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04 2007

In der unendlichen Arbeit der Übersetzung nimmt eine unmögliche Karte Gestalt an. Der Andere, der neben uns geht, wird entworfen.

Anna Nadotti

Übersetzt von Klaus Neundlinger

„Not being a scholar, only an observer of life […] so this is a personal view.“[1] Ich mache mir diese Worte von Nayantara Saghal zu eigen, um vorwegzunehmen, dass ich einen sehr subjektiven Standpunkt einnehmen werde, dass ich in gewisser Weise die Grenze schon überschritten habe.

 
Eine Vorbemerkung

Durch meine Arbeit als Übersetzerin habe ich mich daran gewöhnt, mich an einer feinen Grenze aufzuhalten, deren Brüchigkeit zu meinem Glück nicht auf Willkür und Gewalt zurückgeht, sondern auf die friedliche Koexistenz der Sprachen, auf deren Arbeit der gegenseitigen Spiegelung und auch auf das wechselseitige Hinzufügen oder Aushöhlen von Sinn. Daher, von der Entzauberung und gleichzeitig faszinierenden Demokratie der Sprachen, sowie von den regelmäßigen Besuchen des indischen Subkontinents stammt, so glaube ich, mein Bedürfnis, Karten mit großer Behutsamkeit zu betrachten.

„Nicht die Geografie zählt, sondern die Art und Weise, wie die Karten über das Territorium gelegt werden. Alle Karten sind flach, doch nicht alles, was flach ist, ist eine Karte.“ Diese feinsinnige Bemerkung machte Sanjay Chaturvedi, ein Lehrender und Programmverantwortlicher am Zentrum für geopolitische Studien der Universität von Chandigarh (der Stadt, mit der Nehru nach der Teilung Indien für den Verlust von Lahore entschädigen wollte und deren Planung er bei Le Corbusier in Auftrag gab[2]) während eines Seminars an der Universität Paris VIII.[3] Auf Englisch hat der Satz von Chaturvedi einen seltsam lautmalerischen Klang: „It isn’t geography that counts, but how meaning maps have been overlapped to the territory. All the maps are flat, but not all flatness is a map.“ Man hat fast den Eindruck, als hörte man das Geräusch der großen Blätter aus Millimeterpapier, die über den Boden ausgebreitet werden, das Rauschen des Pauspapiers mit den mit schwarzer Tinte gezogenen Linien, die sich über das legen, was homogen, einheitlich und gemeinsam war, und es teilen. Es sei denn diese zerbrechlichen Karten der Bedeutung werden später wieder aufgehoben und die Grenzen mit ihrem blutigen Bündel an erfundenen Traditionen verschoben.

„Die Kartografie ist eine europäische Wissenschaft, deren Zweck die Kontrolle ist (divide et impera … und lasse es zurück) und die der Machtausübung dient. Unsere Geografie ist symbolisch, d. h. Nähe und Ferne sind relativ. Doch wir verirren uns deswegen nicht“, sagte mir einmal Krishna Menon, Mitbegründer und Leiter des Instituts für Höhere Studien in Architektur in Delhi. Er lächelte dabei und bog von einer der großen Straßen des neuen Delhi, der Hauptstadt des britischen Raj, in eine schmale Straße ein, die in das Labyrinth von Gassen einer alten muslimischen Enklave führt. Schließlich kamen wir zu jenem Rasenplatz, der eines der schönsten Gebäude der Stadt umgibt, die Khirkhi Masjid, die Fenster-Moschee (1380), ein Destillat aus Harmonie, das aus massiven Mauern besteht – die den Bau zwar abschließen, ihn aber im zweiten Stock mit einer ungewohnten, kostbaren Fensterreihe nach außen hin öffnen.

Amitav Ghosh schreibt in der Einleitung zu seinem Buch Dancing in Cambodia, At Large in Burma: „Die Karten, die wir im Kopf haben, entsprechen nur annäherungsweise den Atlanten, die wir in der Schulzeit betrachteten. Sie nehmen in der Verborgenheit unserer Erinnerung Gestalt an und folgen Linien, die uns mitgelauschte Gespräche, alte Fotos und Bücher vorgeben, an die wir uns mehr schlecht als recht erinnern.“[4] Mit diesen Identitäten muss ich mich auseinandersetzen, wenn ich übersetze oder lese, mit ihrer bewussten Positionierung von manchmal aus Zwang, manchmal aus freier Entscheidung deterritorialisierten Subjekten. Ausgeweitete, sich überlagernde Identitäten, Ergebnis einer Vielzahl an Zugehörigkeiten, Derivat einer komplexen und anerkannten historischen Schichtung, zu der auch die Kolonialzeit gehört. Doch es kommt noch etwas hinzu. In diesem Land, in dem jeder Schritt ein moralisches Dilemma darstellt, gilt es einen entscheidenden Umstand hinsichtlich der Sprache zu berücksichtigen, insofern, als in Indien „die Sprache natürlich notwendig Übersetzung ist“[5].

„Wäre die Bibel in Indien geschrieben worden, dann wäre die Geschichte anders verlaufen. Es genügt, uns drei hier zuhause anzuschauen, jeder spricht eine andere Sprache! Und dennoch herrscht kein Chaos, wir haben das Problem auf elegante Weise umgangen, indem wir Englisch sprechen. Das ist auch angenehm für mich. Es verhindert eine allzu große Intimität und garantiert, dass unser Verhältnis von formaler Höflichkeit geprägt ist. […] Sie hingegen verlässt das Englische, geht zum Kannada oder zum Hindi über und mischt die Sprachen, sie dringt in für sie unbekannte Gebiete vor, ohne sich der Risiken bewusst zu sein“, schreibt Shashi Deshpande in einem ihrer letzten Romane.[6]

Fast wie ein Echo darauf klingt folgende Stelle aus einem Essay von C. S. Lakshmi: „Ich schreibe auf Tamil, lebe in Bombay, bin in Bangalore aufgewachsen, habe in Delhi studiert und einen Mann aus Rajastan geheiratet. Ich bin also eine echte Inderin. Und obwohl ich auf Tamil schreibe, fließen in meine Sprache auch alle anderen Erfahrungssprachen ein.“[7]

