mit den ersten Leuten, mit denen du bei deiner Ankunft sprichst.

Auf mich trifft nichts von alledem zu. Ich bin nach Europa gekommen und gar nichts hat so funktioniert wie ich mir das vorgestellt hatte. Aus gewissen Gründen musste ich aus der Schweiz nach Wien reisen und als hier angekommen bin, habe ich festgestellt, dass das, was ich eigentlich wollte, für mich so nicht gangbar war. Unter diesen Bedingungen war es mir nicht länger möglich, ein sauberes Leben zu führen, das heißt, mich in nichts Kriminelles zu verstricken und nur von der Grundversorgung zu leben, die damals 39 Euro pro Woche betrug. Also haben mich einige Freunde ins Leben auf der Straße eingeführt.

Ich hatte aber auch andere Optionen, nämlich entweder in der U-Bahn den Augustin zu verkaufen, oder einfach eine Frau mit genügend Geld zu finden und ihr Lustknabe zu sein. So hätte ich kalkulieren können, wie ich mir meinen Aufenthaltstitel kaufen kann. Ich dachte also: „Um selbst meinen Mann zu stehen und Entscheidungen treffen zu können, muss ich mein eigenes Geld verdienen.“ Alle Optionen haben etwas für sich, weil du zumindest genügend Geld für den Tag hast und keine Steuern zahlen musst, aber die Leute steigen ins Straßenbusiness ein, um rasches Geld zu machen. Man sagt: Who can do the crime, can also do the time, das heißt, wer etwas Kriminelles tun kann, kann auch die Zeit dafür absitzen. Und jeder, der sich ins Straßenbusiness involviert, weiß, dass eines Tages die Dunkelheit hereinbrechen wird. Das hat schließlich auch mich ins Gefängnis gebracht.

Das Gefängnis hat sich in vielerlei Hinsicht negativ auf mich ausgewirkt. Ich habe eine Menge Dinge verloren: vor allem Besitz und Geld. Es hat meine Zukunft in einer Weise umstrukturiert, dir mir bis heute noch zu schaffen macht. Ich bin immer noch damit beschäftigt, meine Fehler von damals auszubügeln und wiederzubekommen, was mir genommen wurde.

Wir nennen das Gefängnis „Weißes Haus“ oder „Schule“. Die Leute lernen dort, stark zu sein und ihrem Leben eine neue Richtung zu geben. Sie lernen auch dazu, was die Vergehen angeht, derentwegen sie sitzen, sodass sie, wenn sie rauskommen, diese besser und sicherer begehen können. „Weißes Haus“ wird das Gefängnis darum genannt, weil man keine Rechte hat und nichts fordern kann. Es ist ein Haus voll mächtiger Leute, zu denen man nicht aufschauen und denen man schon gar nicht in die Augen schauen kann. Man hat zu gehorchen, das ist alles.

Und vor allem ist da das Problem des Verlusts! Du verlierst Zeit und wirst zudem für immer vom Gefängnis gezeichnet. Diese Narben bleiben dir erhalten …

Ja, genauso ist es, diese Wunden heilen nicht rasch. Sie verfolgen dich so lange du lebst. Man bleibt auf irgendwie immer ein bisschen eingesperrt, wenn man einmal drinnen war. Das Gefängnis ist auch eine Struktur, die errichtet wurde, um das Denken all jener zu bekämpfen, die etwas getan haben, wofür sie eine Gefängnisstrafe verdienen. Das Gefängnis zieht dich immer wieder zurück. Die Polizei verwendet es, um dich als Person zu positionieren: „Hey, diesem Typ ist nicht zu trauen, er war schon im Gefängnis.“ „Hey, dieser Typ muss dieses Verbrechen begangen haben, er war schon im Gefängnis.“ Auch die Richter_in stützt sich auf solche Annahmen, um Leute zu verurteilen. Wenn du einmal im Gefängnis warst, glauben sie, dass du möglicherweise oder tendenziell zu allem fähig bist. Sie glauben nicht, dass es Fehler sein können, die einen ins Gefängnis bringen, sondern gehen von einer Veranlagung oder einem Lebensstil aus. Das Gefängnis ist ein Gefängnis für sich selbst, und alles in diesem Gefängnis hat die Funktion, die Leute wieder dorthin zurückzubringen. Das Gefängnis ist also nicht nur das Gebäude, sondern auch die Beamten*, die Polizei draußen, die Richter_innen und die Staatsanwaltschaft. Sie alle bilden einen Körper und stellen sicher, dass du wieder dorthin zurückkommst.

