01 2002
Der flexible Charakter
Für eine neue Kulturkritik
Übersetzt von Birgit Mennel
Die Ereignisse der Jahrhundertwende von Seattle bis New York haben gezeigt, dass eine weit ausholende Kritik der kapitalistischen Globalisierung möglich und dringend notwendig ist – ehe das Ausmaß der Gewalt in der Welt dramatisch zunimmt. Die Anfänge einer solchen Kritik bestehen, und zwar in Form der Erneuerung der heterodoxen Volkswirtschaftslehre.[1] Nun können wir jedoch weiter blicken, in Richtung einer Kritik der gegenwärtigen kapitalistischen Kultur.
Um wirksam zu sein, muss eine Kulturkritik die Verknüpfungen aufzeigen, die zwischen den Hauptartikulationen der Macht und den mehr oder weniger trivialen Ästhetiken des Alltagslebens bestehen. Sie muss die Systematik gesellschaftlicher Verhältnisse und deren zwingenden Charakter für alle Involvierten zum Vorschein bringen, während sie gleichzeitig auf jene spezifischen Diskurse, Bilder und emotionalen Strukturen hinweist, die soziale Ungleichheit und rohe Gewalt verbergen. Die Kritik muss den gesellschaftlichen Konsens stören, indem sie genau beleuchtet, womit die Gesellschaft einverstanden ist und wie sie das Untolerierbare toleriert. Eine solche Kritik in die Praxis umzusetzen ist schwierig, weil sie auf zwei einander entgegengesetzten Ebenen arbeiten muss: Sie muss der Komplexität der sozialen Prozesse ausreichend zu Leibe zu rücken, um die ForscherInnen, deren spezialisiertes Wissen sie benötigt, zu überzeugen, während sie gleichzeitig ihren Schlussfolgerungen einen treffenden Ausdruck verleihen muss, um die Menschen, die sie zu beschreiben beansprucht, umzustimmen – jene also, auf deren Verhalten die Veränderung des Status Quo angewiesen ist.
Eine derartige Kritik gab es bis vor sehr kurzem in unseren Gesellschaften, sie lieferte den intellektuellen Fokus für eine enorme und weit verbreitete Unzufriedenheit in den 1960er und 1970er Jahren und trug dazu bei, ein ganzes System zu verändern. Heute scheint die Kritik verschwunden zu sein. Die ästhetische Dimension erscheint nicht mehr als umkämpfter Ort zwischen Psyche und objektiver Struktur der Gesellschaft. Es ist, als ob wir das Gespür für die Negation verloren hätten und mit ihm den Anspruch auf eine antisystemische Kritik. An ihre Stelle treten heute endlose Varianten der angloamerikanischen Cultural Studies – die eine affirmative Strategie, ein Kunstgriff sind, um Mehrwert zu schaffen und nicht um ihn zu schmälern. Die Geschichte der Cultural Studies heute spricht für eine Erneuerung der Negation, der Ideologiekritik.
Die Cultural Studies entstanden in den 1950er Jahren in England als Versuch, die ästhetischen Hierarchien umzudrehen, indem sie die ausgeklügelte Sprache der Literaturkritik auf Praxen und Formen der ArbeiterInnenklasse übertrugen. Sie würdigten populäre Ausdrucksformen durch einen Prozess der Kontamination, der auch die Kultur der Elite veränderte, und versuchten so positive Alternativen zu den neuen, durch die Massenmedien vermittelten Herrschaftsformen hervorzubringen. Dieser Ansatz fächerte die Reichweite zulässiger Gegenstände und wissenschaftlicher Methoden beträchtlich auf und lieferte damit einen echten Beitrag zum Ideal populärer Erziehung.[2] Darüber hinaus bildeten sich die Cultural Studies als veritable Schule in der intellektuellen Linken heraus, indem sie eine strategische Absicht entwickelten. Ihr wichtigstes theoretisches Werkzeug war jedoch die Vorstellung der differenziellen Rezeption oder des „ausverhandelten Lesens“ – eine persönliche Note, die die EmpfängerIn zur übermittelten Botschaft hinzufügt. Diese Vorstellung wurde anfänglich eingesetzt, um die Interpretation herrschender Botschaften durch die ArbeiterInnenklasse aufzuzeigen, im Rahmen eines Modells, das noch immer auf dem Klassenbewusstsein gründete.[3] Als sich jedoch im Verlauf der achtziger Jahre die Betonung der Rezeption von der Klassendynamik löste, gefielen sich die Cultural Studies mehr und mehr darin, jede besondere Wendung zu feiern, die Individuen und Gruppen den Erzeugnissen der globalisierten Medien abgewannen. Auf diese Weise trugen die Cultural Studies zur Rechtfertigung einer neuen transnationalen KonsumentInnenideologie bei[4]: ein perfektionierter, zweckdienlicher, individualisierter, ethnisierter und sich zu eigen gemachter Diskurs der Entfremdung.
Wie kann Kulturkritik heute wieder wirksam werden? Ich plädiere dafür, von einem „Idealtypus“ auszugehen, an dem sich die Verbindungen zwischen gesellschaftlichen Machtverhältnissen sowie moralischen Haltungen und Triebstrukturen zeigen lassen.[5] Ich nenne diesen Idealtypus den flexiblen Charakter. Die Eigenschaft „flexibel“ spielt dabei direkt auf die politische Ökonomie der Gegenwart an, die gekennzeichnet ist durch befristete Arbeitsverhältnisse, Just-in-time-Produktion, informatisierte Produkte sowie Abhängigkeit von virtuellen Zirkulationsprozessen in der Finanzsphäre. Gleichzeitig bezieht sich „flexibel“ aber auf das ganze Set von positiv besetzten Bildern, auf Spontaneität, Kreativität, Kooperation, Mobilität, nicht-hierarchische Beziehungen, das Lob der Differenz und die Offenheit für die gegenwärtige Erfahrung. Wenn man sich der Gegenkultur der siebziger Jahre nahe fühlt, könnte man sagen, dass dies unsere Erfindungen sind, die jedoch im Zerrspiegel einer neuen Hegemonie gefangen sind. Es bedurfte einer beträchtlichen historischen Anstrengung von uns allen, diesen Wahnsinn der gegenwärtigen Gesellschaft erträglich zu machen.
Ich werde in die jüngste Geschichte zurückblicken, um zu zeigen, wie in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg eine Form der Kulturkritik in intellektuellen und dann in sozialen Verhältnissen wirksam artikuliert wurde. Ich werde jedoch auch zeigen, dass die heutigen Herrschaftsstrukturen teilweise aus dem Scheitern dieser früheren Kritik herrühren, sich angesichts ihrer eigenen Integration durch den gegenwärtigen Kapitalismus weiterzuentwickeln.
Autorität in Frage stellen
Das paradigmatische Beispiel für eine Kulturkritik in der Nachkriegszeit ist das Institut für Sozialforschung – jene autonome, wissenschaftliche Organisation, die als Frankfurter Schule bekannt ist. Ihre Arbeit lässt sich in der theoretischen Abkürzung Freudo‑Marxismus zusammenfassen. Aber was bedeutet das? Wenn man die Texte erneut überprüft, stellt sich heraus, dass das Institut seine Analyse der Herrschaft schon seit 1936 um die psychosoziologischen Strukturen der Autorität herum aufgliederte. Das Ziel der Studien über Autorität und Familie war es, ein Mittel zu finden gegen „das Scheitern des traditionellen Marxismus, den Widerwillen des Proletariats bei der Erfüllung seiner historischen Rolle zu erklären“[6]. Dieser „Widerwille“ – der nicht weniger war als die Umarmung des Nazismus durch die ArbeiterInnenklasse – konnte lediglich durch eine Untersuchung der Art und Weise, wie sich soziale Zwänge in der Psyche entfalten, verstanden werden. Es wurde gezeigt, dass der Niedergang der väterlichen Autorität in der Familie und die zunehmende Bedeutung sozialer Institutionen für die Formierung des Kindscharakters parallel verliefen zur Auflösung des liberalen, patrimonialen Kapitalismus, in dem der bürgerliche Besitzer im 19. Jahrhundert direkte Kontrolle über ein geerbtes Familienkapital hatte. Der Monopolkapitalismus des 20. Jahrhunderts hatte einen Machttransfer von privaten Individuen zu organisierten, unpersönlichen Großunternehmen zur Folge. Der psychologische Zustand masochistischen Gehorsams gegenüber der Autorität, den Erich Fromm beschrieb, war nicht zu trennen vom automatisierten Kommando neuer industrieller Kartelle sowie ihrer Fähigkeit, Individuen in die komplexe technologische und organisatorische Kette von Massenproduktionssystemen zu integrieren. Das Schlüsselkonzept der „instrumentellen Vernunft“ war im Keim schon vorhanden. So schrieb Marcuse 1941: „Die Fakten, die hier das menschliche Denken und Handeln bestimmen, sind […] solche des Maschinenprozesses, der seinerseits als die Verkörperung von Rationalität und Zweckmäßigkeit erscheint. […] Mechanisierte Massenproduktion füllt die Zwischenräume, in denen Individualität sich selbst behaupten konnte.“[7]
Die frühen Arbeiten des Instituts verknüpften eine psychosoziologische Analyse autoritärer Disziplin mit der philosophischen Vorstellung der instrumentellen Vernunft. Aber diese mächtige antisystemische Kritik konnte sich ohne Studien über die zentrale Planökonomie, die als soziale und politische Antwort auf die ökonomische Krise der dreißiger Jahre verstanden wurde, nicht herauskristallisieren.[8] Die Institutsmitglieder Friedrich Pollock und Otto Kirchheimer waren unter den Ersten, die den neuen „Staatskapitalismus“ der dreißiger Jahre als solchen beschrieben. Indem sie die traditionelle marxistische Beschreibung des Monopolkapitalismus überwanden, die in der Krise von 1929 auf ihren dialektischen Widerspruch traf, beschrieben sie eine deutliche Verschiebung des liberalen Systems, in dem Produktion und Distribution durch vertragliche Marktbeziehungen zwischen individuellen HändlerInnen bestimmt worden waren. Beim neuen System handelte es sich um einen Managerkapitalismus, in dem Produktion und Distribution durch einen zentralen Planstaat berechnet wurden. Das Ausmaß dieser Verschiebung wurde nicht nur durch die nationalsozialistisch dominierten industriellen Kartelle in Deutschland bestätigt, sondern auch durch die Fünfjahrespläne der Sowjets oder sogar durch den amerikanischen New Deal, der den Aufstieg des keynesianischen Wohlfahrtsstaat vorwegnahm. Wiederum stand die Autorität stand im Zentrum ihrer Analyse. „Im Staatskapitalismus“, schrieb Pollock, „stehen sich Männer als Befehlende und Gehorchende gegenüber.“[9] Oder in den Worten Kirchheimers: „Faschismus charakterisiert die Stufe, auf der das Individuum seine Unabhängigkeit vollständig verloren hat und die führenden Gruppen durch den Staat als die einzigen gesetzlichen Parteien für einen politischen Kompromiss anerkannt werden.“[10]
Die Lösung der ökonomischen Krise durch die zentrale Planung für den totalen Krieg wurde durch das zum Vorschein gebracht, was Pollock die „vitale Bedeutung“ einer Untersuchung nannte, die sich der Frage widmete, „ob der Staatskapitalismus unter demokratische Kontrolle gebracht werden kann“. Das Institut trieb diese Untersuchung während seines amerikanischen Exils effektiv voran, als es seine Analyse des Nazismus in die amerikanischen Begriffe des Kalten Krieges zu übersetzen trachtete. Woran wir uns heute am besten erinnern, sind die Theorie und Kritik der Kulturindustrie sowie der Essay mit diesem Titel; zu dieser Zeit jedoch waren die soziologischen Studien zum autoritären Charakter, die 1950 publiziert wurden, viel wichtiger.[11] Das Buch, das von einem Team von vier Autoren einschließlich Adornos unter der Leitung von Horkheimer geschrieben wurde, war ein Versuch, statistische Methoden der Soziologie auf die empirische Identifizierung einer faschistischen Charakterstruktur anzuwenden. Die Methode des Fragebogens wurde dazu verwendet, die Existenz eines „neuen anthropologischen Typus“ zu beweisen, der sich folgendermaßen charakterisieren ließ: starrer Konventionalismus, Unterwerfung unter Autorität, Opposition zu allem Subjektiven, Stereotypität, Betonung von Macht und Härte, Destruktivität und Zynismus, Projektion von unbewussten emotionalen Impulsen außerhalb des Selbst sowie übertriebene Sorge um sexuelle Skandale. Im Anklang an die frühere Studie zur Autorität wurden diese Wesenszüge mit einer Familienstruktur in Verbindung gebracht, die nicht durch patriarchale Stärke, sondern eher durch eine Schwäche gekennzeichnet war und die in Versuchen resultierte, eine Vorherrschaft über die Kinder vorzutäuschen, die in Wirklichkeit auf soziale Institutionen übergegangen war.