Nicht die verschiedenen Sprachen sind also für das Chaos verantwortlich, denn das Chaos kann auch dort ausbrechen, wo alle dieselben Wörter verwenden. Es könnte auch gar nicht anders sein in einem Land, in dem die Vielfalt der Sprachen a) historisch nicht mit Brüchen zusammenfällt, sondern mit einer jahrtausendealten Sedimentierung von Kulturen; b) sich dem Kolonialsystem widersetzt und auch dessen Sprache verwendet, die jedoch aufgesogen, angeeignet und vortrefflich nach einer anderen Partitur gespielt wird; c) Verschiebungen auslöst, die tendenziell jeden Bereich des intellektuellen Lebens und der kulturellen Produktion erfassen.[8]

 
Eine unmögliche Karte

Ich möchte mit dem Entwerfen einer unmöglichen Karte bei der außergewöhnlichen Forschungs- und Dokumentationsarbeit über Zensur und Selbstzensur beginnen, die von einer Gruppe indischer Forscherinnen und Schriftstellerinnen durchgeführt und in drei äußerst interessanten Bänden veröffentlicht wurde: The Guarded Tongue. Women’s Writing & Censorship in India, WORLD/Asmita Project 2001; The Tongue Set Free, Women Writers Speak about Censorship, WORLD/Asmita Project 2002; Speaking in Tongues. Gender, Censorship & Voice in Hindi, WORLD/Asmita Project 2002.

Diese Arbeit hat drei Jahre gedauert, Forscherinnen und Schriftstellerinnen aus allen indischen Bundesstaaten waren eingebunden. Um die Atmosphäre und den Reichtum dieser Treffen zu beschreiben, überlasse ich das Wort den Teilnehmerinnen: „In den Vororten von Hyderabad, weit enfernt vom Treiben der Massen, fand eine ungewöhnliche Versammlung von Frauen statt. Die Interaktionen bei diesem Treffen können höchstens mit Babel verglichen werden: 65 Schriftstellerinnen aus den verschiedenen Teilen Indiens sprachen in mehr als elf Sprachen. Und doch konnten sie sich einander und allen, die das Privileg genossen, bei dieser einzigartigen Literaturveranstaltung zuzuhören, einem nationalen Kolloquium von weiblichen Autoren in Indien, hervorragend verständlich machen […].“[9]

Aus diesem potenziellen, letztlich jedoch höchst vernunftgeleiteten Babel, in dem alle anwesenden Frauen den anderen Respekt erwiesen haben, indem sie einander zuhörten, sind drei Bände in englischer Sprache hervorgegangen, deren Verdienst es ist, ein breiteres, vollständigeres und, wenn ich das sagen darf, faszinierenderes Bild von der literarischen Produktion in den vielen Sprachen des Subkontinents liefern.

Schön ist aus meiner Sicht, dass sich die Spuren dieser Initiativen nicht verlieren. Es kommt nicht zu jenem ständigen Entstehen und Vergehen von Initiativen, das wir in der Frauenbewegung so oft thematisiert haben. Ich habe den Eindruck, dass der Feminismus in Indien ganz anders verwurzelt ist als in Italien. Es gibt Wurzeln in der Luft und Wurzeln, die den Boden in alle Richtungen durchdringen, manchmal gehen sie in die Tiefe, manchmal verlaufen sie schlangenförmig an der Oberfläche entlang. Sie kommen in den Dörfern und in den Elendsvierteln der Großstädte zum Vorschein, nehmen Luft und Wasser in sich auf, ohne Furcht vor Vermischungen und Hybridisierungen, genauso wie die Sprachen. And Who Will Make the Chapatis?[10] Wer wird jenes dünne Brot zubereiten, das im ganzen Land als Grundnahrungsmittel dient? Diese Frage, mit der sich ein Mann in einem ländlichen Gebiet an seine Frau richtete, die einen Kurs besuchen wollte, um die Verwaltung des Dorfes übernehmen zu können, findet ihre erste Antwort in den Erfahrungen einiger Dorfräte, der panchayats, die nur aus in der Landwirtschaft tätigen Frauen bestehen. Zur (technischen, administrativen, medizinischen) Ausbildung dieser Frauen tragen wiederum Ärztinnen, Ingenieurinnen, Architektinnen, Stadtplanerinnen, Ökonominnen, Wissenschaftlerinnen, Filmemacherinnen und Schriftstellerinnen bei. Das solchermaßen entstehende dichte Netz an politischen und kulturellen Beziehungen lässt in der Übertragung der Aufgabe an andere, die Chapatis zu backen, einen Schlüssel zur Umkehrung der produktiven Rollen erkennen, wodurch sich völlig neue Wege eröffnen. Es genügt, daran zu denken, wie der Mikrokredit die Kooperativen und das entstehende Unternehmerinnentum der Frauen fördert, oder daran, dass die Frauen beim Kampf gegen gentechnisch veränderte Organismen eine führende Rolle einnehmen.

„Sie hatte im Sinn, ein Buch über Indien zu schreiben, den Anblick und das Gewebe von Erde und Himmel – und dazwischen alle Abstufungen der Jahreszeiten. Die Leute schrieben historische Romane, doch hier gab es eine romantische Geografie, die fast zu viel war für ein einziges Land. Im äußersten Norden erhob sich die 60 Millionen Jahre alte Gebirgskette des Himalaya, die aus einem verschwundenen Meer aufgetaucht war. Im äußersten Süden und über drei Viertel des Umfangs erstreckte sich der immense Indische Ozean. In der Mitte des Kontinents die geschichtsträchtigen Flüsse, der Ganges und der Brahmaputra, die die viele Kilometer langen Ebenen durchquerten. Schließlich die Ebenen selbst, von Kontrasten durchsetzt: Monatelanger Regen in den Tropengebieten und von der Sonne verbrannte Wüstenlandschaften. Es gab auch einen indischen Frühling […]. Jemand musste doch die felsigen Hochebenen beschreiben, deren Quellwasser sich in der Zeit der Schmelze in Sturzbächen über die Hänge ergoss. Es war ein großartiges, objektives Erbe ohne Anfang und Ende, mit seinen unveränderlichen, jeder Erneuerung gegenüber resistenten Zyklen. Die Kultur war erst viel später gekommen. Ernährt von dieser Halbinsel, die sich unendlich ausdehnte. Jemand musste sie in Sprache übersetzen.“[11]

Niemals hatte ich wie in Indien das Gefühl, dass der Gegenstand meiner Beobachtungen, meiner Forschungen nicht mittels vorgegebener Schemata einzufangen war. In erster Linie waren diese Forschungen ohne Zweifel literarischer Natur, doch war ich bald gezwungen, mein Interesse auf andere Bereiche auszudehnen, in einem unablässigen Hin- und Herwandern zwischen verschiedenen Disziplinen. Die „unglaubliche“ und oft nicht fassbare Geografie dieses Landes scheint jeden Aspekt seines Lebens zu bestimmen, und die kulturelle Produktion stellt diesbezüglich keine Ausnahme dar.