Das Gefängnis ist also ein einziges System, das sich überall findet … Ich habe eine vielleicht etwas verrückte Frage. Ich spreche immer von zwei Gefängnissen, vom kleinen und vom großen Gefängnis. Das große Gefängnis ist alles da draußen. Ins kleine Gefängnis kommt man, wenn man Dummheiten macht, das ist der Ort, wo man für diese Dummheiten zahlt. Das große Gefängnis existiert vor allem für Sans Papiers und harraga, das ist dann ganz Europa. Meine Frage lautet: In welchem der beiden Gefängnisse ist es schwieriger zu leben?

Hm, ich denke, das Leben im großen Gefängnis ist schwieriger. Beim kleinen Gefängnis weißt du, was dich erwartet, wenn du bei etwas erwischt wirst, was du nicht machen sollst. Aber im großen Gefängnis geht’s nicht darum, etwas Falsches zu tun, sondern darum wer du bist. Es geht um Migration und um die Suche nach einem besseren Leben. Das ist unsere gegenwärtige Situation. Alle wollen daraus aussteigen, aber genau da liegt die Schwierigkeit begraben. Das Problem besteht darin, dass es keine zeitliche Beschränkung gibt, das heißt, du weiß nicht, wann du aus dem großen Gefängnis rauskommst.

Wenn du im kleinen Gefängnis landest, denkst du nur: „Oh, ab jetzt bin ich tot“. Du legst dich aufs Bett, schaust an die Decke und denkst eigentlich an gar nichts, weil dir nichts einfällt, außer dass du dich fragst, was dich in diese Situation gebracht hat: War es deine eigene Dummheit, dein Ego oder etwas anderes? Und dann kommt der Moment, wenn sie mit ihrem großen Schlüsselbund an die Türen schlagen: „Bang, bang, bang, bang … Aufwachen, aufwachen, aufwachen! Mittagessen! Frühstück! Besuchszeit! Deine Anwält_in ist hier!“ Das ist dermaßen verrückt, dass du dir nur wünschst, die Welt könnte in genau diesem Moment untergehen. Du merkst nur, dass du stirbst, dass du dafür stirbst, wieder nach draußen, in die Welt draußen zu gelangen.

Wenn du schließlich verurteilt wirst, konzentrierst du dich entweder auf die Arbeit im Gefängnis, um zumindest ein bisschen Geld fürs Überleben da drinnen zu haben, oder du überlegst dir, welcher Freund_in deines Vertrauens oder welchem Familienmitglied du schreiben könntest, damit sie dir ein bisschen Geld schicken für Zigaretten, Cola oder was auch immer. Auch diese Phase geht vorüber, weil drinnen vieles passiert, was dich auf das baldige Ende deiner Haftstrafe hoffen lässt. Aber was auch immer geschieht, jeden Mittag nach Ende des Ausgangs* wirst du wieder in die Zelle eingeschlossen. Wenn du Glück hast, sind in dieser Zelle Leute, mit denen du reden und Karten spielen kannst, Leute, die deine Sprache verstehen. Wenn du wirklich Pech hast, dann stecken sie dich z. B. mit einem Ukrainer in die Zelle, der kein Deutsch, kein Englisch und auch kein Französisch spricht, der gar keine Sprache spricht, die du verstehst.

Aber dann kommuniziert man halt mit Gesten und einfachen Sätzen: „Coffee? Coffee? Oui? Komm her, ich mach dir Café.“ So funktioniert die Kommunikation im Gefängnis!