Der autoritäre Charakter stellt den Höhepunkt einer bewusst programmierten, interdisziplinären Konstruktion eines Idealtypus dar: ein polemisches Bild des sozialen Selbst, das in der Folge verschiedene Arten der Kritik anleiten und strukturieren konnte. Die Fähigkeit, verschiedene Stränge der Kritik zu fokussieren, ist die Hauptfunktion dieses Idealtypus, dessen Wichtigkeit weit über die in der Fragebogenstudie verwendeten statistischen Methodologien hinausreicht. So entfalten z. B. Adornos rhetorische und ästhetische Strategien ihre volle Kraft nur im Gegensatz zu diesem dicht konstruierten Bild des autoritären Charakters. Betrachten wir das folgende Zitat des Textes über „Engagement“ von 1961:
„In rechtsradikalen Zeitungen und Zeitschriften wird wie eh und je Entrüstung angedreht über das, was unnatürlich, überintellektuell, ungesund, dekadent sei; sie wissen, für wen sie schreiben. Das deckt sich mit den Einsichten der Sozialpsychologie in den autoritätsgebundenen Charakter. Zu dessen Existentialien rechnet Konventionalismus, Respekt für die versteinerte Fassade von Meinung und Gesellschaft, Abwehr von Regungen, die daran irremachen oder im Unbewussten des Autoritätsgebundenen etwas ihm Eigenes treffen, das er um keinen Preis sich zugesteht. Mit dieser allem Fremden und Befremdenden feindlichen Haltung ist literarischer Realismus jeglicher Provenienz, nennte er sich auch kritisch oder sozialistisch, viel vereinbarer als Gebilde, die, ohne auf politische Parolen sich vereidigen zu lassen, durch ihren bloßen Ansatz das starre Koordinatensystem der Autoritätsgebundenen außer Aktion setzen […].“[12]
Adorno versucht hier zu zeigen, wie das Brecht’sche oder Sartre’sche politische Engagement einen fließenden Übergang zur blinden Umarmung einer Ordnung schaffen konnte, die einen autoritären Staat kennzeichnet. Die gebrochenen, rätselhaften Formen von Beckett oder Schönberg konnten folglich als politisch bedeutsamer verstanden werden als irgendein Aufruf, sich zu einem Anlass kollektiv zu versammeln. Die ästhetische Form, die plötzlich gegen die schwachen, inneren Harmonien eines befriedigten Individualismus wie auch gegen die viel mächtigeren Totalisierungen eines ausbeuterischen Systems gewendet wurde, wird in Adornos Vision aufgrund ihrer Weigerung, die wahren Widersprüche fälschlich aufzulösen, zu einer verweigernden Kraft. Wie er in einer seiner rhetorischen Phrasen schreibt: „Kunst heißt nicht: Alternativen pointieren, sondern, durch nichts anderes als ihre Gestalt, dem Weltlauf widerstehen, der den Menschen immerzu die Pistole auf die Brust setzt.“[13]
Es geht hier nicht darum, sich in ein akademisches Gerangel darüber zu verwickeln, wie Adorno sich diesen Widerstand widersprüchlicher Formen dachte. Interessanter ist es, zu sehen, wie eine konzertierte Kritik dazu beitragen kann, wirksamen Widerstand in einer Gesellschaft entstehen zu lassen. Die deutlichste Figur ist hier Herbert Marcuse, dessen Buch Der eindimensionale Mensch 1964 vor allem in Frankreich ein internationaler Bestseller wurde. Auf Demonstrationen im Mai 1968 trugen StudentInnen Plakate mit der Aufschrift „Marx, Mao, Marcuse“. Aber das zeigt nur, wie Marcuse mit seiner direkt revolutionären Haltung zu einer Art Emblem für die zusammenlaufenden Kritiken des autoritären Staates, der industriellen Disziplin und der Massenmedien wurde. In Frankreich schrieb Sartre über den „seriellen Menschen“, während Cornelius Castoriadis eine Kritik am bürokratischen Produktivismus entwickelte. In Amerika warnte der Unternehmenssoziologe William Whyte schon 1956 vor der „Organisation Mensch“, während der scheidende Präsident Dwight D. Eisenhower 1961 die technologischen Gefahren des „Militär-Industrie-Komplexes“ denunzierte. Die Fernsehübertragung wurde als das bedeutendste Propagandainstrument des Kapitalismus identifiziert, angefangen mit Vance Packards Buch Die geheimen Verführer: der Griff nach dem Unbewussten in jedermann, das 1957 in den USA erschien, und dann seine radikalere Fortsetzung in Frankreich mit Barthes’ Mythologien und vor allem Debords Gesellschaft des Spektakels findend. Ivan Illich und Paul Goodman attackierten die Schulsysteme als Zentren sozialer Indoktrinierung, R. D. Laing und Félix Guattari riefen nach einer Antipsychiatrie und Henri Lefebvre nach einem Antiurbanismus, den die Situationisten mit ihrer Praxis des Derive in die Tat umsetzten. In seinem Versuch über die Befreiung, direkt nach 1968 geschrieben, ging Marcuse so weit, von einem Ausbruch des Massensurrealismus zu sprechen – der sich, wie er dachte, mit einem Aufstand des rassisierten Lumpenproletariats in den USA und einer breiteren Revolte in der Dritten Welt verbinden könnte.
Ich habe nicht vor, all diese subversiven Handlungen direkt mit der Frankfurter Schule in Verbindung zu bringen. Aber die „große Verweigerung“ der späten sechziger und frühen siebziger Jahre richtete sich eindeutig gegen die militärisch-industriellen Komplexe, die Reglementierung und die Arbeitsdisziplin, die sie hervorbrachten; sie richtete sich auch gegen die Schmeicheleien der Kulturindustrie, die diese Wirklichkeiten versteckten, und vielleicht vor allem gegen die existenziellen und psychosozialen Bedingungen des „autoritären Charakters“. Der rechte Soziologe Samuel Huntington gab genau dies zu, als er die Revolten der sechziger Jahre als „eine allgemeine Herausforderung für die bestehenden Systeme der öffentlichen und privaten Autorität“ beschrieb.[14] Aber er legte damit bloß das Offenkundige dar. In den USA der siebziger Jahre war „Autorität in Frage stellen“ der allgegenwärtige Slogan der Gegenkultur.
Was ich hier in Erinnerung zu rufen versucht habe, ist der intellektuelle Hintergrund einer wirksamen antisystemischen Bewegung, die sich gegen den kapitalistischen Produktivismus in allen seinen Auswirkungen auf Kultur und Subjektivität gewendet hatte. All dies ist in einer berühmten Redensart dieser Zeit zusammengefasst: „On ne peut pas tomber amoureux d'une courbe de croissance“ („In eine Wachstumskurve kann man sich nicht verlieben“). Genau in ihrer Erotik verweist diese Wandschrift des Mai 1968 auf den positiven Inhalt der antisystemischen Kritik, auf etwas, was ich bisher noch nicht erwähnt habe: ein Begehren nach Gleichheit und sozialer Einheit, nach Aufhebung der Klassentrennung. Die grundlegenden Forderungen der radikalen StudentInnen nach Selbstbestimmung und direkter Demokratie waren 1968 das bei weitem gefährlichste Merkmal ihrer linken Ideologie.[15] So schrieb Jürgen Habermas 1973: „Partizipation der Staatsbürger an den politischen Willensbildungsprozessen, also materiale Demokratie, müsste den Widerspruch zwischen der administrativ vergesellschafteten Produktion und einer nach wie vor privaten Aneignung und Verwendung des Mehrwerts zu Bewusstsein bringen.“.[16] In anderen Worten: Die zunehmende demokratische Involvierung würde den Menschen sehr schnell zeigen, wo ihre wirklichen Interessen sind. Wieder scheint Huntington dem zuzustimmen, wenn er die „Krise“ der fortschrittlichen Gesellschaften als „einen Überschuss an Demokratie“ beschreibt.[17]
Man mag sich daran erinnern, dass der berüchtigte Bericht der Trilateralen Kommission, in dem Huntington diese Bemerkung machte, sich besonders besorgt zeigte über die zunehmende „Unregierbarkeit“ der entwickelten Gesellschaften im Gefolge der sozialen Bewegungen der sechziger Jahre. Man mag sich außerdem daran erinnern, dass eben dieses Gespenst der Unregierbarkeit jener Hintergrund war, gegen den Margaret Thatcher in England ihre „konservative Revolution“ anordnen konnte.[18] Anders gesagt, was Huntington „die demokratische Wut“ der sechziger Jahre nannte, war der Hintergrund für die gegenwärtige neoliberale Hegemonie. Die Frage, die ich jetzt gerne stellen möchte, ist daher die folgende: Wie haben die postindustriellen Gesellschaften den „Überschuss an Demokratie“ absorbiert, der von den antiautoritären Revolten freigelegt wurde? Oder um es anders auszudrücken: Wie trugen die sechziger Jahre schließlich dazu bei, die neunziger Jahre tolerierbar zu machen?