Wer den Film Lagaan (2001) von Ashutosh Gowariker gesehen hat, hat sicherlich bemerkt, wie eine Partie Kricket, wenn sie vom draufgängerischen und doch bewussten Gebrauch der Handkamera eingefangen wird – von einer Hand mit einem ausgeprägten historischen und geografischen Bewusstsein –, nicht nur als Metapher dient, sondern zur Beschreibung eines historischen Prozesses wird, zur wirksam verdichteten Darstellung des Unabhängigkeitskampfes in Technicolor, ja sogar der Romanze zwischen dem Premier Nehru und Lady Mountbatten. Ich behaupte, dass Gowariker noch weiter geht: In dem Augenblick, in dem er das Abstecken des improvisierten Kricketfeldes zeigt, verwandelt er den Ort in einen öffentlichen Raum, in dem das koloniale Subjekt zum sozialen Akteur wird, zum Gestalter seiner eigenen Geschichte.

Bleiben wir im Bereich der Produktionen mit hohem Budget und großer medialer Resonanz, so würde ich sagen, dass Monsoon Wedding von Mira Nair unter der Oberfläche der Musical-Inszenierung ebenfalls ein dichtes Netz an sozialen und anthropologischen Schattierungen erkennen lässt.[12] Wenden wir uns jedoch von den wenigen Produktionen ab, die über die großen Verleihfirmen auf der Basis vorsichtiger Strategien in den Westen gelangen, dann entdecken wir unabhängige Produktionen von großem Interesse (die man bei uns leider nur bei den Festivals oder in den Zirkeln der No-Global-Bewegung zu sehen bekommt), wie zum Beispiel War and Peace (Indien 2002): Der Film hat nichts mit dem gleichnamigen Roman von Tolstoj zu tun, sondern wurde 2001/2002 von Anand Patwardhan und Simantini Dhuru gedreht. Die beiden sind nicht nur FilmemacherInnen, sondern auch AktivistInnen der Bürgerrechtsbewegung. Bei ihrem Werk handelt es sich um einen Dokumentarfilm, einen historischen Essay, eine Reflexion über den Pazifismus, den Militarismus, den Hindu-Nationalismus, die Kasten, die Dalits, aber auch über die globalisierte Welt, die sich in Hiroshima ankündigt und auf dem Ground Zero einen Höhepunkt erreicht.[13]

Ich halte mich etwas länger bei diesem Punkt auf, weil ich überzeugt bin, dass eine wenn auch unvollständige Karte der indischen Kulturproduktion sich einer Reflexion über Kino und Video nicht entziehen kann (von den Meisterwerken eines Satyajit Ray bis zum heutigen parallelen bengalischen, tamilischen und keralischen Kino bzw. dem Kino, das unter dem Namen Bollywood bekannt ist), sowohl in historischer Perspektive als auch hinsichtlich der heutigen Produktionen. In einer solchen Reflexion zeigt sich, was bereits im Bereich der Literatur offensichtlich war, nämlich dass die anthropologische, historische, sozialwissenschaftliche Forschung und die experimentelle künstlerische Arbeit sich überschneiden und miteinander verwoben sind, sodass es zum Beispiel schwer möglich ist, den Einfluss der Postcolonial Studies und der Subaltern Studies nicht wahrzunehmen, zu denen ForscherInnen dieses Landes, ob sie nun in Indien leben oder anderswo, wesentliche Beiträge geliefert haben. Ich denke hier natürlich an Gayatri C. Spivak, Arjun Appadurai, Dipesh Chakrabarty, Homi Bhabha, Shahid Amin, Partha Chatterjee; an die literaturkritischen Essays von Meenakhsi Mukherjee; aber auch an einen Intellektuellen und Verleger wie den verstorbenen Ravi Dayal, eine Figur, die im Westen ob der Konzentrationsprozesse im Verlagswesen immer mehr verschwindet. Dayal hatte den Mut, wesentliche Zeitschriften zu gründen und zu betreuen, etwa Subaltern Studies und, mit anderer Zielstellung und anderen Themen, Civil Lines.

Ich denke auch an erklärtermaßen feministische Verlage wie Women Unlimited[14] und Zubaan[15] in Delhi oder Stree & Samya[16] in Kalkutta. Ich denke an Seagull[17], einen Verlag mit Sitz ebenfalls in Kalkutta, der sich um die Übersetzung der Werke von Mahasveta Devi kümmert. Ich denke an wertvolle und innovative Zeitschriften wie Gallerie[18] und The Little Magazine[19]. Dies sind nur einige Beispiele, um auf die methodische Arbeit der Verbreitung, des Austausches und der kulturellen Verschmelzung zu verweisen, die auf dem Subkontinent geleistet wird.

Wahrscheinlich nährt der Sprachpluralismus zusammen mit der alten und neueren Geschichte den kulturellen Eifer des Subkontinents. Er führt dazu, dass man den eigenen Standpunkt infrage stellt, da man ihn immer übersetzen muss, sobald man ihn darstellt. Gemeinschaften, die durch ethnische und religiöse Zugehörigkeit vereint, aber durch die Sprache getrennt sind, haben, um zu überleben, notwendig eine Anpassungsfähigkeit erlangt, die zwar die Ungerechtigkeiten des Kastensystems nicht zu beseitigen und die dramatischen Konflikte unter den einzelnen Gemeinschaften nicht zu lösen vermag, die jedoch hilft, nachzuforschen und zu verstehen, und dazu beiträgt, ein dichtes Netz an Initiativen zu schaffen, eine enge Verbindung von politischem Aktivismus und intellektuellem Engagement.

In dieser Hinsicht scheinen mir zwei Arbeiten exemplarisch und extrem kohärent, die im Rahmen der Documenta11 in Kassel 2002 ausgestellt waren und die ich im Folgenden kurz beschreiben möchte.