Die Hoffnung, dass du eines Tages wieder frei sein wirst, gibt dir ein Gefühl der Freude. Du machst Pläne, was du tun wirst, wenn du draußen bist. Wenn du ein böser Junge warst, willst du zukünftig ein guter Junge sein. Wenn du vielen Leuten Unrecht getan hast, wirst du dich entschuldigen oder einfach nur dafür sorgen wollen, dass dein Leumund ab jetzt makellos bleibt. Du wirst nicht mehr darauf hören wollen, was die Leute sagen, sondern einfach nur dein Leben leben und versuchen glücklich zu sein. Es gibt fast niemanden, der im Gefängnis bleiben oder dort auf Dauer leben will. Nur ein paar Leute stellen, wenn sie rauskommen, sofort wieder etwas an und sagen: „Nehmt mich wieder auf!“ Aber zu denen gehören wir nicht, weil wir in unserem Leben weiter kommen wollen. Das ist ja auch der Grund, weshalb wir Afrika verlassen haben, um hier zu leben. Wir wollen nichts Schlechtes, wenn wir nach Europa kommen, aber das System ist zu rigide, um zu überleben. Darum tun wir, was wir tun und nehmen uns unseren Teil an der Gesellschaft mit Gewalt.

Das große Gefängnis draußen und das kleine Gefängnis haben viele Ähnlichkeiten. Als Asylwerber war ich früher auch in Flüchtlingslagern. Es gibt keinen großen Unterschied zwischen einem Flüchtlingslager und dem Gefängnis. Das „Eingangstor“, das Erstaufnahmezentrum*, ist ein richtiges Gefängnis. Nur hast du mehr Zeit, um herumzuspielen. Es gibt feste Zeiten für Frühstück, Mittag- und Abendessen. Verpasst du diese, dann heißt das, dass du sie für den ganzen Tag verpasst hast. Das ist wie im Gefängnis, nur dass du im Gefängnis in deiner Zelle eingesperrt bist – es wird also dafür gesorgt, dass du in deiner Zelle bist. Im Asylheim hingegen könntest du gerade irgendwo im Garten Basketball spielen oder einfach nur die frische Luft genießen. Diese beiden Orte sind sich letztlich viel ähnlicher als wir denken, nur dass die Heime ein wenig bekömmlicher gestaltet werden: Als Geflüchtete werden wir nicht eingesperrt und in Handschellen gelegt, wenn wir die Ärzt_in oder die Anwältin sehen wollen. Aber das ist auch schon der einzige Unterschied.

Du, ich habe eine andere Frage: Wie hast du das geschafft, dass du dich dem Gefängnis nicht auslieferst? Wie hast du sichergestellt, dass dich das Gefängnis – mit den Leuten da drinnen, den Zellen, den Sektionen, den Stiegenhäusern, dem Hof – dass dich das nicht vernichtet? Wie kann man im Gefängnis seine Persönlichkeit, seinen Körper schützen? Was hast du getan, damit dir das Gefängnis nichts Übles antut?

Man liefert sich dem Gefängnis niemals aus, das geschieht nie. Wenn du die Möglichkeit hättest, würdest du immer ausbrechen wollen. Es ist eine große Anstrengung, sich keine Sorgen zu machen und die Ruhe zu bewahren. Das ist wirklich schwierig! Ab dem Moment, in dem ich wusste, wann ich rauskommen werde, habe ich begonnen, die Tage zu zählen: Ich hab jeden Morgen einen Tag durchgestrichen. Es war unglaublich langweilig, drinnen eingesperrt zu sein, nur zu lesen, zu schreiben, Musik zu hören und darüber nachzudenken, wann ich mir einen Fernseher oder einen Radio kaufen werde, der nur mir gehört, mit eigenen Kopfhörern, um ein bisschen Privatsphäre zu haben. Du weißt, die menschlichen Bedürfnisse sind unerschöpflich. Heute hast du das, morgen willst du etwas anderes haben. Man unterhält sich mit den anderen in der Zelle unablässig darüber, ob jemand Geld hat, um etwas zu kaufen, was für die Zelle nützlich wäre und vom Gefängnis nicht angeboten wird, wie etwa einen Wasserkocher, eine Herdplatte, so das im Gefängnis erlaubt ist, etc. Ständig wird darüber geredet, wie der Raum sein muss, damit es für alle lebbar ist. Also, sich dem Gefängnis ausliefern ist etwas, was man immer versucht, aber niemand jemals geschafft hat.

