09 2000
Die "Osterweiterung" und ihre Auswirkungen auf den kulturellen Sektor. (Europa-)Kulturpolitik in Polen
Übersetzt von Jacqueline Csuss
Die mit der Erweiterung der Europäischen Union verbundenen Schwierigkeiten betreffen historische, politische, wirtschaftliche, aber auch kulturelle Fragen. Nun ließe sich mit dem im Titel gewählten Zitat "Auswirkungen auf" andeuten, dass die Kultur Einflüssen ausgesetzt ist, denen sie nichts entgegensetzen kann und die sich womöglich als schädigend herausstellen. Bedenkt man das mangelnde staatliche Engagement im kulturellen Bereich, die noch in den Anfängen steckende osteuropäische Demokratie und ihren fragilen Kapitalismus, aber auch den rasanten Wandel, der die Gesellschaft erfasst hat, scheint es beinahe aussichtslos, auf eine öffentliche Unterstützung und das Vorhandensein langfristiger Entwicklungspläne zu zählen. Soll und kann der dritte Sektor beim Erhalt der Kultur eine Rolle spielen? Jedes der Beitrittsländer ist trotz der gemeinsamen Geschichte des ehemaligen Ostblocks in seiner Art einzigartig, und die Erweiterung wird diese Unterschiede nur noch deutlicher machen. Der folgende kurze Beitrag bezieht sich auf die Situation in Polen.
Polen befindet sich zur Zeit in einer Phase der Instabilität
und der Identitätskrise, die im Kontext der Geschichte
des Landes, der Ereignisse vor dem 2. Weltkrieg sowie der
Jahre unter sozialistischer Herrschaft erklärt werden
kann, darüber hinaus aber auch durch die unternommenen
und noch notwendigen Reformen, den wirtschaftlichen Übergang
und die wachsende Kluft in der Gesellschaft. Um 45 Jahre in
ihrer Geschichte beraubt, sind die Polen gegenwärtig
auf der Suche nach sich selbst und erfahren eine Krise der
Werte. Korruption, politische Rivalitäten, familiäre
Werte, Aberglaube, Sekten, …; mit Ausnahme der Religion
ist schwer zu sagen, woran die Polen überhaupt noch glauben.
Doch trotz der seit dem 18. Jahrhundert anhaltenden Schwierigkeiten
(Teilungen, Kriege, Repatriierungen, Veränderungen der
Landesgrenzen), herrscht in Polen nach wie vor ein starkes
Gefühl der nationalen Zugehörigkeit, das nicht zuletzt
der Bindung an die Religion und an die polnische Sprache zu
verdanken ist.
Inzwischen ist ein zügelloser, wenn auch im Vergleich
zu den westlichen Ländern verzögerter Kapitalismus
entstanden, der in einem nur schwer zu kontrollierenden Tempo
wächst. Die rapiden Veränderungen lösen Ängste
vor dem Verlust der eigenen Wahrzeichen aus. Der Wunsch nach
Bewahrung der gemeinsamen Erinnerung manifestiert sich in
der Errichtung von historischen Denkmälern - den Zeugnissen
einer Vergangenheit, die verloren war und wiedergewonnen wurde
- zum Gedenken etwa an Katyn oder an den Warschauer Aufstand,
im Festhalten an der Folklore und in der polnischen Landschaft,
deren Aussehen sich mit dem EU-Beitritt verändern wird.
Politisch befindet sich der Staat ebenfalls in einer Übergangsphase,
die durch die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen keineswegs
erleichtert wird.
Die Tatsache, dass die Veränderungen gerade in Polen
mit solcher Rasanz eingetreten sind, dürfte auf die Vereinbarungen
zurückgehen, die bei den Gesprächen am Runden Tisch
getroffen wurden und die Anerkennung der Solidarnosc sowie
des Rechts der Opposition auf einen Sitz im Parlament nach
sich zogen. Der Zusammenbruch des Sozialismus in Polen, der
erste in Osteuropa, ermöglichte die Geburt eines demokratischen
Systems. Allerdings wird das Bedürfnis für eine
Aufarbeitung der jüngeren Geschichte immer deutlicher,
wofür ein Beispiel die Durchleuchtung der Vergangenheit
der Politiker ist.