Das erste Werk ist ein Dokumentarfilm von Amar Kanwar, A Season Outside. Der Regisseur untersucht die Art und Weise, auf die die Identitäten in Wagha, einem Ort an der indisch-pakistanischen Grenze, inszeniert und konstruiert werden. Dort findet jeden Tag eine Art von Zeremonie statt: Gittertore werden geöffnet und wieder geschlossen, zwischen dem einen und dem anderen entsteht ein „Innen“, das in Wirklichkeit ein Niemandsland darstellt, welches durch eine dünne weiße Linie auf dem Boden in zwei Teile geteilt ist. Die beiden Gemeinschaften, welche die Geschichte zu Feinden gemacht hat, kommen solchermaßen in die Situation, der Zeremonie „von außen“ beizuwohnen, während die Militärs in jenem Niemandsland ihre doppelte Performance ausführen: Einerseits bestätigen sie im Namen der jeweils eigenen Nation eine Grenze, und andererseits setzen sie die „Männlichkeit“ in Szene, die ihnen Nation und Familien auferlegen. Dasselbe Bild von Männlichkeit auf beiden Seiten der weißen Linie: Die mit Abzeichen überladene Uniform, die theatralische Steifheit der Bewegungen, die das Objektiv aus der Nähe einfängt und die vor der Kamerabewegung noch intensiver erscheint, entlarven eine Männlichkeit, die sich kriegerisch gibt, und heben das Moment der Travestie hervor. Der Film macht aus dem Zeremoniell eine groteske Pantomime, die von einer Masse milder Augen beobachtet wird, deren Besitzer dicht gedrängt hinter den Gittertoren stehen, also „außerhalb des Ortes der Inszenierung“. Kanwar unterstreicht die Absurdität der Grenze mittels der Darstellung der Absurdität der Männlichkeit, die damit beauftragt ist, sie zu ziehen und zu verteidigen. Kurze Zeit darauf führt uns der Regisseur an eine andere Art von Grenze, nämlich in das größte tibetische Flüchtlingslager auf indischem Territorium in Delhi. Er zwingt uns dazu, uns mit einer anderen Tradition auseinanderzusetzen, mit anderen Verhaltensweisen, einer Männlichkeit, die sich der Gewalt nicht beugt, sie aber auch nicht ausübt.

Die Arbeit von Kanwar zeichnet sich durch seinen intellektuellen Anspruch, die Kohärenz und Feinheit aus, in ihrem Mittelpunkt stehen zudem alle großen Themen, die Indien heute beschäftigen: Grenzen, Kasten, die Rechte der Tribals und der Dalits, die Konflikte unter den Gemeinschaften, die Zerstörung des Territoriums: The Many Faces of Madness (1998). Der Wahnsinn wird nicht nur in Kanwars Werken dokumentiert, sondern auch in denen weiterer politisch engagierter Filmemacher wie Rakesh Sharma (Aftershocks – The Rough Guide to Democracy, 2002), Sanjay Kak (Words on Water, 2002), Aradhana Seth und Arundhati Roy (Dam/Age, 2002).[20]

28°28’ N / 77°15’ E: 2001-2002 (An Installation on the Co-ordinates of Everyday Life in Delhi) ist der Titel einer komplexen Installation, die ebenfalls auf der Documenta11 vom RAQS MEDIA COLLECTIVE ausgestellt wurde, einer Gruppe von MedienkünstlerInnen aus Delhi. Ihre Installation lässt viele Möglichkeiten der Interpretation der Erfahrung des städtischen Raumes zu. Sie beobachtet das Werden und Vergehen der städtischen Territorien. Das im Internet zugängliche Werk soll Gelegenheit zur interaktiven Gestaltung bieten, in deren Rahmen der/die einzelne BürgerIn die Koordinaten des Gebrauchs der Stadt modifiziert, indem er/sie den Beobachtungspunkt, ein Verkehrszeichen, die Zeit der Beobachtung, das Fortbewegungsmittel wechselt oder verändert. Die Koordinaten des Gebrauchs sind „das urbane Geflecht, das durch unzählige soziale, politische und die Umwelt betreffende Formen des Missbrauchs gekennzeichnet ist“. Zwei Beispiele aus der Installation, die mich auf eine Reflexion über die Labilität der Grenzen und ihren unterschiedlichen symbolischen und erzählerischen Gebrauch zurückführen:

- die Innenwand eines abgerissenen Hauses, die deshalb zur Außenwand wird. Was im Inneren des Hauses zur Dekoration gehörte, wird in der Außenansicht zum Graffito, es verändert seine Bedeutung, präsentiert sich als Raum für eine andersartige Kommunikation.

- die Terrassen, ein privater, geheimer, wenn auch im Freien befindlicher Raum (ein in der indischen Literatur oftmals gebrauchter Topos; man könnte dem Leben, das sich in diesen Räumen abspielt, ein ganzes Buch widmen; manchmal sind diese klein und improvisiert, manchmal riesige, streng entworfene Anlagen begüterter Besitzer; immer aber verbringen die BewohnerInnen dort viel Zeit). In der Installation werden diese Terrassen von oben gezeigt, d. h. sie werden für den Blick von außen freigegeben. Auf nicht zulässige Weise vom Auge der Kamera erforscht, wird dieser private Raum öffentlich. Er verliert seine eigentliche Funktion und wird zum Ort, den man fliehen muss, um sich in der Sicherheit des Innenraums einzuschließen. Diesmal aber entpuppt sich der Innenraum als Falle. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass die Figur, die zuerst verdutzt, dann ängstlich reagiert ob des unerwarteten Auges, das sie zuerst von oben erfasst und dann näher kommt, sie fixiert und bedrängt, dass diese Figur eine Frau ist, die sich des einzigen Raumes beraubt sieht, der nicht streng durch die häuslichen Gebräuche geregelt ist. Sie zieht sich auf die Koordinaten 0° N / 0° E zurück: außerhalb der Zeit?

Drei verschiedene Arten des Erzählens (jene von Kanwar, jene des RAQS- Kollektivs und jene von Patwardhan und Duhru), alle drei anhand von Bildern, die wesentliche Fragen zu unserer Wahrnehmung des Raumes stellen, zur Art und Weise, auf die sein Sich-Entwerfen und/oder sein Verschwinden mit der Identität und den Erzählweisen interferieren.