Ja, ja, das sehe ich auch so, das geschieht niemals. Ich für meinen Teil war am Anfang ganz ruhig. Ich war noch jung, als ich in dieses große Gefängnis nach Europa gekommen bin und begonnen habe, Dummheiten zu machen. Ich fand mich dann sehr rasch im kleinen Gefängnis wieder. Dort habe ich zunächst mal versucht, alles mit der Ruhe zu nehmen. Als ich begriffen habe, dass dieses Bett in dieser Zelle meines ist, dass es das die ganze Zeit über bleiben wird, habe ich Fotos an die Wand geklebt und diesen kleinen Raum auszugestalten begonnen, um mich zumindest ein bisschen „zuhause“ zu fühlen. Aber was tust du dann? Das Problem ist, was tust du dann? Im Gefängnis gibt es Zeit im Überfluss. Und was machst du, wenn dir z. B. Rassisten, die Hunde, die Wärter im Gefängnis, auf die Nerven gehen, wie reagierst du? Was tust du, um dich nicht völlig in dieser Gefängniserfahrung zu verlieren? Das Gefängnis ist voller Stress. Jemand, der rauskommt, kommt mit alledem, mit dem ganzen Übel des Gefängnisses raus. Ich frage mich daher, ob es nicht normal ist, dass man ein bisschen aggressiv rauskommt? Ist das normal oder natürlich?

Es gibt so vieles, was wirklich anstrengend ist im Gefängnis, die Art und Weise, wie das System funktioniert, die Regulierungen etc. Zum Beispiel, wenn sie von dir verlangen, um sieben Uhr in der Früh, aufrecht auf dem bereits gemachten Bett zu sitzen. In manchen Gefängnissen verlangen sie von allen, wenn der Gefängniswärter für diejenigen vorbeikommt, die ihre Medizin einnehmen müssen, dass sie auf ihren Betten sitzen. Das war nicht in allen Gefängnissen so, in die sie mich gebracht haben. Aber im letzten war das so. Wir mussten aufrecht auf unseren Betten sitzen, und das um sieben Uhr in der Früh!

Oder wenn du dich am Nachmittag hinlegen möchtest und sie andere Leute aus einem anderen Stockwerk zum Spazieren schicken, und diese dann unglaublich laut quatschen, und einige zu deinem Zellenfenster kommen und nach einem Zelleninsassen rufen, der vielleicht selbst gerade schläft, und dieser dann zum Fenster gehen und schreien muss, damit er sich unterhalten kann, dann geht das unglaublich an die Substanz! Du kannst dich nicht beschweren. Wenn du draußen wärst, könntest du sagen: „Halts Maul!“ oder du könntest runter gehen und sagen: „Hey, kannst du bitte ein bisschen ruhiger sein?“ Du könntest auch die Polizei rufen, um das Problem zu lösen. Aber im Gefängnis verlierst du eigentlich alle Rechte.

Aber selbst die Gefängnisautoritäten wissen, dass es, wenn sie Leute in dieselbe Zelle stecken, die einander nicht ausstehen können, früher oder später Probleme geben wird. Sie versuchen also, so gut es geht, Leute aus verschiedenen Zellen zusammenzulegen in der Annahme, dass diese gut miteinander können. Manchmal gibt es auch große Zellen, in denen sechs, acht oder zehn Leute zusammenleben können. Da gibt es dann die Möglichkeit, Spiele zu spielen. Du kannst vier oder fünf fragen, ob sie spielen wollen und wenn alle wollen, ist das ein ganzer Tisch voll Spaß. Oder du bewirbst dich als Hausarbeiter*, als Küchenhilfe oder fürs Putzen – auch das hilft sehr. Es hilft gegen Depressionen, es hilft, die Zeit totzuschlagen und es bedeutet, dass du nicht ständig in der Zelle eingesperrt bist, weil du vielleicht sechs Stunden am Tag arbeitest, weil du zusätzlichen Hofausgang hast und mehr Zeit für Sport und Duschen. Selbst am Wochenende bist du nicht in der Zelle eingesperrt, weil du arbeiten musst. Und das gilt auch für die Feiertage. Wenn es dir gelingt, dich mit vielen verschiedenen Dingen zu beschäftigten, sinkt der Druck.