Wegscheide und Erholung
„Uns fehlt eine ernsthafte Geschichte der Kooptierung, die korporatives Denken als etwas anderes begreift denn als Cartoons“, schreibt der amerikanische Historiker und Kulturkritiker Thomas Frank.[19] In The Conquest of Cool, einer Geschichte der Werbung und der Modeindustrien, versucht er die spezifischen Strategien freizulegen, die die sechziger Jahre „hip“ und die Neunziger „hegemonial“ machten, indem sie die auf einem lähmenden Konformismus beruhenden Kulturindustrien in sogar noch mächtigere Industrien verwandelten, die auf einem ausufernden Angebot an „Authentizität, Individualität, Differenz und Rebellion“ basierten. Mittels einer Vielzahl von Beispielen zeigt er, wie in den sechziger Jahren das Begehren der bürgerlichen AussteigerInnen rasch in kommodifizierte Bilder und Produkte verwandelt wurde. Die einfache Manipulationstheorie vermeidend, folgert Frank, dass die beteiligten Werbe- und ModedesignerInnen ein existenzielles Interesse an einer Veränderung des Systems hatten. Das Resultat war ein Wandel in „der Ideologie, über die die Wirtschaft ihre Herrschaft über das nationale Leben erklärte“ – ein Wandel, den er beiläufig mit David Harveys Konzept der „flexiblen Akkumulation“ in Verbindung bringt.[20] Was als Erklärung noch aussteht, sind die hinter der Chronik der stylishen Kooptierung liegenden gegenseitigen Beziehungen zwischen individuellen Motiven, ideologischen Rechtfertigungen sowie den komplexen sozialen und technischen Funktionen des neuen ökonomischen Systems.
Als Ausgangspunkt können die wenigen, anregenden Bemerkungen der Unternehmensanalytiker Piore und Sabel in ihrem Buch Das Ende der Massenproduktion (1985) herangezogen werden. Die Autoren sprechen hier von einer Regulationskrise, die „daran sichtbar [wird], dass die bestehenden Institutionen nicht länger in der Lage sind einen angemessenen Ausgleich zwischen Konsumption und Produktion herzustellen“.[21] Sie orten zwei derartige Krisen in der Geschichte der Industriegesellschaften, die wir bereits mit den Augen der Frankfurter Schule betrachtet haben; sie haben „mit dem Aufstieg der Großkonzerne im späten neunzehnten Jahrhundert und mit dem des keynesianischen Wohlfahrtsstaates in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts “ (S. 12) zu tun. Unsere Epoche sah eine dritte derartige Krise: die verlängerte Rezession der siebziger Jahre, die ihren Höhepunkt in den Ölschocks von 1973 und 1979 hatte und während des gesamten Jahrzehnts von endemischen ArbeiterInnenunruhen begleitet wurde. Diese Krise bewirkte den institutionellen Zusammenbruch des fordistischen Regimes der Massenproduktion sowie des Wohlfahrtsstaates und bereitete so den Boden für das Ende der Massenproduktion, das die Autoren in den frühen 1980er Jahren verorten.
„Die kurzen Augenblicke, in denen die Richtung der technologischen Entwicklung selbst zur Debatte steht, nennen wir Wegscheiden der industriellen Entwicklung. In solchen Momenten bestimmten soziale Konflikte, die scheinbar überhaupt nichts miteinander zu tun haben, die Richtung der technologischen Entwicklung auf Jahrzehnte hinaus. Auch wenn sich Unternehmer, Arbeiter, Politiker und Intellektuelle nur ganz dunkel dessen bewusst sind, dass sie vor technologischen Weichenstellungen stehen, ist es doch so, dass die Entscheidungen, die sie treffen, auf lange Zeit hin die ökonomischen Institutionen prägen werden. Industrielle Wegscheiden sind daher Hintergrund oder Rahmen für spätere Regulationskrisen“ (S. 13).
Die Autoren stützen sich auf Beobachtungen in Norditalien und beschreiben das Entstehen eines neuen Produktionsregimes „flexibler Spezialisierung“, das sie folgendermaßen charakterisieren: „Flexible Spezialisierung ist eine Strategie permanenter Innovation: der Anpassung an sich ständig verändernde Bedingungen, und nicht der Versuch, diese unter Kontrolle zu halten“ (S. 26).
Indem sie die zentralisierte Planung der Nachkriegsjahre aufgibt, arbeitet diese neue Strategie über die Vermittlung von kleinen, unabhängigen Produktionseinheiten, beschäftigt geschulte Arbeitsteams mit multifunktionalen Werkzeugkisten und verlässt sich auf relativ spontane Formen der Kooperation mit anderen solchen Teams, um den sich schnell verändernden Markterfordernissen rasch und mit geringem Kostenaufwand zu begegnen. Diese Firmentypen scheinen auf die sozialen Beziehungen zwischen Handwerkern im frühen 19. Jahrhundert zurückzugehen, vor der ersten industriellen Wegscheide, die zur Einführung von Großmaschinen und dem Massenproduktionssystem führte.[22] Die Wirklichkeit in und über Norditalien hinaus war jedoch weit komplexer als alles, was mit dem 19. Jahrhundert in Verbindung gebracht werden konnte, und so konnten Piore und Sabel 1985 die subjektive und organisatorische Wichtigkeit, die eine einzige Produktreihe erlangen sollte, die Rolle von PCs und Telekommunikationssystemen, nicht vorhersagen.[23] Nichtsdestotrotz kann uns der von ihnen aufgezeigte Zusammenhang zwischen einer institutionellen Regulationskrise und einer industriellen Wegscheide dabei helfen, die Schlüsselrolle zu verstehen, die soziale Konflikte – und die Kulturkritik, die dazu beiträgt, diese in den Blick zu nehmen – in der Konturierung der unsere Welt prägenden organisatorischen Formen sowie der Technologie selbst gespielt haben.
Was waren also die Konflikte, die Datenverarbeitung und Telekommunikation in zentrale Produkte für einen neuen ökonomischen Wachstumsschub verwandelten – eine Entwicklung, die nach der Rezession in den siebziger Jahren begann? Welchen Einfluss hatten diese Konflikte auf die Arbeits-, Management- und Konsumptionsregime? Welche gesellschaftlichen Gruppen wurden in die neue Hegemonie des flexiblen Kapitalismus integriert, und auf welche Weise wurden sie integriert? Welche Gruppen wurden zurückgewiesen oder gewaltsam ausgeschlossen, und wie wurde diese Gewalt verdeckt?
Bis dato lieferten Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem 1999 veröffentlichten Buch Der neue Geist des Kapitalismus die gehaltvollste Reihe von Antworten.[24] Die von den AutorInnen formulierte These ist, dass jedes Jahrhundert oder jeder „Geist“ des Kapitalismus seinen irrationalen Akkumulationszwang durch eine zumindest teilweise Integration oder „Einholung“ der Kritik der vorangegangenen Ära rechtfertigen muss, damit das System wieder erträglich werden kann – zumindest für seine eigenen ManagerInnen. Sie machen zwei große Herausforderungen für den Kapitalismus aus: erstens die von ihnen als „Sozialkritik“ bezeichnete Kritik der Ausbeutung, die traditionell von der ArbeiterInnenbewegung entfaltet wurde; und zweitens die von ihnen als „Künstlerkritik“ bezeichnete Kritik der Entfremdung. Letztere war traditionell eine kleine literarische Angelegenheit; sie gewann jedoch durch die von den Universitäten der Wohlfahrtsstaaten betriebene massenkulturelle Erziehung an Bedeutung. Boltanski und Chiapello spüren den Schicksalen der größeren sozialen Gruppen in Frankreich nach dem Aufruhr von 1968 nach, als die Sozialkritik mit der Künstlerkritik gemeinsame Sache machte. Sie zeigen, wie dem am besten organisierten Teil der ArbeiterInnenschaft einmalige ökonomische Gewinne zugeschrieben wurden, während gleichzeitig die zukünftige Produktion graduell reorganisiert und ausgelagert wurde, um sie jenseits gewerkschaftlicher Kontrolle und staatlicher Regulierung stattfinden zu lassen. Aber sie zeigen auch, wie die junge, aufstrebende ManagerInnenklasse, ob an den Universitäten oder in den unteren Etagen des Unternehmens, zum Hauptvektor der Künstlerkritik an Autoritarismus und bürokratischer Unpersönlichkeit wurde. Das starke Argument von Boltanski und Chiapellos Buch ist es, aufzuzeigen, wie die organisatorischen Figuren des Netzwerks als magische Antwort auf die antisystemische Kulturkritik der fünfziger und sechziger Jahre entstanden – eine magische Antwort zumindest für die aufstrebende ManagerInnenklasse.
Worin besteht die soziale und ästhetische Anziehungskraft vernetzter Organisation und Produktion?
Erstens wird der Druck einer rigiden, autoritären Hierarchie gelindert, indem die komplexe Ebene des mittleren Managements aus den fordistischen Unternehmen entfernt und für bewegliche Eins-zu-eins-Beziehungen zwischen Netzwerkmitgliedern geöffnet wurde. Zweitens können in einem Netzwerk spontane Kommunikation, Kreativität sowie der fließende Charakter des Relationalen als Faktoren für Produktivität und Motivation gefördert werden, um derart die Entfremdung unpersönlicher, rationalisierter Prozeduren zu überwinden. Drittens kann eine erweiterte Mobilität in dem Maße toleriert oder sogar gefördert werden, wie die Werkzeugausstattungen zunehmend verkleinert oder sogar rein mental werden und die Arbeit durch Telekommunikationskanäle übertragen wird. Viertens kann die Standardisierung der Produkte, die das sichtbare Kennzeichen der individuellen Entfremdung im Massenproduktionsregime war, abgeschwächt werden durch die Anordnung kleiner oder sogar sehr kleiner Produktionsnetzwerke, die eine limitierte Serie von maßgefertigten Gegenständen oder personalisierten Dienstleistungen produzieren.[25] Fünftens können Begehren stimuliert sowie neue, schnell veraltende Produkte kreiert werden, indem im vor allem multimedial kodierten kulturellen Bereich selbst gearbeitet wird; so wird zugleich die Sinnfrage auf Seiten der Angestellten und KonsumentInnen adressiert als auch das Problem der sinkenden Nachfrage nach langlebigen Gebrauchsgütern gelöst, die von fordistischen Fabriken hergestellt werden.
All diese Vorteile zusammenfassend kann man festhalten, dass die Netzwerkorganisation dem Angestellten – oder besser der „ProsumentIn“ – das Eigentum an ihr selbst zurückgibt, die das traditionelle Unternehmen als Ware Arbeitskraft kaufen wollte. Was fortan das Verhalten der Angestellten modellieren wird, ist weniger zwingende Disziplin als vielmehr eine neue Form verinnerlichter Berufung, ein „Ruf“ nach kreativer Selbsterfüllung in und durch jedes Arbeitsprojekt. Die strikte Trennung zwischen Produktion und Konsumption verschwindet tendenziell, die Entfremdung scheint überwunden, weil die Individuen danach streben, die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen zu lassen.[26] Selbst das Unternehmen beginnt Arbeit qualitativ zu begreifen, als Sphäre kreativer Aktivität, Sphäre der Selbstverwirklichung. Der „konnexionistische Mensch“ oder in meinen Worten die „NetzwerkerIn“ wird durch direkte Überwachung und lähmende Entfremdung dazu gebracht, ManagerIn ihrer sie selbst erfüllenden Tätigkeit zu werden, solange sich diese Tätigkeit irgendwann in einen wertbildenden ökonomischen Austausch übersetzt, der das sine qua non für einen Verbleib im Netzwerk bildet.
