01 1999
Arbeit an der Gemeinschaft. Modelle partizipatorischer Praxis
Auf der einen Seite
besteht ein weit verbreitetes politisches Ohnmachtsgefühl.
Die Einflußmöglichkeiten von Gewerkschaften, Bürgerinitiativen,
Betriebsräten und anderen untergeordneten Ebenen auf
den politischen Prozeß werden als ständig schrumpfend
betrachtet. Selbst nationale Politik argumentiert immer
häufiger mit der Abhängigkeit ihrer Entscheidungen von
übergeordneten Instanzen, z. B. der EU. Schließlich
ist verallgemeinernd von der Machtlosigkeit der Politik
gegenüber der Wirtschaft die Rede. Unabhängig davon,
ob man an die Allmacht der Globalisierung glaubt oder
sie als ökonomistische Entschuldigung betrachtet, die
Erfolgsaussichten politischen Engagements von unten
sind im Bewußtsein vieler gesunken. Reale und drohende
Arbeitslosigkeit scheinen zudem die Konzentration aufs
ökonomische Überleben nahezulegen.
Auf der anderen Seite stehen
Überlegungen, beides, nämlich ungenützte Potentiale
des Engagements sowie frei gewordene Arbeitskraft, zu
einem sinnvollen Dritten zu vermengen. Unter dem pikanten
Titel "Die Seele der Demokratie" plädierte
kürzlich der Soziologe Ulrich Beck für sein Konzept
der "Bürgerarbeit".[1]
Anstatt die "Untätigkeit mehrerer Millionen Menschen
mit Milliardenbeträgen zu finanzieren" sollten
diese Menschen (auf freiwilliger Basis) unter der Führung
von "Gemeinwohlunternehmern" in Konzepte organisierten
sozialen Engagements eingebunden werden, von der Sterbehilfe
und Obdachlosenbetreuung bis "Kunst und Kultur".
"Bürgerarbeit wird nicht entlohnt, aber belohnt.
Und zwar immateriell, zum Beispiel ... durch Ehrungen."
Nach dieser Vorstellung von Arbeit zum Preis der Sozialhilfe
ginge es "um den Ausbau einer engagierten Bürgergesellschaft,
die sich um öffentliche Angelegenheiten kümmert und
mit ihren Initiativen das Gemeinwesen belebt."
Die reduzierten Möglichkeiten politischer Partizipation
sollen demnach durch Arbeit kompensiert werden. Der
Staat spart Geld, und die Bürger sind sinnvoll beschäftigt.
Sie werden dafür auch noch "belohnt", haben
also keinen Grund, unruhig zu werden.
Wenn im folgenden einige Modelle partizipatorischer Kunstpraxis zur Sprache kommen, so sind sie durchaus vor diesem Hintergrund zu sehen. Also auch vor dem Hintergrund der Frage, in welchem Maße "soziales Handeln" politisch ist bzw. ein soziales Interesse an die Stelle des politischen tritt. Die folgenden Beispiele kommen aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen. Aus dem Spektrum künstlerischer Ansätze, das sich partizipatorischer Methoden bedient, werde ich allerdings einen ganzen Komplex ausblenden. Es ist jene modische Tendenz der "Arbeit mit anderen", die den jungen dynamischen KuratorInnen des Mainstream-Ausstellungsbetriebs so lieb ist, weil sie ihm ästhetisch leicht verdauliche Häppchen des "Sozialen" einverleibt, ohne irgendwelche weiteren Reflexionen erforderlich zu machen.[2]
Der Begriff einer partizipatorischen Praxis ist, zumindest der Tendenz nach, von zwei anderen abzugrenzen: von Interaktivität und kollektivem Handeln. Interaktivität überschreitet ein bloßes Wahrnehmungsangebot insofern, als sie eine oder mehrere Reaktionen zuläßt, die das Werk in seiner Erscheinung - meist momentan, revidierbar und wiederholbar- beeinflussen, seine Struktur aber nicht grundlegend verändern oder mitbestimmen. Kollektive Praxis meint Konzeption, Produktion und Ausführung von Werken oder Aktionen durch mehrere, wobei unter diesen hinsichtlich ihres Status nicht grundsätzlich differenziert wird. Partizipation geht dagegen zunächst einmal von einer Differenzierung zwischen Produzierenden und Rezipierenden aus, ist an der Beteiligung letzterer interessiert und überantwortet ihnen einen wesentlichen Anteil entweder schon an der Konzeption oder am weiteren Verlauf der Arbeit. Während sich interaktive Situationen meist an ein Individuum wenden, realisieren sich partizipatorische Ansätze meist in Gruppensituationen. Kombinationen zwischen allen dreien existieren, Übergänge sind fließend, und rigide Kategorisierungen sind wenig zweckmäßig.