Ja, da gibt es schon Möglichkeiten … Im Gefängnis arbeiten, tut man eh nicht fürs Geld, weil diese Arbeit so oder so nicht gut oder gar nicht bezahlt ist. Beim Arbeiten geht’s nur darum, dass die Zellentür tagsüber offen ist. Du kannst raus, mit Freunden sprechen und wenn der Wärter etwas von dir will, kannst du ihm antworten: „Einen Moment … Ich muss vorher noch etwas anderes fertig machen.“ Das heißt, deine Position verändert sich, du kannst dich im Gefängnis ein bisschen freier bewegen, und wenn du etwas brauchen solltest, kannst du es dir unmittelbar selbst organisieren, während die anderen jemanden fragen müssen, der arbeitet, damit er ihnen bringt, was sie wollen.

Für mich bleibt die Frage der Aggression, vor allem beim Rauskommen – nicht unbedingt drinnen – ein großes Fragezeichen. Ich bin ziemlich aggressiv aus dem Gefängnis rausgekommen. Diese Aggressivität haben nicht wir selbst produziert, es ist dieses Scheißsystem, dieses System im Allgemeinen, das dafür verantwortlich ist. Alle wollen ein schönes Leben. Ich glaube also, dass ich, um mich dieser Aggression zu entledigen, all das haben muss, was ich will und was ich wollte, ehe ich am großen Gefängnis zerbrochen bin. Ich muss all das bekommen, was ich von diesem Europa einst wollte, alles, was ich bis dato nicht finden konnte.

Als ich nach Europa gekommen bin, das heißt, als ich mein Leben riskiert habe, um hierher zu kommen, fand ich mich zunächst im Süden wieder. Die Leute dort suchen Arbeit um 35 oder 25 Euro die Stunde. Ich habe mir gesagt, das geht schon, das wird mir helfen, ich kann mit diesen 35 Euro leben, ich kann mir … ich weiß nicht was damit aufbauen. Aber dann habe ich Leute getroffen – Du hast recht, alles hängt von den ersten Personen ab, auf die du triffst – und sie haben mir von Bologna, also vom Norden erzählt. Sie haben mir Verschiedenes weisgemacht und so habe ich mich mit ihnen auf diesen Weg begeben. Ich habe dieselbe Route gewählt wie sie. Meine Reise, die mich letztlich ins Gefängnis gebracht hat, hat also mit dieser Entscheidung angefangen. Und damit hat auch das Übel seinen Anfang genommen. Um mich von der Aggression und dem Druck zu erlösen, brauche ich also das, was mir fehlt oder was mir gefehlt hat.

Aber was heißt das: Aggression oder Druck? Es sind Narben und mit diesen Narben verbinden sich Erinnerungen. Die Narben auf meinem Arm bleiben mir erhalten. Sogar die Tattoos bleiben. Die Wunden - und auch die Erinnerungen – heilen nicht. Du kannst dich niemals zur Gänze davon befreien, weil du das, was du gelebt hast – das Gute wie das Schlechte– als Erinnerung mit dir trägst, es bleibt eine Erinnerung und die bleibt dir für immer erhalten. Ich muss mich also ändern, ich muss mich selbst ändern, ich muss nach dem suchen, was mir gut tut. Sie – das Gesetz, der Staat – sie sperren uns ein, sie werden uns immer wie Gefangene oder Ex-Gefangene leben lassen. Sie sagen, wir sind nicht gut, wir sind in diesem Land nicht willkommen. Um dieses Bild zu bekämpfen, muss ich versuchen, mir Gutes zu tun, damit ich mich ändern kann. Aber glaub mir, das Schlechte, das heißt, dass du eingesperrt warst, dass du das Gefängnis erlebt hast, das wird dich für immer begleiten. Du wirst immer ein wenig mit deinen schlechten Erinnerungen eingesperrt sein.