Ich bewege mich hartnäckig weiter auf diesem nichtkanonischen Weg und möchte Sie einladen, den Genuss zweier überraschender Unterrichtsstunden mit mir zu teilen: Eine Vorlesung über das Kino wird von Amartya Sen, dem Nobelpreisträger für Ökonomie, gehalten, und eine Vorlesung von P. K. Nair, einem Historiker, der sich mit Stummfilm beschäftigt und der früher Leiter des Filmarchivs von Pune war.

Für leidenschaftliche KinogängerInnen wie mich ist das, was Amartya Sen uns zu sagen hat, wirklich außergewöhnlich (und in diesem Fall bringt das englische Wort lecture besser als das italienische Wort lezione zum Ausdruck, dass es sich dabei um eine Lesart handelt, eine Interpretation, die anderen gewissermaßen mit lauter Stimme mitgeteilt wird). Der Forscher und Ökonom betrachtet Kalkutta, er liest die Stadt, wie sie in den Filmen von Satyajit Ray gezeigt wird. Er fügt seinen Blick dem des großen Regisseurs hinzu, ohne diesen zu überlagern, und erzählt die Stadt, in der die beiden geboren und aufgewachsen sind, er untersucht sie in jenem Schwarz-Weiß, das der Stadt mehr als alle anderen Farben eigen ist. Er erschließt uns dabei einen Reichtum an Bedeutungen und impliziten Voraussetzungen, die eine rein filmische Analyse nicht bieten könnte. Sen wird zum Zuseher, um den eigenen, durch die verschiedenen disziplinenspezifischen Zugänge fragmentierten Blick wieder zusammenzusetzen, und findet die Stadt in ihrer Gesamtheit wieder, als geografischen Ort und historisch-soziale Einheit, als Wiege von Kultur und Kunst.[21] P. K. Nair wiederum liefert in seinem wichtigen Aufsatz „The Caste Factor in Indian Cinema“ eine meiner Ansicht nach exemplarische Interpretation der manchmal realistischen, manchmal metaphorischen oder symbolischen Darstellungsweisen des indischen Kastensystems:

„Die religiösen Wurzeln des indischen Kinos gehen auf seine Ursprünge zurück. Kurze Zeit nachdem die Brüder Lumière am 7. Juli 1886 die neue Erfindung, das Aufnahmegerät, im Hotel Watson in Bombay vorgestellt hatten, fingen viele Theaterdirektoren, die eine solche Maschine besaßen, damit an, die sie umgebende Realität auf Zelluloid zu bannen. Ihre Wahrnehmung war vollkommen verschieden von der ihrer ausländischen Kollegen, die sich in ihren ersten Produktionen – und vielleicht auch in der Folge – von den exotischen und mystischen Aspekten des Landes fesseln ließen. Es war nur natürlich, dass Dhundiraj Govind Phalke, besser bekannt unter dem Namen Dadasaheb Phalke, ein Pionier des indischen Films, das Material für die erste indische Geschichte, die auf die Leinwand kam (King Harischandra, 1913), dem unerschöpflichen Fundus der indischen Mythologie entnahm, während sein berühmter amerikanischer Kollege D. W. Griffith für sein Meisterwerk The Birth of a Nation (1914) die amerikanische Geschichte und den Bürgerkrieg filmisch bearbeitete. […] Das „Mythologische“ war für Phalke kein einfaches Vehikel, um ein naives Publikum in eine Fantasiewelt zu entführen, die von Göttern und Göttinnen, Dämonen und himmlischen Prinzessinnen bevölkert war, sondern eine Weise, ihr Bewusstsein für die täglichen Probleme zu schärfen und Mittel zu liefern, um diese Probleme anzugehen. In diesem Sinn hat das mythologische Erbe in Indien dieselbe Bedeutung wie die neorealistischen Filme für den Westen.“[22]

Indem er sich vom Exotismus des westlichen Blicks löst, die Kasten in einem präzisen historischen, religiösen und kulturgeschichtlichen Kontext ansiedelt und eine Möglichkeit des Vergleichs mit den Meistern des amerikanischen und europäischen Kinos eröffnet, stellt uns Nair vor eine methodische Frage und zwingt uns dazu, hinsichtlich einer interpretativen Grenze Stellung zu beziehen, sowohl was die Formen, als auch was die Inhalte der enormen, mehr als hundertjährigen Geschichte der indischen Filmproduktion betrifft. Dieser Standpunkt sollte uns dazu bringen, die Spiel- und Dokumentarfilme mit höherer Aufmerksamkeit und kritischer Vorsicht anzuschauen, die endlich in größerer Zahl vom Subkontinent zu uns kommen.

Ich schließe diese subjektive und ohne Zweifel lückenhafte Karte mit einem Thema ab, das eigentlich einer gesonderten Abhandlung bedürfte. Im halben Jahrhundert nach dem Zweiten Weltkrieg, einer Zeit, die wir in Europa bis zu den Balkankriegen in den 1990er Jahren als „Epoche des Friedens“ zu betrachten gewohnt waren, wurden in den anderen Kontinenten schreckliche Kriege geführt. Die Kriege der nationalen Befreiungsbewegungen haben äußerst gewaltvolle ethnische und/oder religiöse Konflikte entfacht, die in vielen Fällen endemisch geworden sind, die vielen Staatsstreiche haben das ihrige zur Fortschreibung der Gewalt beigetragen. Eine wenn auch summarische Aufzählung der Schrecken wäre endlos, die Liste wird jeden Tag länger: Aus jedem Winkel meiner Erinnerung erheben sich Namen, Orte, Bilder …

Ein gemeinsames Element aller Konflikte sind nationalistische Forderungen, die auf den Körpern der Frauen ausgetragen werden, im Namen der Ethnie oder der Religion oder beider. Jede erfundene Tradition versenkt ihre Wurzeln in einer doppelten physischen Überwältigung, deren Ort der Körper des Anderen ist, öfter noch der Körper der Anderen, während auf dem Boden willkürliche Grenzen gezogen werden.