Offensichtlich sahen die von Thomas Frank beschriebenen jungen InserentInnen und ModedesignerInnen ein persönliches Interesse in dieser Lockerung der Hierarchien. Aber das gefällige Verfügen über sich selbst sowie das Selbstmanagement der NetzwerkerInnen hatte auch einen ideologischen Vorteil: Als Antwort auf die Forderungen des Mai 1968 wird es zum perfekten Legitimationsargument für die von der kapitalistischen Klasse vorangetriebene kontinuierliche Zerstörung der schwerfälligen, bürokratischen, entfremdenden, profitraubenden Strukturen des Wohlfahrtsstaats, der aber auch den Großteil der historischen Errungenschaften repräsentierte, die ArbeiterInnen mittels der Sozialkritik durchsetzten. Indem sie die ästhetische Kritik der Entfremdung kooptierte, konnte die Kultur des Netzwerkunternehmens den nach und nach erfolgenden Ausschluss der ArbeiterInnenbewegung sowie die Zerstörung von Sozialprogrammen rechtfertigen. So entstand – durch den von Raymond Williams als „selektive Tradition“ beschriebenen Prozess[27] – eine selektive, tendenziöse Version der Künstlerkritik als einer der Angelpunkte jener neuen Hegemonie, die in den frühen achtziger Jahren von Reagan und Thatcher erfunden und durch Clinton und den unnachahmlichen Tony Blair in den neunziger Jahren perfektioniert wurde.
Um sich von den Rückschlägen in den sechziger und siebziger Jahren zu erholen, musste der Kapitalismus doppelt flexibel werden: Gelegenheitsarbeitsverträge sowie „ausgelagerte“ Produktionsstätten wurden eingerichtet, um der Regulierung durch die Wohlfahrtsstaaten zu entgehen; dieser fragmentierte Produktionsapparat wurde dazu verwendet, die Konsumverführungen und die stimulierenden Karrieren zu schaffen, die nötig waren, um die Loyalität potenziell revolutionärer ManagerInnen und intellektueller ArbeiterInnen wiederzugewinnen. Diese doppelte Bewegung bedingt das von David Harvey als Regime „flexibler Akkumulation“ bezeichnete System – ein Begriff, der nicht nur die Struktur und Disziplin neuer Arbeitsprozesse beschreibt, sondern auch Formen und Lebensdauer individuell gefertigter und rasch überflüssiger Produkte sowie neue, unbeständigere Konsumptionsweisen, die das System befördert.[28] Für die Notwendigkeiten einer gegenwärtigen Kulturkritik sollten wir den zentralen Punkt dieser Veränderung zur Kenntnis nehmen: die Rolle des PC, der mit den zugehörigen Telekommunikationsvorrichtungen in über die Welt verstreuten High-Tech-Sweatshops zusammengesetzt wird. Technisch ein Rechner, der auf starrsten Ordnungsprinzipien basiert, wurde der PC durch seine soziale Verwendung in eine Bild- und Sprachmaschine verwandelt: ein produktives Gerät, Kommunikationsvektor und unentbehrlicher Empfänger von immateriellen Gütern und semiotischen oder sogar emotionalen Dienstleistungen, die nun den wichtigsten Sektor der Ökonomie bilden.[29]
Der Computer und die mit ihm verbundenen Vorrichtungen sind zugleich industrielle und kulturelle Werkzeuge, die einen Kompromiss zwischen Kontrolle und Kreativität enthalten, der die durch die Künstlerkritik entfesselte Krise der Kultur vorübergehend auflöste. Die in den Figuren des Nomadismus und des umherschweifenden Begehrens idealisierte Bewegungsfreiheit ist ein Hauptmerkmal dieses Kompromisses. Der Laptop gibt der geschulten intellektuellen ArbeiterIn oder der nomadischen ManagerIn Freiraum für Formen physischer oder phantasmatischer Mobilität, während er zur gleichen Zeit als tragbares Instrument der Kontrolle über die GelegenheitsarbeiterIn und den fragmentierten Produktionsprozess dient; er minimalisiert erfolgreich die jeweils eigenen Zugangshürden zu den verbliebenen bürokratischen Funktionen, während er auch einen privaten Kanal in die Bereiche des virtuellen oder „fiktiven“ Kapitals eröffnet, die Finanzmärkte, in denen trotz der zunehmenden Anzeichen des Umweltverfalls Mehrwert beinahe magisch produziert wird. Derart sichert das organisatorische Paradigma des Netzwerkes eine Autonomie, die auf eine neue produktive Disziplin gelenkt werden kann, in der das über die Distanz erfolgende Management sozialer Beziehungen einen Schlüsselfaktor darstellt, der stets einer doppelten Interpretation offen steht. Diese umfassende Ambivalenz des Netzwerkcomputers zu erkennen – also die Art und Weise, wie kommunikative und kreative Potenziale in die Grundlage einer Ideologie verwandelt wurden, die ihre Fernsteuerungsfunktionen verbirgt – bedeutet die Substanz und Schwäche des hegemonialen Kompromisses zu erkennen, der dem flexiblen Akkumulationsregime des globalisierten Kapitals zugrunde liegt.
Geographische Zerstreuung und globale Koordination der Fertigung, Just-in-time-Produktion und auf Containerbetrieb umgestellte Zustellsysteme, die verallgemeinerte Beschleunigung der Verbrauchszyklen und die Flucht des überakkumulierten Kapitals in die blitzschnelle Finanzsphäre, deren Bewegungen durch die genauso rasche Entwicklung der globalen Medien zugleich reflektiert und stimuliert werden: Dies sind einige der Hauptmerkmale des flexiblen Akkumulationsregimes, wie es sich seit den späten siebziger Jahren entwickelte. David Harvey versteht in grundlegend marxistischer Manier diesen transnationalen Einsatz des Kapitals als eine Reaktion auf die Kämpfe der ArbeiterInnenklasse, die immer häufiger die Tendenz hatten, die in einem national regulierten Raum möglichen Niveaus der Ressourcen- und Arbeitsausbeutung zu beschränken. Piore und Sabel argumentieren auf ähnliche Weise, wenn sie für den Moment einer Wegscheide industrieller Entwicklung geltend machen, dass „soziale Konflikte, die scheinbar keine Verbindungen aufweisen, den Verlauf einer technologischen Entwicklung bestimmen“. Doch selbst wenn Boltanski und Chiapello nicht die volle Ambivalenz des von ihnen beschriebenen Idealtypus erfassen, so ist es trotzdem vorrangig die von ihnen getroffene analytische Einteilung der Widerstandsbewegungen der sechziger Jahre in die beiden Stränge der Künstlerkritik und der Sozialkritik, die uns verstehen lässt, wie sich von der Mitte der achtziger Jahre an die spezifischen ästhetischen Dispositionen und Organisationsstrukturen des flexiblen Charakters herauszubilden begannen, um die Erholung des Kapitalismus vom demokratischen Aufstand der sechziger Jahre – und von diesem her – zu vollenden.
Unter einer neuen Herrschaft
Wenn ich auf der sozialen Form bestehe, die Computer und Telekommunikationssysteme im Zuge der Neuentfaltung des Kapitels nach der Rezession der siebziger Jahren annahmen, dann wegen der zentralen Rolle, die diese Technologien und ihre unterschiedlichen Verwendungen im Aufbruch der heutigen globalen Informationsökonomie gespielt haben. Manuel Castells schreibt, dass „die Produkte der Industrien der neuen Informationstechnologie entweder Vorrichtungen zur Informationsverarbeitung oder Informationsverarbeitung selbst sind“.[30] Er weist somit darauf hin, wie multimedial rekodierte und verarbeitete kulturelle Ausdrucksweisen in die Mehrwert schaffende Sphäre digitalisierter Kommunikationen eintreten können. Tatsächlich glaubt er, dass sie in diese eintreten müssen: „Alle anderen Nachrichten werden auf individuelle Imagination oder die zunehmend mehr marginalisierten ‚Von-Angesicht-zu-Angesicht‘-Subkulturen reduziert.“[31] Castells tendiert jedoch dazu, die Eintrittsbedingungen als grundlegend technologische zu verstehen, ohne die Vorstellung zu entwickeln, dass Technologie selbst durch soziale, politische und kulturelle Beziehungsmuster geformt werden kann. Subjektives und kollektives Handlungsvermögen betrachtet er als wesentliche Entscheidung für oder gegen das Netzwerk, gefolgt von mehr oder weniger realisierbaren Bahnen innerhalb oder außerhalb des herrschenden Systems. Das Netzwerk selbst ist keine Form, sondern ein Schicksal. Jede systemische Veränderung steht außer Frage.
Eine kritische Annäherung kann stattdessen Computer und Telekommunikation als spezifische, biegsame Konfigurationen im größeren Rahmen dessen, was Foucault „gouvernmentale Technologien“ nennt, betrachten. Foucault zielt mit den gouvernmentalen Technologien (oder allgemeiner dem Begriff der „Gouvernementalität“) auf „die Gesamtheit der Praktiken […], mit denen man die Strategien konstituieren, definieren, organisieren und und instrumentalisieren kann, die die Einzelnen in ihrer Freiheit wechselseitig verfolgen können“.[32] Hier steht die Definition eines Grads von Zwang auf dem Spiel, der über das, was Foucault als Freiheit begreift, hinausreicht – das offene Feld von Machtbeziehungen zwischen Individuen, in dem jedes mittels beweglicher Strategien versucht, „das Verhalten von anderen zu lenken“ (to conduct the conduct of others) –, aber noch nicht die Ebene der Herrschaft erreicht, auf der die Machtbeziehungen, wie z. B. durch physischen Zwang, gänzlich unbeweglich werden. Die gouvernementalen Technologien existieren gerade unterhalb dieser Herrschaftsebene: Sie sind subtilere Formen kollektiver Lenkung, die sich für die Regierung demokratischer Gesellschaften eignen, in denen Individuen substanzielle Freiheiten genießen und tendenziell jede offensichtliche Auferlegung von Autorität zurückweisen.