Im Lichte der politischen und wirtschaftlichen Stichtage scheint die Kultur von geringer Bedeutung. Die Wahlprogramme der Präsidentschaftskandidaten beinhalten keine kulturellen Konzepte, während das Kulturministerium gegen drei Illusionen ankämpfen muss: gegen das Gespenst des Ministeriums für Kultur und Propaganda, gegen die aus post-zentralistischen Zeiten stammende Überzeugung, dass keine Kulturpolitik die beste Politik ist, sowie gegen den Mythos vom romantischen Künstler. Es ist somit unverändert schwierig, ein starkes Kulturministerium einzurichten und zu definieren, was Kulturpolitik eigentlich sein soll. Dennoch hat der derzeitige Minister für Kultur und kulturelles Erbe[1] die zehn Prioritäten der polnischen Kulturpolitik definiert und einen eigens für die kulturelle Integration zuständigen Posten geschaffen. Bei einem Kulturbudget, das rund 0,3% des Staatshaushaltes ausmacht und mehrheitlich in die großen nationalen Institutionen wie die Staatsoper fließt, stellt sich jedoch die Frage, was reell getan werden kann. Außerdem war es während der letzten zehn Jahre infolge der immer nur sehr kurzen Amtsperioden der Minister unmöglich, die für eine kohärente Langzeitpolitik erforderlichen Mittel und Werkzeuge zu schaffen.[2]
Das alles wirkt sich auf die Situation der Kultur insgesamt
genauso aus wie auf die im Kulturbereich tätigen Organisationen
und Einzelpersonen. Die staatlichen Einrichtungen, Überbleibsel
der kommunistischen Ära, leiden häufig unter nicht
abgeschlossenen Reformen. Das gilt für die polnische
Akademie der Wissenschaften (PAN) ebenso wie für das
Teatr Wielki, das heute aus zwei voneinander unabhängigen
Institutionen, der Staatsoper und dem Nationaltheater, besteht.
Da sie den Umständen nicht angepasst sind, sterben sie
einen langsamen Tod oder werden im besten Fall nicht ausreichend
genutzt. Generell flexibler sind die nach den 80er Jahren
gegründeten Einrichtungen wie das Zentrum für zeitgenössische
Kunst Zamek Ujazdowski. Diese öffentlichen Strukturen
sind zwar gezwungen, zusätzliche Geldquellen zu suchen,
um ihre Aktivitäten zu finanzieren, werden jedoch zusehends
unabhängiger.
Die im Rahmen von NGOs tätigen Kulturtreibenden sind
angesichts dieser Situation verständlicherweise verunsichert.
Diese Initiativen, die durch die ökonomischen Zwänge
geschwächt sind, scheinen in der staatlichen Prioritätensetzung
völlig vergessen worden zu sein; ebenso wenig profitieren
sie von den Auswirkungen der Dezentralisierung und der 1998
durchgeführten Verwaltungsreformen.
Auch die Kulturindustrie muss eigene Wege finden, wenn sie
die Schwierigkeiten bewältigen will. Überschwemmt
vom amerikanischen Film und Fernsehen, bzw. im Verlagswesen
vom deutschen Kapital, geht die einheimische Produktion allmählich
zurück und versucht vielfach, ausländische Modelle
nachzuahmen, um finanziell erfolgreich zu sein.
Bedeutet das, dass die Kultur in Gefahr ist, bedroht von Veränderungen,
die mit der Erweiterung einhergehen?
Der Beitritt Polens zur Europäische Union ist wohl unumstritten.
Doch die Öffnung der Grenzen, die Anpassung der Gesetze
an den gemeinsamen Markt und die in der Zivilgesellschaft
erforderliche Bewusstseinsarbeit dürften länger
dauern als ursprünglich gedacht. Davon abgesehen, gilt
es, in jedem Beitrittsland noch vor dem EU-Beitritt viele
wichtige Fragen zu lösen.
Der kulturelle Beitritt zur EU erfordert die Umsetzung der
in Artikel 128 des Maastrichter Vertrags festgelegten Zielsetzungen.[3]
Doch vor allem bedeutet er, dass man sich der Kultur von verschiedenen
Blickwinkeln aus nähern und sie als eigenen Bereich akzeptieren
muss. Eine der Hauptschwierigkeiten besteht in der behutsamen
Umwandlung eines in den Mentalitäten zutiefst verankerten
Organisationsmodells, in dem die Pyramidenstruktur die Regel
war. Eine private Finanzierung der Kultur nach amerikanischem
Modell bzw. eine solide Kulturpolitik muss sich erst etablieren.
Bedenkt man jedoch die erforderlichen Reformen, die mit dem
Übergang einhergehenden Schwierigkeiten und die Stichtage,
wäre es nur natürlich, die Rolle des Staates geltend
zu machen. So sollte den lokalen Behörden klar sein,
welche Rolle die Kultur spielt und dass sie unterstützt
gehört. Die EU-Mitgliedschaft könnte Energien freisetzen
und den Weg für einige notwendige Reformen vorzeichnen.
Die eigentliche Gefahr besteht in der Vernachlässigung
der realen Bedürfnisse der polnischen Kulturtreibenden
sowie in der rücksichtslosen Anwendung der europäischen
Verordnungen. Nehmen wir zum Beispiel die Kulturindustrie:
da gäbe es viel auf wesentlich breiterer Basis und möglichst
in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Hingegen hat man
die Rundfunkquoten bereits exakt an die europäischen
Vorgaben angepaßt, und auch die Debatte über das
Urheberrecht verläuft in diese Richtung.
"Wenn wir Europa erneuern wollen, sollten wir mit der Kultur beginnen." Auch wenn das bekannte Zitat von Jean Monnet nicht wirklich von ihm stammt, lohnt es sich, den Gedanken an sich näher zu beleuchten. Ein wesentlicher strategischer Schritt bestünde darin, noch vor der wirtschaftlichen Integration dem Kulturprogramm der EU, KULTUR 2000, beizutreten. Auf diese Weise könnte man die Menschen psychologisch auf den Beitritt vorbereiten und zeigen, dass die Grenzen Europas nicht nur wirtschaftlicher Natur sind. Dabei wären die Regionen und lokalen Behörden in die Informationskampagne unmittelbar involviert, es würde dazu beigetragen, Kultur als spezifische Domäne zu bestätigen, und es ermöglichte den EU-Mitgliedsländern, die Kulturen der neuen Beitrittsländer schätzen zu lernen.