"Partizipation"
als Praxis oder Postulat spielt in der Kunst des 20.
Jahrhunderts (fast) immer dort eine Rolle, wo es um
die Selbstkritik der Kunst geht, um die Infragestellung
des Autors, um die Distanz der Kunst zum "Leben"
und der Gesellschaft. Die Aktivierung und Beteiligung
des Publikums bezweckt die Transformation des Verhältnisses
zwischen Produzenten und Rezipienten in dessen traditioneller
Variante der Werk-Betrachter-Beziehung. Deren eindimensionale,
hierarchische "Kommunikationsstruktur" produziert
einen konsumistischen, distanzierten Betrachter, sie
stellt "eine Schule asozialen Verhaltens"
dar, wie Stepanova 1921 schreibt.[3]
Die Intention der Auflösung dieser Situation in eine
Dynamik der Wechselseitigkeit entwickelt sich entlang
einer Kritik der rein visuellen Erfahrung und zielt
häufig auf die Aktivierung des Körpers als Voraussetzung
von Beteiligung. Dieses physische Involviertsein kann
eine phänomenologische Grundlage haben, wie sie El Lissitzky
für seine "Demonstrationsräume" (1926) beschreibt:
"so soll unsere Gestaltung den Mann aktiv machen.
Dies sollte der Zweck des Raumes sein. ... Bei jeder
Bewegung des Beschauers im Raume ändert sich die Wirkung
der Wände. ... Er ist physisch gezwungen, sich mit den
ausgestellten Gegenständen auseinanderzusetzen."[4]
Beteiligung kann aber auch, wie bei den Dadaisten, über
Akte der Provokation initiiert werden. In den beiden
"proto-partizipatorischen" Richtungen des
Dadaismus sowie des russischen Konstruktivismus und
Produktivismus sind wohl die Anfänge einer "Geschichte
der Partizipation" als Sub-Geschichte der Avantgarde
zu suchen. In der Sowjetpresse, so Tretjakow, "beginnt
die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum ... zu
verschwinden. Der Lesende ist dort jederzeit bereit,
ein Schreibender ... zu werden."[5]
Je nach ideologischer Grundlage verbinden sich mit Partizipation
als Programm unterschiedliche Ansprüche auf Veränderung:
revolutionäre ("Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis"),
reformatorische ("Demokratisierung der Kunst")
oder, von geringerem politischen Gehalt, spielerische
und/oder didaktische, wahrnehmungs- und "bewußtseinsverändernde"
Ansprüche.
Nach dem Krieg kommt zunächst
vieles, was sich partizipatorischer Methoden bedient,
aus der Cage-Schule: Fluxus, Happening, Rauschenberg.
Cage realisiert
in der Musik eine Forderung, die Benjamin schon
Hanns Eisler zuschreibt, nämlich "den Gegensatz
zwischen Ausführenden und Hörenden ... zu beseitigen."[6]
"4'33"" (1952) besteht aus nichts anderem
als den Geräuschen im Konzertsaal. Das Publikum produziert
zwar im wesentlichen diese Geräusche, ist aber noch
nicht wirklich aktiv.
Ähnliches gilt für die gleichzeitig entstandenen "White
Paintings" von Rauschenberg, die nichts als die
Bewegungen der Betrachter reflektieren. Rauschenbergs
"Black Market" (1961) fordert dann tatsächlich
die Handlung des Publikums ein. Gegenstände sollen einem
Koffer entnommen und durch andere ersetzt werden. Die
Grenze zwischen Kunst und Leben soll überbrückt werden,
indem Rezipienten zu Mitspielern werden.