In Indien und Pakistan arbeiten die feministischen ForscherInnen seit Jahren an einer historischen Rekonstruktion, Dokumentation und der Sammlung von Zeugnissen von Frauen, die Opfer der Gewalt unter den verschiedenen Gemeinschaften wurden.[23] Doch kommt es einem Euphemismus gleich, hier die Vergangenheitsform zu verwenden, nachdem erst jüngst, im Frühjahr 2002, in Gujarat Massaker und Gewaltakte stattgefunden haben.[24] Ziel dieser Forschungen ist es, einem genderspezifischen Gedächtnis der Teilung (aufgrund der Abspaltung Pakistans) und ihrer Nachwirkungen zur Sichtbarkeit zu verhelfen, einem Gedächtnis, das lange Zeit zum Schweigen gebracht wurde und Gefahr lief, ausgelöscht zu werden. Wie sich herausstellt, weist dieses Gedächtnis erstaunliche Ähnlichkeiten zu demjenigen von Frauen auf, die zu Opfern anderer Kriege und Teilungen der jüngeren Vergangenheit wurden.[25] Insofern ist es auf zweifache Weise bedeutsam: Den Frauen, die zu Opfern der Gewalt geworden waren, wurde die Rolle eines historischen Subjekts verweigert, und zwar sowohl den Witwen und Waisen als auch den verschleppten Frauen (auf Englisch abducted“: Hier ist die lateinische Etymologie des Wortes expliziter, da sie den Akt des „Fortbringens“ der weiblichen Körper gut beschreibt, dessen Ziel es ist, sie ihrer reproduktiven Rolle in der eigenen Gemeinschaft zu berauben und ihnen die reproduktive Rolle in der feindlichen Gemeinschaft aufzuzwingen). Nach der Teilung werden die Frauen sowohl in Indien als auch in Pakistan zu Objekten von Programmen der social reconstruction, zu Objekten der Sorge eines Staates, der sich zum Wächter und zum pater familias aufschwingt.

„Sich ‚ihre‘ Frauen, wenn nicht ihr Land, wieder zurückzuholen wurde damals zu einer mächtigen Bestätigung der Hindu-Männlichkeit. […] Nichts von alledem geschah, wenn der Raub von Hindu-Frauen durch Hindu-Männer erfolgte oder wenn muslimische Frauen von muslimischen Männern geraubt wurden. Das führt uns zum Schluss, dass in solchen Fällen keine Beleidigung der Gemeinschaft oder Religion begangen wurde, dass also niemandes ‚Ehre‘ kompromittiert wurde.“[26]

Sie waren also weder vollwertige Mitglieder der Gemeinschaft noch Individuen, nur weibliche Körper, die, wenn sie einmal „gerettet“ waren, das Schicksal eines schwierigen Überlebens zu gewärtigen hatten. Sie waren in ihre Heimat geflüchtet oder oft zweimal geraubt und zu erniedrigenden Bekehrungsritualen gezwungen worden. Deshalb haben diese Frauen Erinnerungen bewahrt, die zu wesentlichen Änderungen in der Geschichtsschreibung führen müssen.

Was ich in diesem Zusammenhang betonen möchte, ist, dass eine Reflexion über die Beziehung zwischen Territorium und Identitätsbestimmung nicht ohne einen Blick auf die Ordnung der Geschlechter auskommen kann. Die bislang in Indien und Pakistan gesammelten Zeugnisse (und die laufenden Forschungen zeigen, dass dasselbe auch für den Balkan, Ruanda, Tschetschenien gilt) nötigen uns dazu, eine andere Geschichte zu erzählen und die Programme zur Wiedereingliederung mit den Augen derer zu betrachten, die zu Objekten dieser Maßnahmen wurden. Es gilt neu zu bewerten, auf welche Weise die Programme umgesetzt wurden und welche Widersprüche sie freisetzten. Es gilt noch einmal festzuhalten, dass eine erschöpfende Erzählung jener Teilung erst jetzt im Begriff ist, geschrieben zu werden.[27] Auch die Literatur kann dazu beitragen, Licht in jene Vergangenheit zu bringen. Indem sie wie Bapsi Sidhwa im Roman Ice-Candy-Man[28] Geschichten erzählt, die die Scham in den Bereich des Unsagbaren verbannt hat, kann die Literatur Wissen schaffen und den historischen Diskurs nachträglich wieder in Gang setzen, der aufgrund des Fehlens von Quellen unterbrochen oder niemals aufgenommen wurde, um die patriarchale Ordnung nicht infrage zu stellen. Wer diese Stimmen und die Erzählformen übersetzt, die daraus hervorgehen, muss notwendigerweise die Worte und das Schweigen, das Stammeln und die Schreie respektieren. Wie anders könnte die Übersetzung ein Haus des friedlichen Zusammenlebens sein, eine „Herberge in der Ferne“ im Sinne von Antoine Berman?[29] Auf diese Weise könnten uns Erzählung und Übersetzung zu einer friedlicheren Geografie zurückführen.

„Was ist das Zuhause? Der Ort, an dem ich geboren wurde? Wo ich aufgewachsen bin? Wo ich als Erwachsene lebe und arbeite? Wo ich meine Gemeinschaft, […] meine Leute finde? Wer sind meine Leute? Ist das Zuhause ein geografischer Ort, ein historischer Raum, ein emotioneller Raum, ein Ort der Sinne? Das Zuhause ist immer von Bedeutung für EinwanderInnen und MigrantInnen […]. Ich bin davon überzeugt, dass diese Frage – wie jemand das Zuhause versteht und definiert – eine zutiefst politische ist. Politische Solidarität und der Sinn für Familie könnten einen strategischen Raum schaffen, den ich ‚Zuhause‘ nennen könnte.“[30]

„Der Mensch im Exil ist von dem Gefühl befallen, der Zustand des Exils habe die Struktur eines Traums. Plötzlich, wie im Traum, tauchen Gesichter auf, die er vergessen hatte, die er vielleicht nie zuvor gesehen hatte, oder Räume, die er gewiss zum ersten Mal sieht, doch hat er aus irgendeinem Grund den Eindruck, sie zu kennen. Der Traum ist ein Magnetfeld, das Bilder aus der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft anzieht. Dem Menschen im Exil erscheinen im Wachzustand unversehens Gesichter, Ereignisse und Bilder, die vom Traumfeld stammen. Plötzlich scheint es ihm, als sei seine Biografie geschrieben worden, lange bevor sie sich tatsächlich ereignet. Das Exil erscheint deshalb nicht als Ergebnis äußerer Umstände und auch nicht als Resultat seiner freien Entscheidung, sondern es scheint, als folge man einer Koordinate, die das Schicksal schon lange für einen festgelegt hat. Von diesem süßen und leidenschaftlichen Gedanken gefesselt, beginnt der Mensch im Exil, jene zusammenhanglosen Signale, Kreuze und Knoten zu dechiffrieren und zu entwirren, und plötzlich scheint es ihm, als könne er aus dem Ganzen eine geheime Harmonie herauslesen, die zirkuläre Logik der Symbole.“[31]

