ostwärts, kultur!
11 2000
Ostwärts, Kultur!
Die Funktion „der“ Kultur im Zusammenhang der
EU-„Ost“-„Erweiterung“
Die Begrifflichkeit der „Osterweiterung“ wurde
in der letzten Zeit zwar mehr und mehr abgelöst
durch den weniger angriffigen Begriff der „Integration“,
die unterschwellige Konnotation bleibt allerdings eine
Kontinuität der Schieflage: zwischen angeblich
kultivierten, zivilisierten Landstrichen und solchen,
die dieser Kultivierung noch bedürfen. Dahinter
stehen natürlich massive („westliche“)
ökonomische Interessen, die die Werte der Kultiviertheit
gerne verhökern für Standortfaktoren wie niedrige
Lohnkosten, schwache Arbeitnehmervertretungen und ebensolche
politische Strukturen.
Im Spannungsfeld zwischen dem Konstrukt einer europäischen
„kulturellen Identität“ und den vielfältigen
und wachsenden Nationalismen, Regionalismen und Fundamentalismen
auf beiden Seiten der Schengen-Grenze erhebt sich also immer
deutlicher die Frage, was Kultur in diesem Zusammenhang soll,
und vielleicht noch wichtiger: was sie jedenfalls nicht soll.
Im Wechselspiel zwischen Politisierung der Kultur und Kulturalisierung
der Politik neigt im Zeitalter des Differenzkapitalismus nun
endgültig letztere dazu, die Oberhand behalten, die Kultur
also mehr und mehr als willkommenes Mittel zur Entmachtung
der Politik durch die Ökonomie instrumentalisiert zu
werden.
Die Ideologie der kulturellen Identität
Bestimmen symbolische/kulturpolitische Konzepte europäischer Identität in irgendeiner Weise die Konstruktion Europas im Sinne realer europäischer Grenzen? Wenn ja, mit welchen Interessenhintergründen? Welche Funktion hat bei dieser Festlegung das Konzept der kulturellen Identität Europas? Wie könnten statische oder rückwärtsgewandte Identitätskonzepte Marke „Festung Europa“ vermieden/überwunden werden?
EU-Programmatik und EU-Pragmatik
Wie gehen die bestehenden EU-Programme, nicht nur im Kulturbereich, mit dem durch die „Osterweiterung“ zu erwartenden Komplexitätszuwachs an kulturellen und politischen Differenzen um? Wie funktioniert die EU-geförderte (Schengen-)grenzüberschreitende Zusammenarbeit kultureller Akteure vor der „Osterweiterung“? Gibt es Alternativkonzepte zu sowohl theoretischen Konzepten als auch praktischen EU-Programmen? Welche Funktion haben dabei „civil society“-Projekte im kulturellen Feld?
Kultur als Propagandamittel?
Welche Funktion haben einzelne kulturelle Groß-Aktivitäten wie „Mitteleuropa-Ausstellungen“ oder andere Veranstaltungen, die eine Kontinuität zu älteren Kolonisationstraditionen herstellen? Wie weit ist die Aktion 3 des EU-Programms Culture 2000 für große kulturelle Veranstaltungen mit europäischer Ausstrahlung eine reine Propagandamaschine für den (neokolonialistischen) europäischen Gedanken?
Konkrete Effekte der „Osterweiterung“ auf das
kulturelle Feld
Welche konkreten (positiven wie negativen) Effekte für
das kulturelle Feld sind in den neu aufzunehmenden Ländern
im Prozeß der „Osterweiterung“ zu erwarten?
Welche Folgen werden die Ungleichzeitigkeiten der Aufnahme
nach sich ziehen? Wie kann ein dritter kultureller Sektor
neben staatlichen und kulturindustriellen Programmen entstehen/gestärkt
werden?
Alternativkonzepte und Utopien
Welche aktuellen alternativen Initiativen gibt es im Kulturbereich, die die „Osterweiterung“ kritisch begleiten oder zukunftsweisende Modelle erproben? Welche konkreten Strategien im Bereich der Kulturarbeit können dazu beitragen, eine erneute Kolonialisierungswelle zu verhindern? Gibt es eine Produktion von Utopien jenseits der einseitigen Ausdehnung eines Zentrums, das auf der einen Seite von Atlantik und seinem amerikanischen Vorbild begrenzt wird, und sich daher - in einer Umkehrung der historischen amerikanischen Expansionsbewegung nach Westen - auf der anderen Seite umso hemmungsloseren kolonialen Phantasien verschreibt?
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To the East, Culture Ho!
The Function of “Culture” in the Context of
the EU’s Eastward Expansion
In the recent past, the concept of “eastward expansion”
has increasingly been replaced by another term which is less
problematic, that of “integration”, though the imbalance
between the presumably cultivated and civilized areas and
those still in need of this cultural influence is reinforced
in the unconscious connotation. Of course, massive (Western)
economic interests which would gladly sell cultural values
in exchange for low labor costs, weak unions and underdeveloped
political structures are at the bottom of this situation.
In the field of tension between the construct of a European
“cultural identity” and the many-faceted and strengthening
nationalist, regionalist and fundamentalist trends in many
countries on both sides of the Schengen border, a question
is being posed again and again, that of what culture’s
function should be in this context, and possibly even more
important, what it should definitely not be. Between the politicization
of culture and the culturalization of politics, the latter
tends in this age of unbridled capitalism to keep the upper
hand, thereby instrumentalizing culture for reduction of the
power of politics through the economy.
The Ideology of Cultural Identity
Do symbolic/cultural-policy concepts dealing with European identity in some way determine the structure of Europe with regard to actual European borders? If so, what are the underlying interests? What is the function of the concept of Europe’s cultural identity in relation to this determination? How could statistical or reactionary identity concepts be avoided or overcome?
EU Programs and EU Pragmatism
How do the existing EU programs, and not only those relating to culture, deal with the increase in complexity in cultural and political differences which can be expected as a result of the eastward expansion? How does EU-subsidized cooperation across borders (and across Schengen borders) between cultural actors work before the eastward expansion? Are there any alternatives to either theoretical concepts or concrete EU programs? What is the function of civil society projects in the cultural sector?
Culture as Propaganda?
What is the function of individual large-scale cultural activities such as exhibitions focusing on Central Europe or other events which establish a link to earlier traditions of colonization? To what extent is Action 3 of the EU program Culture 2000 for large-scale cultural events with a European orientation purely a propaganda machine for a (neocolonial) concept of Europe?
Concrete Effects of Eastward Expansion on the Cultural Sector
What concrete effects (both negative and positive) will the eastward expansion have on the cultural sector in the candidate countries in the course of the expansion process? What will be the consequences of the fact that the candidates will not be admitted at the same time? How can a third cultural sector which is separate from state-sponsored programs and those involving the culture industry be produced or strengthened?
Alternative Concepts and Utopias
Are there currently any alternative initiatives in the cultural sector which are critically examining the eastward expansion or testing new and progressive models? Which concrete strategies in the area of cultural work could be used to prevent a new wave of colonization? Are on the one hand utopias being produced which go beyond the one-sided expansion of a center limited to one side of the Atlantic and its American model and are therefore-in a reversal of the historical American westward expansion-devoted to even more uncontrolled colonial fantasies on the other hand?