Die Neo-Avantgarden der 50er
Jahre sind von "Wirklichkeit" besessen. Nachdem
die Geräusche der Umgebung in die Musik, die Gegenstände
in die Bilder integriert wurden, geht es um "realzeitliche"
Abläufe in Happenings oder Events. Das "blurring
of art and life" strebt nach einer "konkreten
Kunst", die im "realen Leben" angesiedelt
ist oder überhaupt in ihm aufgeht. Kaprow, geprägt von
Deweys Kunst als
Erfahrung, definiert ästhetische Erfahrung als Partizipation.
Handeln wird zur Bedingung von Erfahrung, da ansonsten
kein Happening zustandekommt. Die Art der Handlungen
ist den alltäglichen Routinen abgeschaut, die in kollektiver,
meist spielerischer Praxis eine neue, ästhetische Qualität
verliehen bekommen. In letzter Konsequenz geht es um
die Rückführung der neu bewerteten Handlungen in den
Alltag: "Doing life, consciously."[7]
Für Maciunas, der sich sowohl auf Dada als auch die
russischen Produktivisten beruft, nimmt der Künstler
einen elitär-parasitären Status in der Gesellschaft
ein. Dem "anti-professionellen" Fluxus-Künstler
obliegt es daher, die Ersetzbarkeit des Künstlers zu
demonstrieren, indem er zeigt, "daß alles Kunst
sein kann und jeder sie ausüben kann."[8]
Was als Partizipation im Rahmen von "Kunst"
beginnt, sollte sich also in einer allgemeinen ästhetischen
(Lebens-)Praxis erfüllen. Es ist dies ein Demokratisierungsprogramm,
dessen Scheitern in der Autorisierung des Laien durch
den Künstler vorgezeichnet ist. In der Beuysschen Variante
erfährt es allerdings dann eine Verknüpfung mit realer
Politik, was nichts daran ändert, daß alles andere eher
infragegestellt wird, als der Status des Künstlers.
Neben den offenen, zufallsorientierten,
anarcho-poetischen und teilweise auch destruktiven (z.
B. Vostell) Konzeptionen existiert in den 60er Jahren
eine andere Richtung, die stärker didaktisch orientiert
ist und sich mehr an Objekte bindet. Man versucht hier,
den Begriff des Kunstwerks durch "Kommunikations-Objekte"
oder "Handlungs-Objekte" zu ersetzen, die
eine mehr oder weniger festgelegte Benutzung nahelegen.
Basierend auf kulturkritischen Überlegungen zur Konditionierung
der Alltagswahrnehmung durch Konsumindustrie und soziale
Verhaltenszwänge, sollen derartige Objekte, die keiner
bereits ritualisierten Verwendungsweise unterliegen,
im Zuge von Prozessen der Annäherung und des versuchsweisen
Gebrauchs unmittelbare, elementare Erfahrungen ermöglichen.
Eine solche Position, wie sie z. B. Franz Erhard Walther
verkörpert, ersetzt zwar Betrachtung durch Handlung,
teilweise auch kollektive. Sie bleibt aber, indem sie
die "echte" Erfahrung gegen die "entfremdete"
ausspielt, einer Autonomie-Ästhetik verpflichtet, die
eine Gegenwelt beschwört ohne Widerstandspotentiale
zu eröffnen.
Heal the world - Die Rhetorik der NGPA
Der Zusammenhang,
in dem partizipatorische Konzepte während der letzten
Jahre am prominentesten diskutiert wurden, ist jenes
Konglomerat inhomogener Praktiken, für das sich das
Etikett "New Genre Public Art" durchgesetzt
hat. Für dasselbe Phänomen sind die Begriffe "community-based
art" und "Kunst im öffentlichen Interesse"
in Gebrauch. Wie selbst ihre Proponenten feststellen,
handelt es sich hierbei keineswegs um wirklich "neue"
Praktiken, vielmehr um solche, die seit den 70er Jahren
verfolgt, jedoch von einer elitären und objektfixierten
Kunstwelt marginalisiert worden seien. Ihre Zeit sei
jetzt gerade deshalb gekommen, weil die unterschiedlichen
Praktiken nun in der Kategorie der "öffentlichen
Kunst" verhandelt würden, in deren Rahmen sie erst
zu einer Art Bewegung werden und in dem sie einen Paradigmenwechsel
bezeichnen. Letzterer entwirft, kurz gefaßt, folgende
Geschichte der "Public Art": nachdem zunächst
öffentliche Orte eher willkürlich mit autonomen Kunstwerken
verschönert wurden, kam es in einem nächsten Schritt
zu ortsspezifischen künstlerischen Eingriffen, die sich
an den architektonisch-räumlichen Gegebenheiten orientierten.