Die Positionen von Chandra Mohanty und Dubravka Ugrešić spiegeln sich in der jeweils anderen, und das im poetischen wie im politischen Sinn. Als Übersetzerin möchte ich die LeserInnen dieses Aufsatzes vor einen solchen doppelten Spiegel stellen, weil man darin, wenn man den Blick unmerklich wendet, eine Sicht erhält, die einem beinahe den ganzen Raum erschließt. Man erhält einen Dickinson’schen Kreis, einen weiten Horizont, der alle Gemeinplätze abbaut und einem die Mühe auferlegt, dem/der Anderen Platz zu machen, um einen gemeinsamen Raum zu schaffen und sich infolgedessen auf die Suche nach dem eigenen Ort in diesem Raum zu machen. Dieser Ort ist nicht bloß der flüchtige, vom Schatten eingenommene Raum. Wer übersetzt, denkt notwendigerweise die Beziehungen der Sprachen untereinander, er/sie kann die Beziehungen zwischen denen, die diese Sprachen sprechen, nicht unberücksichtigt lassen, er/sie muss die Vermischungen, Brüche, das plötzliche Verstummen erfassen. Er/sie muss sich die Frage nach den Gründen stellen, die diese Vermischungen und Brüche bewirkt haben, und kann sich dem Raunen im Hintergrund gegenüber nicht taub stellen. Die Explosionen vernichten die Körper und löschen die Schatten aus. Und da „die Wörter Menschen das Leben kosten können, ist es nur gerecht, dass diejenigen, die mit den Wörtern arbeiten, dem, was sie sagen, größte Aufmerksamkeit schenken“[32].

Darin scheint mir heute die Aufgabe der ÜbersetzerIn zu bestehen. „Die Übersetzung ist nichts anderes als eine Sinn-Öffnung, niemals das Versprechen, erschöpfend zu sein“, schrieb vor längerer Zeit Rada Iveković.[33] Wer wie ich SchriftstellerInnen aus überseeischen Ländern übersetzt, macht oft lange Aufenthalte in der anderen Sprache, zwischen den Sprachen durch, auf der Suche nach einer Verbindung, einem link, der nicht immer sprachlicher oder semantischer Art ist. Diese Verbindung betrifft auf präzise und legitime Weise das Respektieren einer Geschichte und das Neuschaffen eines diversen Imaginären. Wenn man übrigens die Geschichte dieses kleinen Wortes – link – zurückverfolgt, einer Art Ariel des Oxford Dictionary, und auch nur einige wenige Bedeutungen herausgreift, die es im Lauf der Zeit angenommen hat, dann entdeckt man etwas, das zu erzählen sich lohnt, weil es in gewisser Weise den Inbegriff des Übersetzens repräsentieren könnte. Während ein link im Old English „a gently undulating sandy ground near a seashore“ war, wurde das Wort später über zwei Jahrhunderte (1500-1700) in der Bedeutung von „wick“ (Docht) gebraucht und in der Folge als „ring, a part of chain“ sowie als „a mean of travel or transport between two places“. Ist es nicht so, dass eine Übersetzerin sich auf einem sandigen, unebenen Gelände in der Nähe eines Strandes bewegt und versucht, sich mithilfe des schwachen Lichts eines Dochtes zurechtzufinden, wohl wissend, dass sie ein Glied in der Kette und ein Gefährt ist, von dem nicht nur die Glaubwürdigkeit abhängt, also die Rezeption eines Textes und das Vergnügen, das seine Lektüre bereitet, sondern das Leben selbst? Wer übersetzt, ist BürgerIn dieser Welt und muss sich streng an Bewegungsformen halten, die auf der milden Ethik derer gründen, die nicht nur verbinden, sondern bewusst die Tür einen Spalt geöffnet lassen.



Eine frühere Version dieses Aufsatzes erschien unter dem Titel “Fuori canone. Letterature, cinema, video nell’India contemporanea: una mappa impossibile” in: Emanuela Casti e Mario Corona (eds.),
Luoghi e identità. Geografie e letterature a confronto, Bergamo University Press, 2004.



[1] Vgl. Nayantara Saghal, „India as Fiction: A Personal View“, Beitrag der Schriftstellerin zur Tagung „India. Nationalism, Democracy, Development, Interculturalism“, Universität von Bologna, 27.-29. November 1997, anlässlich des 50. Jahrestages der indischen Unabhängigkeit.

[2] Über den Entwurf und die Architektur von Chandigarh ist viel geschrieben worden. Meine Überlegungen zum Gebrauch und zur Neudefinition der Innen- und Außenräume in einer Stadt, die zum widersprüchlichen Symbol eines modernen Indien geworden ist, wurde besonders von einer Fotoausstellung beeinflusst, die ich vor einigen Jahren gesehen habe. Vgl. Piergiorgio Sclarandis, Chandigarh. Le Corbusier in India, Fabriano: Cartiere Miliani 1993.

[3] Ich beziehe mich auf das „Seminar über Teilungen“, das von Rada Iveković, Professorin für Philosophie an der Universität Paris VIII, im Studienjahr 2001/2002 veranstaltet wurde.

[4] Vgl. Amitav Ghosh, Dancing in Cambodia, At Large in Burma, Delhi: Ravi Dayal 1998.

[5] Aus einem Gespräch mit Ritu Menon, Forscherin und Verlegerin. Diese Position wird durch eine Aussage Etienne Balibars bekräftigt, die er kürzlich mit Bezug auf den europäischen Kontext getätigt hat: „Die wahre Sprache Europas kann nicht mit einer besonderen Sprache gleichgesetzt werden. Die Sprache Europas ist die Übersetzung, verstanden als Paradigma für das Aufeinandertreffen verschiedener Sprachen und Kulturen, als aktive Praxis der Multikulturalität und der Interkulturalität.“ (Schule von Senigallia: Einweihung der „Baustellen der Demokratie“.)

[6] Vgl. Shashi Deshpande, Small Remedies, Dehli: Penguin 2000.

[7] Vgl. The Tongue Set Free, Women Writers Speak about Censorship, WORLD/Asmita Project 2002.