Wie schafft man es, sich zu verändern? Du musst dich einfach selbst ändern, du musst an deiner Veränderung arbeiten. Diese Arbeit kannst du nur selbst machen, weil der Staat genau gar nichts für dich tut. Wenn der Staat eine Stadt baut, dann wird er sie gut konstruieren. Aber er konstruiert diesen Raum nur für die Österreicher_innen, für die Bevölkerung, nicht für uns, die Sans Papiers oder harraga. Der Staat gibt uns nichts, überhaupt gar nichts. Für uns gibt es nur das kleine oder das große Gefängnis. Und wenn du mal im kleinen Gefängnis warst, wenn du mal Dummheiten gemacht hast, dann hast du keine Rechte mehr. Du wirst immer ein Gefangener oder ein Ex-Gefangener bleiben. Wenn du das ändern willst, musst du dich selbst ändern.

Ich würde hinsichtlich der Frage, wie man seine Aggression kontrollieren kann, gerne etwas ergänzen. Verallgemeinerungen sind nicht gut, denn, wenn etwas passiert, hat jede Person eine andere Art, zu reagieren und damit ändert sich auch die Wirkung. Ich musste nach dem Gefängnis mein Selbstbewusstsein und meine Emotionen nicht im selben Maß wieder erlangen und meine Reaktion auf Dinge, die so passieren, wieder einpendeln, einfach darum, weil ich, als ich aus dem Gefängnis rauskam, eine Familie hatte. Für mich war das also eine ganz rasche Wendung, die meine Weise zu denken, meinen Zugang zu Problemen neu ausgerichtet hat. Mein Kind war gerade auf die Welt gekommen und ich musste mir immer sagen: „Wenn meine Tochter nicht wäre, hätte ich jetzt mit dieser Person gekämpft oder sie geschlagen“. Viele Leute kommen ins Gefängnis, weil sie das Gesetz selbst in die Hand nehmen und erwerben damit ihre Eintrittskarte für’s Gefängnis. Ich würde gerne mit anderen Leuten über diese Übergangsphase diskutieren, das heißt, darüber, wie man sich selbst wiederfinden kann, wie man sich vom Gefängnisleben erholen und nach dem Gefängnis ein normales Leben führen kann.

Zu diesem Übergang vom Gefängnisleben in ein Leben mit Zukunft angeht, kann ich, wie gesagt, nichts sagen, weil ich keine Erfahrung damit habe. Aber ich bin sicher, dass wir, so sich die Gelegenheit für einen Austausch ergibt, ein gutes Thema daraus machen können, weil es sich wirklich um eine einschneidende Lebensphase handelt. Das ist der Moment, in dem du sagst: „Hey, es reicht mit dem Gefängnisleben.“ Manche Leute gehen zwei- oder dreimal ins Gefängnis, ehe sie sagen: „Nein! Jetzt reicht’s mir!“. Manche werden nur einmal inhaftiert und sagen: „Niemals wieder! Ich möchte niemehr dorthin zurück!“.

Tja, es bleibt die Frage, wie du dieses andere Leben leben willst? Wie bloß? Sehr offen gesagt, du kommst ins Gefängnis und wirst dort mit deinen Begehren eingesperrt und zu leben gezwungen. Du denkst dann im Gefängnis – nur mit einem Kugelschreiber und einem Blatt Papier – über einen anderen Weg nach. Du hast alle Zeit der Welt, du hast nichts zu tun, außer fernzusehen etc. Aber wenn du raus kommst und immer noch Sans Papiers bist, wenn du keine Familie hast, die auf dich wartet, dann findest du dich in derselben Situation wieder, in der du schon warst, ehe du ins Gefängnis gekommen bist: Du hast genau gar nichts! Du stößt auf dieselben Schwierigkeiten. Vielleicht haben sich die Gesetze geändert, die es dir erlauben würden, dich zu legalisieren. Es ist vielleicht noch schwieriger geworden, einen legalen Aufenthalt zu bekommen. Aber du kanntest die Gesetze nicht, ehe du ins Gefängnis gekommen bist, und von den neuen Paragraphen hast du auch keine Ahnung. Das einzige, was du verstehst, ist, dass all das gegen uns gerichtet ist.