Nach dem Werk und dem Ort rückt nun in einem weiteren
Schritt das Soziale in den Mittelpunkt , eine lokale
Bevölkerung(sgruppe), Minderheit oder "community".
Der NGPA geht es zuerst und vor
allem um eine Definition ihres Publikums. Dafür gibt
es - neben den individuellen Anliegen - zumindest zwei
objektive Begründungen. Einmal waren viele der (älteren)
sozial und politisch engagierten KünstlerInnen lange
Zeit vom dominanten Kunstsystem soweit an den Rand gedrängt,
daß sie sich zwangsläufig außerhalb der Institutionen
andere Arbeitsfelder erschließen mußten. Zum anderen
haben lokale Widerstände gegen "Kunst im öffentlichen
Raum" und die darüber geführten Diskussionen (siehe
Serras "Tilted Arc") gezeigt, daß die Frage
des Publikums von den herkömmlichen Public Art-Programmen
nicht ausreichend ernst genommen wurde. Eine Praxis,
die von lokal definierten, relativ überschaubaren Öffentlichkeiten
ausgeht und darüberhinaus meist zeitlich begrenzt ist,
schien den offiziellen Programmen für öffentliche Kunst
daher eine willkommene Lösung anzubieten.
Jede Kritik der NGPA sieht sich
mit dem Problem konfrontiert, daß sie sich entweder
einzelnen künstlerischen Projekten oder dem strategischen
Diskurs, der über das Label hergestellten Identität,
zuwenden kann. Allzu sehr unterscheiden sich die unter
den Begriff gebrachten Praktiken voneinander, und damit
sehr oft auch die Praxis von ihrer Theoretisierung.
Das "Compendium" von über 80 KünstlerInnen
und -gruppen, das Suzanne Lacy ihrem diskursbestimmenden
Buch Mapping the Terrain: New Genre Public Art anhängt, reicht von Vito
Acconci und dem Border Art Workshop über Group Material
und Jenny Holzer bis Paper Tiger TV und Fred Wilson,
von Identitätspolitik über Medienaktivismus bis Institutionskritik.
Ein kleinster gemeinsamer Nenner läßt sich kaum finden.
Dem steht eine starke Tendenz zur diskursiven Homogenisierung
gegenüber, die sich wohl nur aus Motiven der Durchsetzung
einer "Bewegung" bzw. eines "Paradigmenwechsels"
erklären läßt. Wenn ich mich im folgenden dennoch gerade
mit der Rhetorik der NGPA befasse, dann weil ich ihre
Rolle innerhalb der gegenwärtigen Re-Definition des
Kunstbegriffs höher bewerte als jene der Praxis selbst.
Geht man davon aus, daß es zu den zentralen Punkten
dieses künstlerischen Selbstverständnisses gehört, von
der symbolischen Ebene auf die "reale" zu
wechseln, also an die Stelle der Deutung und Kritik
des Sozialen die soziale Praxis zu setzen, dann ist
es vor allem die Rhetorik dieser pragmatischen Haltung,
die Aufschlüsse über das zugrundeliegende Weltbild geben
kann.
Mary
Jane Jacob, als Kuratorin community-orientierter Projekte
neben Suzanne Lacy eine der wichtigsten MentorInnen
der "neuen öffentlichen Kunst", skizziert
deren historischen Ort folgendermaßen: "If, in
the 1970s, we were extending the definition of who the
artist is along lines of nationality or ethnicity, gender
and sexual orientation; and in the 1980s the place of
exhibitions expanded to include any imaginable venue
...; then in the 1990s we are grappling with broadening
the definition of who is the audience for contemporary
art."[9]
"Erweiterung" des Publikums
meint hier vor allem Differenzierung des Publikums.