Klarerweise konnte die von Huntington, Thatcher und anderen Neokonservativen Mitte der siebziger Jahre angeprangerte Krise der „Unregierbarkeit“ ihre „Lösung“ nur in der Einführung neuer gouvernementaler Technologien finden, die neue Muster sozialer Beziehungen bestimmten; und mittlerweile ist es ziemlich dringlich geworden, genau zu sehen, wie diese relationalen Technologien funktionieren. Um recht wortwörtlich mit der Hardware zu beginnen, könnten wir die außerordentliche Zunahme von Überwachungspraktiken seit der Einführung der Telematik bedenken. Es ist schon alltäglich geworden, an jeder Schwelle – Grenze, Registrierkasse, U-Bahn-Drehkreuz, Aufnahmestelle im Krankenhaus, Kreditansuchen, kommerzielle Website – die eigenen persönlichen Kennzeichen (oder sogar Körperteile: Finger- oder Handabdruck, Netzhautmuster, DNA) mit Daten in einer entfernten Datenbank vergleichen zu lassen, um zu ermitteln, ob der Durchlass gewährt wird. Dies wird als direkte, manchmal sogar autoritäre Kontrolle sichtbar. Aber wie David Lyon anmerkt „geht jede Ausweitung der Überwachung mit Begründungsmustern einher, die höchstwahrscheinlich von denen akzeptiert werden, deren Daten oder persönliche Informationen vom System bearbeitet werden“.[33] Die überzeugendsten Gründe dafür sind mehr Sicherheit (vor Diebstahl oder Angriffen) sowie Risikomanagement durch unterschiedliche Versicherungen, die persönliche Daten für das Eingehen einer Vertragsbindung verlangen. Diese und andere Argumente führen zur Internalisierung von Überwachungsimperativen, wodurch Menschen ihre Daten aktiv an entfernte Beobachter übermitteln. Aber dieses Beispiel eines freiwilligen Einverständnisses mit den Überwachungsprozeduren ist nur die Spitze des Kontrolleisbergs. Die mächtigeren und politisch lähmenderen Formen von Selbstkontrolle gehen aus den Beziehungen der Individuen zum Arbeitsmarkt hervor – besonders dann, wenn die fragliche Arbeit die Verarbeitung kultureller Informationen betrifft.
Lohnarbeit, ob vor Ort erfolgend oder an entfernten, telematisch mit dem Produktionsprozess verbundenen Plätzen, kann heute offensichtlich auf das Einhalten von Regeln überprüft werden (Überwachungskameras, telefonische Überwachung, Zählung von Tastenanschlägen, elektronische Anwesenheitskontrolle etc.). Für FreelancerInnen kommt hinzu, dass ihre AuftraggeberInnen ganz einfach die Annahme von Arbeitsergebnissen verweigern können, wenn die Produkte oder Lieferbedingungen bestimmten Erwartungen nicht entsprechen. Internalisierte Selbstkontrolle wird zu einer vitalen Notwendigkeit für FreelancerInnen. Auch KulturproduzentInnen bilden da kaum eine Ausnahme, in dem Maße, wie sie ihr inneres Selbst zum Verkauf anbieten: Feine Formen der Selbstzensur werden auf allen Ebenen, am stärksten jedoch auf der Ebene des künstlerischen Ausdrucks die Regel, zumindest in Beziehung zum primären Markt.[34] Aus der Integration kultureller, künstlerischer und ethischer Ideale – sind diese einmal aufgrund ihrer Beständigkeit mit Wert versehen – in die schnelllebigen Verwertungszyklen kapitalistischer Wertsteigerung und Wertverlusts entstehen jedoch tiefere und vielleicht hinterhältigere Effekte. Unter den Datenprozessoren der Kulturökonomie – einschließlich der Unzahl personaler Kategorien in Medienproduktion, Design und Live-Performance, und sich über verschiedene Formen von Serviceangeboten, Beratung, Therapie, Bildung usw. ausweitend – findet ein entpolitisierender Zynismus weitere Verbreitung als Selbstzensur. Dies beschreibt Paolo Virno:
„Die Grundlage des gegenwärtigen Zynismus ist die Tatsache, dass Männer und Frauen eher über die Erfahrung von Regeln als über die Erfahrung von „Tatsachen“ lernen […]. Die Regeln zu lernen bedeutet jedoch auch ihre Unbegründetheit und Konventionalität anzuerkennen. Wir sind nicht länger in ein einzelnes, vorab festgelegtes ‚Spiel‘ eingefügt, an dem wir mit tatsächlicher Überzeugung teilnehmen. Wir sehen uns nun verschiedenen ‚Spielen‘ gegenüber, von denen jedes einzelne aller Deutlichkeit und Ernsthaftigkeit ermangelt und nur die Stätte einer unmittelbaren Selbstaffirmation bildet; einer Affirmation, die viel brutaler und arroganter, viel zynischer ist, je mehr wir – illusionslos, aber im Moment vollkommen an ihnen festhaltend – eben diese Regeln befolgen, deren Konventionalität und Wandlungsfähigkeit wir verstanden haben.“ [35]
Jean-François Lyotard identifizierte im Jahr 1979 Sprachspiele als ein zunehmend bedeutendes Feld der Wertproduktion in kapitalistischen Gesellschaften, in dem sich der Zugang zu Wissen informatisiert und computerisiert vollzieht. Es kommt nicht länger auf eine primäre Untersuchung an als vielmehr auf transformierende „Spielzüge“ innerhalb eines arbiträren semantischen Feldes.[36] Mit dieser linguistischen Wende der Ökonomie wurden unvorhersehbare semiotische Anverwandlungen von Mallarmés „Würfelwurf“ zu einem Gesellschaftsspiel im Wettbewerb, fassbar auf den vom Insiderhandel beherrschten Aktienmärkten, wo Glück nur ein anderes Wort dafür ist, die SpielerInnen nicht zu kennen. Zynismus ist hier zugleich die Folge und die Voraussetzung eines ungebändigten Opportunismus. Paolo Virno beschrieb den Zusammenhang so: „Einer Fülle austauschbarer Chancen gegenüber hält sich der Opportunist so viele wie möglich offen; in einer unvorhersehbaren Wendung ergreift er die nächstliegende.“ Und er fährt fort: „Der Computer ist weniger ein Mittel, um ein eindeutiges Ziel zu erreichen, als die Bedingung fortgesetzter ‚opportunistischer‘ Operationen. Opportunismus gilt als unverzichtbare Ressource, wo ein Arbeitsprozess von einem diffusen ‚kommunikativen Handeln‘ durchzogen ist […]. Computergeschwätz verlangt nach ‚Menschen der Opportunität‘, die bereit sind für jede Chance und auf diese warten“.[37] Opportunismus ist in einem Sprachspiel ein Konformismus gegenüber jedem sich bietenden Vorteil. Auch Politik ordnet sich der Flexibilität und den raschen Umschlagzeiten der Marktbeziehungen unter. Virnos ironischer Hinweis auf Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns spielt darauf an. Habermas sprach in seinem Buch Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973) davon, dass Konsens in demokratischen Gesellschaften darauf beruht, dass die BürgerInnen sicher sind, diskursiv überzeugt werden zu können: „Erst wenn die Handlungsmotive nicht mehr über rechtfertigungsbedürftige Normen laufen würden und die Persönlichkeitsstrukturen nicht mehr unter identitätsverbürgenden Deutungssystemen ihre Einheit finden müssten, könnte das motivlose Akzeptieren von Entscheidungen zur Sache vorwurfsloser Routine gemacht, könnte also Konformitätsbereitschaft in beliebigem Umfang hergestellt werden.“[38] Was für Habermas noch soziale Fiktion war, steht Virno in den frühen 1990er Jahren als Realität vor Augen: Persönlichkeitsstrukturen ohne Anspruch auf subjektive Wahrheit, ohne das Bedürfnis nach einer Garantie durch kollektive Deutungsprozesse. Und noch schlimmer ist, dass sich diese Realität zudem auf die Verzerrung des Autonomieanspruchs der Arbeit gründete, wie ihn die radikale Linke in Italien in den siebziger Jahren artikulierte.
So wird das Argument klar: Die immaterielle ArbeiterIn, die „ProsumentIn“, oder die NetzwerkerIn als flexiblen Charakter zu beschreiben heißt, eine neue Form der Entfremdung zu beschreiben; Entfremdung nicht nur von den Energien und den Begehren der sechziger Jahre, sondern Entfremdung von der politischen Gesellschaft, die im demokratischen Sinn kein profitables Geschäft ist und nicht endlos in der Produktion von Bildern und Gefühlen recycelt werden kann. Die Entwicklung des flexiblen Charakters geht einher mit einer neuen Form sozialer Kontrolle, in der der Kultur eine wichtige Rolle zukommt. Die Kontrolle verzerrt die künstlerischen Revolten gegen den Autoritarismus und die Eindimensionalisierung: Es entsteht ein Set von Praxen und Techniken zur „Konstitution, Definition, Organisation und Instrumentalisierung“ der revolutionären Energien, die in den westlichen Gesellschaften während der sechziger Jahre auftraten und für eine bestimmte Zeit in der Lage zu sein schienen, soziale Beziehungen zu verändern.
Um diese Vorstellung des flexiblen Charakters, also einer vom gegenwärtigen Kapitalismus modellierten und gelenkten Subjektivität, deutlicher werden zu lassen, mag es hilfreich sein, sich die Geschichte einer anderen Gruppe proto-revolutionärer sozialer AkteurInnen außerhalb von Frankreich und über die aufstrebende MangagerInnenklasse hinaus vor Augen zu halten, an deren Beispiel die Gewalttätigkeit des Wechselspiels von Integration und Ausschluss deutlich wird: die Emanzipationsbewegungen des rassisierten Lumpenproletariats, aus dem die mächtigen emanzipatorischen Kräfte der Schwarzen, der Chicanos, der IndianerInnen als je eigene Bewegungen in den sechziger Jahren hervorgingen und auf die danach eine Menge Identitätsgruppen folgte. Hier, an einem der Punkte, an denen das kapitalistische System wirklich bedroht wurde, wird die Dialektik von Integration und Ausschluss auf sehr grausame Weise deutlich. Einerseits dienen die Minderheitenidentitäten heute als Stilressource in der warenförmigen Kulturproduktion und lösen so die Themen von ihrer Verknüpfung mit dem sozialen Antagonismus. So konnten beispielsweise die beschwichtigenden Diskurse der späten Cultural Studies mit ihrem Fokus auf Unterhaltungsmedien für eine exzellente Ablenkung von einem schweren Konflikt sorgen, der in den frühen neunziger Jahren an amerikanischen Universitäten entflammte, als eine Bewegung entstand, die Texte über die Emanzipation von Minderheiten wie etwa Ich, Rigoberta Menchú zu einem Bestandteil des sogenannten „literarischen Kanons“ machen wollte. Mit Hilfe enormer Ressourcen, über die die kommerziellen Medien – Fernsehen, Kino und Popmusik – verfügen, wurden regionale Kulturen und Subkulturen gesampelt, als Waren rekodiert und den gesellschaftlichen Gruppen, aus denen sie hervorgingen, über die Distributionskanäle des Weltmarkts wieder verkauft.[39]
Lokale Differenzen in der Rezeption gelten überall als Beweis der Offenheit und Universalität des globalisierten Produkts. Transnationale Firmen und westliche Regierungen öffnen ihre Führungsebenen für „nicht-weiße“ Subjekte, sofern diese willens sind, das Managementspiel zu spielen. Dies ist ein wesentliches Erfordernis für die Legitimität der transnationalen Governance. Wann immer jedoch eine Identitätsformation problematisch wird und es wahrscheinlich scheint, dass sie das städtische, regionale oder geopolitische Gleichgewicht stört – ich denke hier besonders an die arabische Welt, aber auch an den Balkan –, funktioniert der „cultural touch“ (Boris Buden) auch gegenteilig und erstellt ethnisierte Identität nicht als kommerzielles Gold, sondern als Signifikant eines regressiven und „tribalen“ Autoritarismus, dessen Unterdrückung legitim ist. Das Buch Empire enthält hier eine wesentliche Lehre: Grundlage für eine transnationale Governance ist nicht das Vermeiden, sondern vielmehr die Stimulation und das Management lokaler Konflikte.[40] Tatsächlich werden die USA selbst bereits auf diese Weise regiert, in einem Zustand des permanenten Bürgerkriegs mit niedriger Intensität. Leicht bewältigbare, waffenverbrauchende ethnische Konflikte sind Wasser auf die Mühlen des kapitalistischen Imperiums (Empire). Und die Wirklichkeit des Terrorismus bietet die perfekte Gelegenheit, um Überwachungsfunktionen hervorzuheben – mit voller Zustimmung der Mehrheit der BürgerInnenschaft.