[8] Bezüglich der Beziehungen zwischen der englischen Sprache und den indischen Sprachen während der Kolonialzeit (als das Erstarken der nationalistischen Bewegung und die Entwicklung des Romans in den Lokalsprachen Hand in Hand gehen) und in der postkolonialen Zeit (als sich der englischsprachige Roman entwickelt) siehe den Essay von Meenakshi Mukherjee, „La narrativa indiana tra epica e romanzo“, in: Franco Moretti (Hg.), Il romanzo, Vol. II, Torino: Einaudi 2002, S. 502f.

[9] Vgl. die Einleitung zum ersten der oben zitierten Bände.

[10] Vgl. Bishakha Datta (Hg.), And Who Will Make the Chapatis? A Study of All-Women Panchayats in Maharashtra, Kalkutta: Stree 1998; Anita Agnihotri, Forest Interludes. A Collection of Journals & Fictions, übers. aus dem Bengali von Kalpana Bardhan, Delhi: Kali for Women 2001.

[11]  Vgl. Nayantara Sahgal, The Day in Shadow, Delhi: Vikas 1971.

[12] Lagaan gewann den Publikumspreis beim Festival von Locarno 2001 und wurde 2002 für den Oscar in der Kategorie „Bester ausländischer Film“ nominiert. Monsoon Wedding erhielt beim Festival von Venedig 2001 den Goldenen Löwen.

[13] War and Peace hat beim Festival Cinemambiente in Turin 2002 den Sonderpreis der Jury gewonnen.

[17]  Seagull Bookso, 26 Circus Avenue, Kalkutta, seagullfoundation@vsnl.com.

[20] Diese Dokumentarfilme sind im Rahmen der Reihe „Global Vision“ beim Festival Cinemambiente in Turin 2002 vorgestellt worden, bei dem die Regisseure und die Schriftstellerin Arundhati Roy anwesend waren. Sie alle sind Teil der Narmada Bachao Andolan: der Bewegung zum Schutz des Flusses Narmada.

[21] Vgl. Amartya Sen, „Our Culture, Their Culture. Satyajit Ray and the Art of Universalism“, in: Italo Spinelli (Hg.), Indian Summer. Films, Filmmakers and Stars Between Raj and Bollywood, 55. Festival Internazionale di Locarno, Mailand: Olivares 2002, S. 15-23.

[22] Vgl. P. K. Nair, „The Caste Factor in Indian Cinema“, in: ibid., S. 54.

[23] In Indien bezeichnet man den politischen Gebrauch der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Gemeinschaft oder zu einer Kaste als Kommunalismus. Die Auswirkungen dieser fundamentalistischen Manipulation haben sich in all ihrer Heftigkeit vor allem nach der Zerstörung der Moschee von Ayodhya im Dezember 1992 gezeigt, die eine Welle interreligiöser Gewalt auslöste und zu einer dramatischen Ausbreitung der Hindutva-Bewegung führte, die die Überlegenheit der Hindu-Kultur predigt.

[24] Vgl. Amrita Kumar / Prashun Bhaumik (Hg.), Lest We Forget: Gujarat 2002, Delhi: World Report in Association with Rupa 2002. Siehe auch das Dossier über die Massaker in Gujarat in der Monatszeitschrift Biblio, Nr. 7-8, 2002 (www.biblio.india.com).

[25] Vgl. Rada Iveković / Julie Mostov (Hg.), From Gender To Nation, Ravenna: Longo 2002.

[26] Ritu Meno, „Do Women Have a Country?“ In: Ibid., S. 51.

[27] Vgl. Ritu Menon / Kamla Bhasin, Borders and Boundaries. Women in India’s Partition, Delhi: Kali for Women 1998; Urvashi Butalia, The Other Side of Silence, Delhi: Penguin India 1998; Sudhir Kakar, The Colours of Violence, Delhi: Penguin India 1996. Siehe zudem: Transeuropéennes, Nr. 19/20, Winter 2000/2001, Dossier „Divided Countries, Separated Cities“, eine unverzichtbare Zusammenstellung von Texten für jegliche Reflexion über dieses Thema (www.transeuropeennes.org); Leggendaria, Nr. 26, 2001, Dossier „Confini“ (www.leggendaria.it).

[28] Bapsi Sidhwa, Ice-Candy-Man, Delhi: Penguin 1989.

[29] Antoine Berman, L’épreuve de l’étranger, Paris: Gallimard 1984.

[30] Chandra Mohanty, „Defining Genealogies. Feminist Reflections on Being South Asian in North America“, in: Women of South Asian Descent Collective (Hg.), Our Feet Walk the Sky. Women of the South Asian Diaspora, San Francisco: Aunt Lute Books 1993.

[31] „Einem Menschen im Exil kommt es so vor, als habe sein Zustand die Struktur eines Traums. Plötzlich tauchen wie im Traum Personen auf, die er vergessen und vielleicht auch nie getroffen hat, Räume, die er mit Sicherheit zum ersten Mal sieht, aber von irgendwoher zu kennen glaubt. Der Traum ist ein Magnetfeld, das Bilder aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anzieht. Dem Exilierten erscheinen mit einem Mal Personen, Ereignisse und Bilder, die vom Magnetfeld des Traums angezogen wurden; auf einmal ist ihm, als wäre seine Biographie geschrieben worden, lange bevor sie sich erfüllte, als wäre demnach das Exil nicht das Resultat äußerer Umstände oder seiner Wahl, sondern ihm durch schicksalhafte Konstellationen seit langem vorherbestimmt. Im Bann dieses süßen Gedankens beginnt der Exilierte, verworrene Zeichen, Kreuzchen und Knoten zu enträtseln, und plötzlich glaubt er, in alldem eine geheime Harmonie, eine runde Logik der Symbole zu lesen.“ (Dubravka Ugrešić, Das Museum der bedingungslosen Kapitulation, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 19.)

[32] Siehe das Vorwort von Amitav Ghosh zu seiner Aufsatzsammlung Circostanze incendiarie, aus dem Englischen übersetzt von Anna Nadotti, Vicenza: Neri Pozza 2006.

[33] Rada Iveković, „La traduction permanente“, in: Transeuropéennes, Nr. 22, Sommer 2002, S. 121-145 und transversal 06 2002: http://translate.eipcp.net/transversal/0606/ivekovic/de.