Ich frage dich also, was bleibt für uns? Wir sind nicht akzeptiert. Im Gefängnis werden wir akzeptiert, aber draußen? Du suchst eine Arbeit, aber du findest keine, nicht mal eine irreguläre Arbeit. Es bleibt nur das Business. Das ist immer dasselbe Lied. Wie kann man also einfach leben, wenn du niemanden hast, der dir hilft? Wie willst du alleine mit alledem umgehen? Das ist viel, das zu viel verlangt!

Ja, wenn es keine Hoffnung gibt … Wenn du dich immer wieder in denselben Bedingungen findest, mit dem einzigen Unterschied, dass du ein Ex-Gefangener bist und ein zukünftiger Gefangener, wenn du weitermachst …

Ja, genau! Ich habe jetzt noch eine abschließende Frage, weil wir ja vom Business und so sprechen: „Was ist die Straße für Dich?“

Die Straße ist im Grunde genommen der einzige Ort, wo du eine Arbeit finden kannst. Aber die Arbeit, die man auf der Straße findet, ist in den Augen des Gesetzes eine illegale Arbeit. Das Gesetz trägt nicht dafür Sorge, dass alle die Möglichkeit haben, eine Arbeit zu finden, eine saubere Arbeit, eine registrierte Arbeit. Weil also manche Leute, die einen Job brauchen würden, von dem ausgeschlossen werden, was die Regierung vorsieht, suchen sie ihren eigenen Weg. Diese Art von Handel spielt sich zwischen denen ab, deren Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Sie finden einen gemeinsamen Ort, um sich zu treffen, und eine gemeinsame Strategie, um Geschäfte zu machen. Das kann man sich ungefähr so vorstellen wie zu der Zeit, als der Alkohol verboten wurde. Er musste über den Untergrund nach Amerika gebracht werden und wurde zu einem wichtigen Gut. Jeder hat versucht, sich daran zu bereichern. Dann sind sie draufgekommen, dass Alkohol eine Menge Leute reich macht und dass die Regierung nichts davon hat. Und schließlich wurde Alkohol legalisiert und das Geschäft damit zunichte gemacht. Jetzt nehmen Ganja oder Kokain oder sonst etwas den Platz von Alkohol ein. Auf der Straße findet sich immer irgend etwas, das man verkaufen kann: gestohlene Sachen, Schmuggelware, dein eigenes Zeug, dass du nicht mehr brauchst etc.

Das Leben auf der Straße … Also ich glaube, das ist ein Satz, der unseren Kampf beschreibt. Es gibt uns Hoffnung, es befriedigt Bedürfnisse, die unsere Eltern nicht befriedigen konnten und die die Regierung nicht befriedigen will. Die Möglichkeiten, aus denen das Leben auf der Straße sich zusammensetzt, haben wir selbst geschaffen. Wir schaffen diese Möglichkeiten selbst und zahlen keine Steuern dafür. Das ist es, was das Leben auf der Straße besonders interessant macht: Ich verhandle mit dir, du fühlst dich gut damit, okay, das Geschäft wird gemacht, du gehst deiner Wege und ich meiner, es gibt keinen Stress. Und sie finden dann irgendeinen Grund, um uns als „Kriminelle“ zu bezeichnen – einfach nur darum, weil wir unser Leben, so wie wir es uns vorstellen, auf der Straße leben.

Dieses Gespräch wurde mit einigem übersetzerischem Aufwand geführt, aufgezeichnet und transkribiert. Danke an Cliff Erin und Yassine Zaaitar.


* Alle mit Asterisk versehenen Begriffe sind Deutsch im Original.