Mit diesen letzten Überlegungen haben wir offensichtlich von der psychosozialen zur geopolitischen Ebene gewechselt. Aber um den Idealtypus richtig zur Funktion zu bringen, sollte man niemals den verhärteten politischen und ökonomischen Rahmen vergessen, aus dem der flexible Charakter hervorgeht. Piore und Sabel unterstreichen, dass das, was sie ein System der „flexiblen Spezialisierung“ nennen, nur ein Aspekt der Antwort auf die Regulationskrise und die Rezession der siebziger Jahre war. Die andere Strategie ist eine globale: Sie „zielt darauf, das Modell der Massenproduktion auszuweiten, indem die Produktionseinrichtungen und Märkte der entwickelten Industrienationen an die Länder der Dritten Welt, die das größte Wachstum aufweisen, angekoppelt werden. Diese Antwort läuft darauf hinaus, dass die Großunternehmen (nun als multinationale Einheiten) zur Stabilisierung der Märkte in einer Welt herangezogen werden, in der die gegebenen Formen der Kooperation zwischen Staaten dieser Aufgabe nicht mehr angemessen sind.“[41] Tatsächlich hat der transnationale Konzern, der von den Finanzmärkten gelenkt wird und dem von der Militärmacht und der Rechtsarchitektur der G-7 Staaten der Rücken gedeckt wird, die ökonomische Governance der Welt von den früheren kolonial-imperialistischen Strukturen übernommen. Er hat nicht einen „multinationalen Keynesianismus“ installiert, der von Piore und Sabel für möglich gehalten wurde – eine Übereinkunft, die regulatorische Mechanismen zur Folge gehabt hätte, um die KonsumentInnennachfrage weltweit zu sichern – sondern stattdessen ein System räuberischen, nach maximalen Shareholder-Renditen berechneten Investments, in dem die makroökonomische Regulierung nur dazu dient, eine minimale Inflation, zollfreien Austausch und niedrige Arbeitskosten zu sichern. An die Stelle des „militärisch-industriellen Komplexes“, der zur Zeit des autoritären Charakters noch als Quelle der Macht angeprangert wurde, ist heute der so genannte „Wall-Street-Schatz-Komplex“ getreten: „eine Machtelite à la C. Wright Mills, ein richtiges Netzwerk gleichgesinnter Leuchten unter den Institutionen – die Wall Street, das US-amerikanische Schatzamt, der IWF und die Weltbank sind die prominentesten unter ihnen“.[42]
Welche Art von Arbeitsregime stellt dieses transnationale Netzwerk einer Machtelite her? Am 13. Juni 2001 konnte man in den Zeitungen lesen, dass eine starke Abnahme der Computerverkäufe zu weltweiten Entlassungen in der Höhe von 10% der Belegschaft bei Compaq und 5% bei Hewlett-Packard geführt hatte – also jeweils 7.000 und 4.700 Jobs. Der hochmobile Dell-Konzern war in dieser Situation bereit, einen Wettbewerbsvorteil aus seiner vielseitigen Belegschaft zu ziehen: „Roboter sind nicht flexibel genug, während jeder Computer einzigartig ist“, erklärte der Präsident von Dell-Europa.[43] Mit seinem Just-in-time-Produktionsprozess kann Dell den Verfall von Komponentenpreisen sofort auf die KonsumentInnen übertragen, da es keine alten Produkte hat, die in Lagerhäusern liegen; gleichzeitig muss Dell auch keine untätigen Hände für reguläre Acht-Stunden-Schichten bezahlen, wenn es keine Arbeit gibt. Folglich hatte Dell Compaq schon den ersten Rang abgelaufen und verlangt nach mehr. „Es wird sein wie in Bosnien“, weidete sich ein höherer Manager. „Solche Marktanteile zu bekommen, ist die Chance des Lebens.“
Eine derart rücksichtslose Freude vor dem Hintergrund von Ausbeutung und Ausschluss ist ganz und gar typisch geworden – ein Beispiel für den Opportunismus und Zynismus, den der flexible Charakter toleriert.[44] War es jedoch wirklich dies, was wir uns von der Kritik der Autorität in den sechziger Jahren erwarteten?
Schlussfolgerungen
Ein Provokateur der Gruppe, die als Yes Men bekannt ist, gab sich kürzlich als Repräsentant der WHO aus und nahm eine Einladung als Redner bei der Konferenz „Textilien der Zukunft“ in Tampere, Finnland, an. Indem Hank Hardy Unruh sowohl eine historische wie auch eine zukunftsbezogene Sichtweise einnahm, erklärte er, dass ein unangenehmes Ereignis wie der US-amerikanische Bürgerkrieg nie hätte passieren müssen: Marktgesetze stellen sicher, dass die baumwollpflückenden SklavInnen im Süden schließlich befreit worden wären. Er argumentierte, dass Unterkunft, Verpflegung, Kleidung und Versicherung für eine SklavIn in einem Land wie Finnland heute unsinnig teuer wären, verglichen mit den Löhnen in einem Land wie Gabun, wo die Kosten für Verpflegung, Kleidung und Miete minimal sind und, besser noch, der Preis für die Versicherung bei Null liegt, da die ArbeiterInnen frei sind. Er warnte jedoch davor, dass die Verwendung von entfernten Arbeitskräften bereits in Indien erprobt worden war: Die Projektion seiner Powerpoint-Präsentation zeigte Footage-Material von Aufständischen, die gegen die britische Herrschaft protestierten. Er erklärte, dass die WHO eine Textillösung gefunden hatte, um niemals wieder eine Situation von ArbeiterInnenrevolten à la Ghandi, mit handgewebter Baumwolle und lokaler Autarkie, entstehen zu lassen.
An dieser Stelle erschien ein Assistent vor der Menge und riss Mr. Unruh seine normale Geschäftskleidung herunter, um einen golden glitzernden, enganliegenden Ganzkörperanzug zu enthüllen, ausgestattet mit einem meterlangen aufblasbaren Phallus, der plötzlich vom Unterleibsbereich hochsprang und eigenständig herumzutanzen schien. Animierte Grafiken auf der Projektion der Powerpoint-Präsentation zeigten einen ähnlich ausgestatteten Mann, der auf einem tropischen Strand herumtobte: Der Management Freizeitanzug, erklärte Unruh, wurde dafür konzipiert, angenehme Informationen durch implantierte Körperchips zu übertragen, wenn in einer entfernten Fabrik alles gut lief. Am Ende der Ausbeulung war jedoch ein Fernsehmonitor mit einem telematischen Kontrollpanel eingebaut, der es dem Manager erlaubte, zu intervenieren, wann immer unangenehme Informationen Probleme in der Herstellung signalisierten: „Das ist der Angestellten-Visualisierungs-Zusatz, ein augenblicklich einsetzbares, an der Hüfte montiertes Gerät mit handfreier Bedienung, das es dem Manager erlaubt, seine Angestellten live zu sehen sowie alle relevanten Daten über sie zu empfangen“ [45], führte Unruh weiter aus, während das Publikum klatschte und pfiff.
Mit dieser absurden Parodie scheinen die Yes Men, archetypische Figuren für die Konsensfähigkeit unserer Gesellschaft, jedes Detail des modernen Kontroll- und Konsumptionsregimes erfasst haben. Könnte sich jemand irgendein besseres Bild eines stilbewussten, technikerfahrenen, nomadischen und hedonistischen Managers vorstellen, der direkt mit den Informationsflüssen verbunden ist, imstande und dazu gezwungen, auf jede Schwankung zu antworten; der aber gleichzeitig sein Leben genießt – im Übermaß von seinen Anleiheoptionen profitiert, immer im Ungewissen zwischen Berufung und Ferien, mit uneingeschränktem Vergnügen und technologischer Kontrolle direkt an seinen Fingerspitzen? Seiner Ethik der Toleranz treu bleibend, liebte das korporative Publikum die Textilien, die Technologien und auch den Witz, zumindest bis tags darauf die gesamte Konferenz in der Presse lächerlich gemacht wurde. Zuckte das Publikum auch zusammen, als Bilder der entfernten ArbeiterInnen – 15-jährige asiatische Frauen auf einem Fabriksboden, Kinder, die auf Drehbänken kauerten – in schneller Abfolge auf der Powerpoint-Projektion erschienen?
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In den flexiblen Charakter schreiben sich die internalisierten und kulturalisierten Muster „weichen“ Zwangs ein, die die Gouvernementalität der Gegenwart kennzeichnen. Sie stehen dennoch in direkter Korrelation mit den „harten“ Fakten der Ausbeutungsverhältnisse, des bürokratischen und polizeilichen Zugriffs, der Grenzregime und Militärinterventionen. Nun, da die typische Charakteristik dieser Mentalität – und dieser „Kulturideologie“[46] – vollends in den Blick getreten ist, ist es höchste Zeit, dass wir uns als Intellektuelle und BürgerInnen gegen die Funktionsweise der Herrschaft von heute auflehnen. Untersuchungen über die Zwangsmuster, die in diesen Typus eingehen, sind eine Weise, wie eine akademische Wissensproduktion zur Produktion einer ansteigenden Welle von demokratischem Dissens beitragen kann. Eine radikale und negative Kritik hat ihr Ziel vor allem im Bereich der „immateriellen“ und „ästhetischen“ Produktion. Jene, die die Frankfurter Schule bewundern oder – was uns näher liegt – die Arbeiten von Michel Foucault, können sich in einer Zeit, in der das neue System und der neue Stil der Herrschaft kristallklar geworden sind, nur schwerlich der Herausforderung verweigern, ihre Analysen auf den neuesten Stand zu bringen.