Außerdem verpflichtet sich jedes EU-Land, das an KULTUR 2000 teilnimmt, den Aufbau eines Informationsbüros, eines sogenannten Cultural Contact Point (CCP), zu fördern, dessen Hauptaufgabe darin besteht, Informationen über KULTUR 2000 und andere europäische Programme zu verbreiten, die eine finanzielle Unterstützung für kulturelle Projekte vorsehen, sowie konkrete Hilfe bei der Vorbereitung der Anträge zu leisten. Sie sollten autonom sein und können zwischen den lokalen Initiativen, dem Staat und den europäischen Institutionen eine Brückenfunktion erfüllen. Sie arbeiten in einem Netzwerk mit anderen CCP sowie zahlreichen europäischen Institutionen bzw. informellen Organisationen wie dem Europarat, dem Forum of Networks, dem European Forum for the Arts and Heritage, usw. Innerhalb der staatlichen Verwaltung ist der wichtigste Ansprechpartner, mit dem der CCP seine Tätigkeiten koordinieren muss, die Abteilung für auswärtige Angelegenheiten im Kulturministerium. Selbst wenn sie im Anfangsstadium zumeist in den Kulturministerien untergebracht sind, ist die Rolle der CCP im Osten von großer Bedeutung. Ihr Potential ist enorm. Sie können ein Mittel zur Vernetzung sein oder grenzüberschreitende Synergien ermöglichen und somit ein Umfeld schaffen, das für die Veranstaltung zusätzlicher ergänzender Projekte oder den Austausch von Know-how förderlich ist. Bis zu einem gewissen Grad könnten auf diese Weise lokale Projekte oder knapp bemessene Initiativen unterstützt und die Mobilität von Ideen gefördert werden.
Es sollte nicht vergessen werden, dass die kulturellen Netzwerke in Europa bereits seit den 80er Jahren aktiv sind. Die Vernetzung nahm im nördlichen Europa ihren Anfang, um auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der (zumeist in den NGOs aktiven) Kulturschaffenden zu reagieren; konkret ging es darum, Kulturschaffenden aus verschiedenen Ländern, jedoch mit ähnlicher Problematik, die Möglichkeit für gemeinsame informelle Tagungen zu bieten (nach den Worten eines französischen Kulturschaffenden: "Es ist eine Frage des geistigen Reichtums"), die richtige Information zum richtigen Zeitpunkt zu verbreiten, und nicht zuletzt eine effektive Lobby zu organisieren, die die Standpunkte ihrer Mitglieder nach außen hin vertritt. Da ihr Betrieb im vollkommenen Gegensatz zu hierarchischen Organisationen verläuft, sind die Netzwerke freie Bereiche, in denen Erneuerung und Erfindungsgeist möglich sind. Beim Aufbau Europas könnten sie eine entscheidende Rolle spielen und den Staaten und europäischen Institutionen zur Seite stehen, denn indem sie ihr Know-how über interkulturelle Projekte, kulturelle Entwicklungsprogramme und Lobbying einbringen, sind sie die eigentlichen Protagonisten der kulturellen Zusammenarbeit.
Es wird nicht möglich sein, die europäischen Verordnungen
in Polen so rasch umzusetzen. Die polnische Bevölkerung
muss vorbereitet und überzeugt werden, dass sie ein wesentlicher
Bestandteil der Integration ist und sich nicht in einer Art
Dschungel in Nichts auflösen wird. Kulturelle Erwägungen
sind somit für die Entwicklung entscheidend. Das ältere
Europa sollte aber auch akzeptieren, dass die Erweiterung
keine Annexion ist, sondern eine neue Perspektive für
die eigene Identität. Und das könnte durch den dritten
Sektor ermöglicht werden, der über alle nur denkbaren
Grenzen hinausgeht und in der Lage ist, dringenden Bedürfnissen
eine Stimme zu geben und bestehende Klüfte zu überbrücken.
[1] Der Begriff "kulturelles Erbe" ist erst kürzlich aufgekommen.
[2] einige der zehn kulturpolitischen Prioritäten: Der Wille zur Schaffung einer soliden und gesetzlichen Grundlage (im Sinne einer öffentlichen finanziellen Unterstützung für nationale Einrichtungen, des guten Willens gegenüber selbstverwalteten Initiativen, des geistigen Eigentums, der Mehrwertsteuer auf Bücher, des Schutzes der polnischen Kultur im internationalen Rahmen, der künstlerischen Ausbildung...)
[3] 1. Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedsstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt unter gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes; 2. Förderung des künstlerischen und literarischen Schaffens; 3. Förderung der kulturellen Zusammenarbeit mit Partnerländern und zuständigen internationalen Organisationen und im besonderen mit dem Europarat.