Doch es ist offensichtlich, dass die bloße Beschreibung des Herrschaftssystems, mag sie auch noch so präzise und wissenschaftlich genau sein, kaum ausreichen wird, um es aufzulösen. Das Konzept der Gouvernementalität verleitet, mit allen Nuancen, leicht zur Selbstbespiegelung, die besser vermieden werden sollte. Die Zeitlosigkeit kritischer Theorie gründet in der Möglichkeit, sich einer hoch differenzierten und äußerst wirkungsvollen Ideologie zu widersetzen, die eine große Zahl früher gangbar scheinender Auswege integriert und neutralisiert hat. Doch gilt es, den toten Punkt zu vermeiden, an dem beispielsweise die Frankfurter Schule ankam: die Sackgasse einer Kritik, die dermaßen totalisierend ist, dass sie keinen Weg mehr offen lässt, außer den einer exzessiv ausgeklügelten, kontemplativen und letztendlich elitären Ästhetik. Kritik heute muss eine öffentliche Praxis bleiben, die sich auf kommunikatives Handeln und, ja, einen kommunikativen Aktivismus einlässt: Die Wiedererfindung einer oppositionellen Kultur, die spezifische Formen schafft, um den unvermeidlichen Versuchen der Kooptierung zu widerstehen.[47] Die Figur des flexiblen Charakters kann öffentlich lächerlich gemacht und satirisch dargestellt werden, die sie stützenden Institutionen können politisch und ökonomisch angegriffen werden, ihre Wesenszüge können in kulturellen und künstlerischen Produktionen bloßgestellt werden. Die Beschreibung des flexiblen Charakters und die Suche nach Alternativen zu ihrer Herrschaft muss es dabei vermeiden, selbst wieder zu einem neuen Zweig der akademischen Industrie zu werden – und zu einem neuen potenziellen Ort für einen immateriellen Produktivismus. Stattdessen kann sie als Chance gesehen werden, neue Formen intellektueller Solidarität zu schaffen, ein kollektives Projekt für eine bessere Gesellschaft. Wenn sie in einer Perspektive der sozialen Veränderung ausgeführt wird, kann die Ausübung negativer Kritik selbst eine mächtige subjektivierende Kraft entwickeln, sie kann eine Möglichkeit sein, sich über die Anforderungen einer gemeinsamen Bemühung selbst zu formen.[48]
Der flexible Charakter ist kein Schicksal. Trotz der Ideologien der Resignation, trotz der undurchdringlich scheinenden Realität gouvernementaler Strukturen in unseren Kontrollgesellschaften spricht nichts dagegen, dass sich die ausgeklügelten Formen kritischen Wissens, die in der spezifischen Zeitlichkeit der Universität ausgearbeitet wurden, direkt mit den neuen und gleichermaßen verzweigten Formen des Dissenses, der sich auf der Straße artikuliert, verbinden könnten. So können in diesem Prozess „Künstlerkritik“ und die Verweigerung der Ausbeutung erneut zusammentreffen. Dieses Crossover wurde bereits im weiten Feld der Bewegungen, die sich der neoliberalen Globalisierung widersetzen, sichtbar.[49] Die Entwicklung einer oppositionellen „Schule“ bezieht sich heute aber auf ein wesentlich größeres Gebiet. Die Infrastruktur der Kommunikation ist heute zumindest teilweise auf Personalcomputer ausgelagert und eine große Menge von „Wissenskapital“ findet sich von den Akademien und Universitäten des Wohlfahrtsstaates in die Körper und Hirne der immateriell Arbeitenden verschoben. Es geht darum, sich diese Aktivposten anzueignen, von dem Gebrauch zu machen, was wir bereits haben, politische Autonomie und demokratischen Dissens zu wagen. Die Geschichte der radikaldemokratischen Bewegungen kann erforscht und vertieft werden, während die Ziele und Wege der gegenwärtigen Bewegung ausformuliert und offen debattiert werden.
Es ist ein ambitioniertes Programm. Doch die Alternative wäre die, einfach weiter das Spiel von anderen zu spielen: immer im Ungewissen zwischen Berufung und Ferien, den Blick auf die letzten Informationen gerichtet, die Finger über den Tasten. Den gezinkten Würfel werfen, wieder und wieder.
Einige Abschnitte dieser Übersetzung basieren auf einer von Thomas Atzert erstellten Teilübersetzung, die unter dem Titel „Mit den Fingern über den Tasten“ in der deutschen Wochenzeitschrift Jungle World veröffentlicht wurde (http://www.jungle-world.com/seiten/2003/04/164.php).
[1] Das Weltsozialforum, das zum ersten Mal in Porto Alegre im Jänner 2001 abgehalten wurde, symbolisiert die Abkehr von der neoklassischen Volkswirtschaft oder „Angebotswirtschaft“. Ein anderes mächtiges Zeichen kann in den Anschuldigungen gesehen werden, die Joseph Stieglitz an seine früheren Arbeitgeber richtet, die Weltbank und, sogar noch bedeutender, den IWF – also die größten transnationalen Organe der neoklassischen Doktrin.
[2] Für eine kurze Geschichte der Cultural Studies als populär-erzieherische Bewegung, sowie für eine theoretischere Abhandlung ihrer Ursprünge und Potenziale vgl. Raymond Williams, "The Future of Cultural Studies" und "The Uses of Cultural Theory", beide in: The Politics of Modernism, London: Verso 1989.
[3] Vgl. Stuart Hall und Tony Jefferson et al., Resistance through Rituals, London: Routledge 1993 (erste Aufl. 1975), besonders den „theoretischen Überblick“ am Anfang des Buches, S. 9–74.
[4] Deutlich wird die Umkehrung mit L. Grossberg et al. (Hg.), Cultural Studies, New York: Routledge 1992; eine Anthologie, die den im großen Maßstab erfolgenden Export der Cultural Studies auf den akademischen Markt in den USA markiert.
[5] Der methodologische Kunstgriff des Idealtypus wurde von Max Weber entwickelt, besonders in Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus; wie wir noch sehen werden, wurde er in den fünfziger Jahren von der Frankfurter Schule als polemische Figur aufgegriffen.
[6] Martin Jay, The Dialectical Imagination, Berkeley: University of California Press 1996 (erste Aufl. 1973), S. 116.
[7] Herbert Marcuse, „Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie“, Schriften Bd. 3, in: Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 286–319; hier zitiert nach Online-Version des Textes: http://www.hanenkamp.de/68er/marcuse-herbert-gesellschaftliche-folgen.htm, abgerufen am 05.10.2006.
[8] Der Begriff „Staatskapitalismus“ ist vertrauter als Anschuldigung gegen den falschen oder gescheiterten Kommunismus der stalinistischen Sowjetunion, etwa in Tony Cliff, Staatskapitalismus in Russland. Eine marxistische Analyse, Frankfurt am Main: Sozialistische Arbeitergruppe 1975 (vgl. online http://www.linksruck.de/litera/tc_sk/); das Konzept, wie es durch die Frankfurter Schule entwickelt wurde, hatte jedoch für alle zentral geplanten Ökonomien Geltung, die nach der großen Depression entstanden.
[9] Friedrich Pollock, „State Capitalism: Its Possibilities and Limitations“ (1941), in: The Essential Frankfurt School Reader, New York: Continuum 1988, S. 78.
[10] Otto Kirchheimer, „Changes in the Structure of Political Compromise“ (1941), in: ebd., S. 70.
[11] Th. W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 31999.
[12] Th. W. Adorno, „Engagement“, in: Noten zur Literatur, Frankfurt am Main: Suhrkamp 61994, S. 409–430, hier S. 411 f.
[13] Ebd., S. 413.
[14] M. Crozier, S. Huntington, J. Watanabi, The Crisis of Democracy (Trilateral Commission, 1975), S. 74.
[15] In den Worten der Pariser enragés: „Was sind die wesentlichen Züge der Macht der Räte? Auflösung aller äußerlichen Macht – direkte und vollständige Demokratie – praktische Vereinheitlichung von Entscheidung und Ausführung – Delegierte, die in jedem Moment von jenen abberufen werden können, die ihnen ihr Mandat erteilten – Hierarchien und unabhängige Spezialisierungen abschaffen – bewusste Verwaltung und Veränderung aller Bedingungen eines befreiten Lebens – permanente, kreative Beteiligung der Massen – internationalistische Ausdehnung und Koordinierung. Nur das sind die gegenwärtigen Forderungen. Selbstverwaltung ist nur das.“ Aus einem Communique vom 30. Mai 1968, unterschrieben ENRAGÉS – INTERNATIONALES SITUATIONISTISCHES KOMITEE, RAT ZUR BEIBEHALTUNG DER BESETZUNGEN, vgl. online: www.slip.net, verfügbar gemacht von Ken Kab.
[16] Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, S. 54 f
[17] The Crisis of Democracy, op. cit., S. 113.
[18] Die Ursprünge der „konservativen Revolution“ beschreibt Keith Dixon in einem ausgezeichneten Buch Les évangélistes du marché, Paris: Raisons d'agir 1998.
[19] Thomas Frank, The Conquest of Cool, Chicago: The University of Chicago Press 1997, S. 8.
[20] Ebd., S. 229; die Bezugnahmen auf Harvey finden sich auf den S. 25 und 233.
[21] Michael J. Piore and Charles F. Sabel, Das Ende der Massenproduktion, Berlin: Wagenbach 1985, S. 12.
[22] Die durch die industriellen Neuerungen in Norditalien inspirierte Untersuchung ist durchzogen von kulturalistischen oder „institutionellen“ Theorien, die behaupten, dass ökonomische Organisationsformen aus allumfassenden sozialen Strukturen erwachsen, welche oft durch die Bezugnahme auf vormoderne Traditionen definiert werden. Solch eine Bezugnahme ist mystifizierend. Wie Antonio Negri schreibt: „Es ist nicht die Erinnerung an frühere Formen der Arbeit, die die überausgebeuteten ArbeiterInnen tayloristischer Schwerindustrien erst zu doppelter Beschäftigung, dann zur Schwarzarbeit, in der Folge zur dezentralisierten Arbeit und zur ManagerInneninitiative führt, sondern vielmehr der Kampf gegen die vom Unternehmenschef vorgeschriebene Geschwindigkeit sowie gegen Gewerkschaft […]. Erst auf Basis der ‚Arbeitsverweigerung‘ als Antriebskraft dieser Flucht aus der Fabrik kann man bestimmte Charakteristika verstehen, von denen in der dezentralisierten Arbeit anfänglich Gebrauch gemacht wurde.“ M. Lazarrato, Y. Moulier-Boutang, A. Negri, G. Santilli, Des entreprises pas comme les autres: Benetton en Italie et Le Sentier à Paris, Paris: Publisud 1993, S. 46.
[23] Piore und Sabel erfassten natürlich die wichtige Rolle von programmierbaren Produktionswerkzeugen in einer flexiblen Produktion (vgl. Das Ende der Massenproduktion, op. cit., S. 286–291). Allgemeiner, so bemerken sie, „besteht die Faszination des Computers – wie in ethnographischen Studien dokumentiert wird – darin, dass der Benutzer ihn seinen eigenen Zielen und Denkgewohnheiten anpassen kann“ (ebd., S. 289); jedoch sahen sie nicht voraus, wie weit dies z. B. in der New Economy, die sich auf diese Faszination gründete, gehen würde.
[24] Luc Boltanski and Eve Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz: UVK 2003; für das Folgende vgl. besonders S. 362–445. Die AutorInnen verwenden die Weber’sche Methodologie, um einen neuen Idealtypus des kapitalistischen Unternehmers vorzuschlagen, den „konnexionistischen Menschen“. Sie beziehen diesen neuen Idealtypus nicht systematisch auf eine neue soziopolitische Ordnung und Produktions-/Konsumptionsweise noch auch erfassen sie die ganze Ambivalenz, die durch die Ursprünge des flexiblen Typus in der Periode um 1968 herum bestimmt ist; dennoch liefern sie eine ausgezeichnete Beschreibung der Ideologie, die entstand, um diese Ambivalenz zu neutralisieren.
[25] Andrea Branzi, einer der norditalienischen DesignerInnen, die diesen Übergang anführten und theoretisierten, unterscheidet zwischen der „homogenen Metropolis“ des massenhaft produzierten industriellen Designs und dem, was er als „hybride Metropolis“ bezeichnet, „die aus der Krise der klassischen Moderne sowie des Rationalismus hervorging und Nischenmärkte, die Roboterisierung der Fließbänder, diversifizierte Serien sowie ethnische und kulturelle Minderheiten entdeckt“. „The Poetics of Balance: Interview with Andrea Branzi“, in: F. Burkhardt und C. Morozzi, Andrea Branzi, Paris: Editions Dis-Voir, o. J., S. 45.
[26] In L'individu incertain (Paris: Hachette 1999, erste Aufl. 1995) beschreibt der Soziologe Alain Ehrenberg das Konsumptionsregime der Nachkriegszeit als „charakterisiert durch eine passive Zuschauerin, die vom [Fernseh‑]Bildschirm fasziniert ist, einhergehend mit einer vorherrschende Kritik, die durch das Modell der Entfremdung geprägt ist“. In der Folge verbindet er die positiven Konnotationen des Computerterminals in unserem eigenen Alltag mit „einem Modell der Kommunikation, das einen Austausch zwischen den Individuen fördert, der thematisch durch Aktivität und Beziehungen geformt und mit Selbstverwirklichung als dem vorherrschenden Konsumptionsstereotyp verbunden wird“ (S. 240). Bemerkenswert ist das Verschwinden der Kritik im zweiten Modell.
[27] Die Wendung „selektive Tradition“ stammt aus dem Aufsatz „When was Modernism?“ in: Raymond Williams, The Politics of Modernism, op. cit.; dieser und der folgende Text begründen die vielleicht dichteste Reflexion Williams’ bezüglich kapitalistischer Entfremdung in der historischen Entwicklung ästhetischer Formen.
[28] David Harvey, The Condition of Postmodernity, Oxford: Blackwell 1990, S. 141–148.
[29] In seinem Text „Immaterielle Arbeit“ schlägt Maurizio Lazarrato das Konzept der ästhetischen Produktion vor: „Um den Prozess der Formierung sozialer Kommunikation und seine Subsumption unter das ‚Ökonomische‘ zu erfassen, ist es nützlicher, anstelle des ‚materiellen‘ Produktionmodells das ‚ästhetische‘ Modell zu verwenden, das eine AutorIn, die Reproduktion und die Rezeption mit einschließt. […] Die ‚AutorIn‘ muss ihre individuelle Dimension ablegen und in einen industriell organisierten Produktionsprozess transformiert werden (mit Arbeitsteilung, Investitionen, Anordnungen usw.), ‚Reproduktion‘ wird zur Massenreproduktion, die sich gemäß den Imperativen der Profitabilität organisiert, und das Publikum (‚Rezeption‘) wird tendenziell zur KonsumentIn/KommunikatorIn.“ In: Radical Thought in Italy: A Potential Politics, hg. v. Paolo Virno and Michael Hardt, Minneapolis: University of Minnesota Press 1996, S. 144. Der Computer ist das zentrale Instrument zur industriellen Organisation der AutorInnenfunktion und steht in einer ständigen Feedback-Beziehung mit der kommunizierenden Öffentlichkeit.
[30] Manuel Castells, The Rise of the Network Society, London: Blackwell 1996, S. 67.
[31] Ebd., S. 374.
[32] Michel Foucault, „Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit“ (Gespräch mit H. Becker, R. Forner-Betancourt, A. Gomez-Müller, 20. Januar 1984), in: Schriften in vier Bänden Dits et Ecrits, Band IV, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005, S. 875; vgl. auch den ausgezeichneten Text von Maurizio Lazarrato, „Du biopouvoir à la biopolitique“, in: Multitudes 1, S. 45–57.
[33] David Lyon, Surveillance Society, Buckingham: Open University Press 2001, S. 44.
[34] Für eine Analyse der Operationsformen von (Selbst‑)Zensur in der gegenwärtigen kulturellen Produktion vgl. Antonella Corsani, Maurizio Lazzarato und Toni Negri, Le bassin du travail immateriel dans la métropole parisienne, Paris: L’Harmattan 1996.
[35] Paolo Virno, „The Ambivalence of Disenchantment“, in: Radical Thought in Italy, op. cit., S. 17 f.
[36] J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien: Passagen 2005, , bes. S. 40 f. und 59 ff.
[37] Paolo Virno, „The Ambivalence of Disenchantment“, op. cit., S. 17. Vgl. Sennetts Diskussion eines US–amerikanischen Regierungsberichts (1991) zu den Fähigkeiten, die Menschen in einer flexiblen Ökonomie benötigen: „[…] im flexiblen Berufsalltag erfinden die ‚Spieler‘ bei der Lösung der Aufgaben die Regeln selbst. […] vergangene Leistungen [schaffen] keinen Anspruch auf gegenwärtigen Lohn; bei jedem Büro‚spiel‘ fängt man wieder von vorn an.“ Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin: Siedler 2000, S. 148.
[38] Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, op.cit, S. 65.
[39] Kann nun eine Forschungsarbeit in den Cultural Studies, wie etwa Dick Hebdiges Klassiker Subculture, the Meaning of Style, direkt von Marketing-SpezialistInnen instrumentalisiert werden? Dies wird in dem Buch Commodify Your Dissent (hg. v. Thomas Frank und Matt Weiland, New York: Norton 1997, S. 73–77) nahe gelegt, in dem Frank und Dave Mulcahey eine fiktive „Kaufempfehlung“ für „Möchtegern-AktienmarktinvestorInnen“ präsentieren: „Consolidated Deviance Inc. (‚ConDev‘) ist unbestritten der führende Konzern der Nation, wenn nicht sogar die einzige Kraft, was Herstellung, Konsultierung, Lizenzierung und Merchandising von abweichenden subkulturellen Praktiken angeht. ConDev brachte mit seiner sehr erfolgreichen Serie ‚SubCults™‘ und den sich massenhaft verkaufenden Jugendkulturkampagnen, die schnellen, stylishen Umsatz und quer durch die Medien verwendbare Accessoires propagierten, den Zauber der Marginalisierten an die konsumierende Öffentlichkeit.“
[40] Vgl. Michael Hardt und Antonio Negri, Empire, Frankfurt am Main: Campus 2002, S. 212: „Der dreifache Imperativ des Empire lautet deshalb: Inkorporiere, differenziere, koordiniere.“
[41] Piore und Sabel, Das Ende der Massenproduktion, op. cit., S. 26; vgl. besonders den Abschnitt über „Multinationalen Keynesianismus“, S. 280 – 285.
[42] Jagdish Bhagwati, „The Capital Myth“, Foreign Affairs Mai/Juni 1998; der Test ist online unter www.asiamedia.ucla.edu zu finden.
[43] „Une crise sans précédent ébranle l'informatique mondiale“, Le Monde, 13. Juni 2001, S. 18.
[44] Der letzte Grund für diese Toleranz scheint Furcht zu sein. In Souffrance en France (Paris: Seuil 1998) untersucht der Arbeitspsychologe Christophe Dejours die „Banalisierung des Bösen“ im gegenwärtigen Management. Neben den vorherrschenden Fällen von perversem oder paranoidem Sadismus macht er den Imperativ, Mut und Potenz zu demonstrieren, als die vorrangige moralische Rechtfertigung für das Erledigen der „schmutzigen Arbeit“ aus (Auswahl für Entlassungen, Erzwingen von Produktivitätsforderungen etc.). „Die kollektive Verteidigungsstrategie macht das Leugnen jenes Leidens erforderlich, das durch die ‚hässlichen Jobs’ verursacht wird […]. Die Ideologie des ökonomischen Rationalismus besteht […] – jenseits der Zurschaustellung von Potenz – darin, dass Zynismus als Charakterstärke, als Entschlossenheit und als hochentwickelter Sinn für kollektive Verantwortungen gutgeheißen wird […], jedenfalls als Sinn für überindividuelle Interessen“ (S. 109 ff.). Dejours findet heraus, dass den Verteidigungsmechanismen sowohl die Furcht vor persönlicher Verantwortung als auch die Furcht davor, selbst Opfer zu werden, zugrunde liegen; vgl. S. 89–118.
[45] Die Geschichte der Yes Men wird erzählt von RtMark, Corporate Consulting for the 21st Century, unter www.rtmark.com; oder direkt unter www.theyesmen.org
[46] Die Vorstellung, dass der gegenwärtige transnationale Kapitalismus sich durch eine „Kulturideologie“ selbst legitimiert und als wünschenswert darstellt, wird von Leslie Sklair entwickelt, und zwar in: The Transnational Capitalist Class, London: Blackwell 2001.
[47] Daher die paradoxe und doch wesentliche Weigerung, die oppositionelle politische Praxis als Gründung einer Partei oder Aufbau einer vereinigten sozialen Klasse zur Ergreifung der Staatsmacht zu verstehen. Unter den besseren Formulierungen dieses Paradoxes ist zu nennen: Miguel Benasayag und Diego Sztulwark, Du contre-pouvoir, Paris: La Decouverte 2000. Es ist kein Zufall, dass sich das Buch auch mit der Möglichkeit einer Veränderung der Formen von Wissensproduktion beschäftigt: „Die Differenz liegt weniger darin, einer Staatsstruktur wie der Universität anzugehören oder nicht, als vielmehr in der Verknüpfung mit alternativen Dynamiken, die Wissensformen mitproduzieren, überarbeiten und verbreiten. Dies muss an Orten einer ‚minoritären‘ (d. h. ‚nicht-hegemonialen‘) Gegenmacht geschehen, die sich nach und nach an der Schaffung eines mächtigen und pulsierenden Blocks der Gegenmacht beteiligen können“ (S. 113).
[48] Die Vorstellung einer neuen, auf einer ethischen Grundlage erfolgenden Zusammenführung zwischen freien und unabhängigen Subjekten scheint für das soziale Band sehr viel mehr zu versprechen als jegliche Wiedereinsetzung der traditionellen Autorität. Richard Sennett verbirgt im Buch der Flexible Mensch, op. cit., S. 153 f., seine Nostalgie für die Letztere nicht; weitaus interessanter ist aber seine Bemerkung, dass in der „Sicht der Gemeinschaft als Prozess […] in neueren politischen Studien einer ‚deliberativen Demokratie‘ […] der sich allmählich entfaltende Ausdruck der Uneinigkeit die Menschen mehr aneinander bindet als die bloße Erklärung ‚korrekter Prinzipien‘“ (S. 198).
[49] Für einen flüchtigen Einblick darin, wie Intellektuelle, AktivistInnen, ArbeiterInnnen und KünstlerInnen an Verweigerungshandlungen mitwirken können, vgl. Susan George, „Fixing or nixing the WTO“, in Le Monde diplomatique, Januar 2000, verfügbar unter www.en.monde-diplomatique.fr/2000/01/07george