Aus dem einen
anonymen Kunstpublikum werden gewissermaßen spezifizierte
Publika, die sich über den direkten Kontakt mit dem
Künstler/ der Künstlerin als solche konstituieren, sich
von Projekt zu Projekt unterscheiden und häufig in die
Realisierung von Arbeiten einbezogen sind: "This
work activates the viewer - creating a participant,
even a collaborator."[10]
Aus der "dialogischen Struktur" der Einbindung
der Community in den kreativen Prozeß soll die Arbeit
ihre Relevanz für eben diese Gemeinschaft beziehen.
Was an den programmatischen Schriften
von Lacy, Jacob, aber auch Lucy Lippard, Suzi Gablik
und Arlene Raven auffällt, ist das weitgehende Fehlen
politischer Analyse, während gleichzeitig viel von sozialer
Veränderung die Rede ist. Kompensiert wird dieses politische
Defizit durch ein Begriffsinventar, das deutlich pastorale
Züge aufweist: "To search for the good and make
it matter: this is the real challenge for the artist",
steht in großen Lettern auf dem Cover von Lacys Buch.
Ausgehend von der Diagnose eines elitären, selbstbezogenen
Kunstbetriebs auf der einen Seite und einer ganzen Reihe
von "sozialen Krankheiten"[11]
andererseits, versteht sich die "connective aesthetics"
(Suzi Gablik) als Brücke zwischen der Kunst und den
"wirklichen Menschen". Um diese Brücke mittels
ihrer "dialogischen Struktur" bauen zu können,
trennt sie zunächst die beiden zu verbindenden Seiten:
hier das Engagement der Kreativen, das auf einem bestimmten
Begehren beruht, nämlich dem "longing for the Other"[12]
oder "desire for connection"[13];
dort die "real people" in "real neighborhoods,"[14]
worunter (vornehmlich nicht-weiße) Arbeiter- und Armenviertel
zu verstehen sind.
Die Rhetorik der NGPA verschleiert
kaum den Prozeß des "othering", der Konstruktion
eines "Anderen" als Bedingung weiterer Projektionen.
Die "anderen" sind sowohl arm und benachteiligt
als auch Repräsentanten des Echten und Wirklichen, somit
einerseits hilfsbedürftig und andererseits Quelle der
Inspiration.[15]
Ähnlich ambivalent ist das Bild der Kunst. In ihrer
institutionalisierten Form als abgehoben und bürgerlich
dekadent betrachtet, stellt sie zugleich ein Kreativitätsreservoir
dar, ohne dessen Qualitäten das Leben der "anderen"
nicht bereichert werden kann: "The community-based
art (...) can not only expose the energy and depth of
ordinary people but also help these people develop their
human potential in individual and communal acts."[16] "Care and compassion",
Fürsorge und Mitleid, sind etwa für Gablik die zentralen,
als "weiblich" definierten Werte der "konnektiven
Ästhetik", Lacy und Lippard betonen das "Einfühlungsvermögen".
Ohne daß je darauf verwiesen würde, stehen die Autorinnen
mit ihrer geschlechtsspezifischen Zuordnung moralischer
Einstellungen dennoch in jener Denkrichtung, wie sie
Nancy Chodorow und Carol Gilligan vertreten, wonach
das soziale Verhalten von Frauen sich durch eben jene
Fähigkeiten der Fürsorge und Empathie grundsätzlich
von der männlichen Orientierung an Recht und Gerechtigkeit
unterscheide.[17]
Dieser differenzlogische Schematismus entspricht der
starren Dichotomie von individualistischer "Museum
Art" und kollaborativer NGPA, den letztere, unter
Leugnung der fließenden Übergänge auch in den eigenen
Reihen, so gerne behauptet. Daß Frauen in diesem "Genre"
tatsächlich vergleichsweise sehr stark vertreten sind,
belegt jedoch weniger geschlechtsspezifische Sozialcharaktere
als die bekannten Machtverhältnisse im institutionellen
Kunstfeld.
Damit die Kunst im Prozeß der
sozialen Interaktion aber tatsächlich ihre "heilende
Funktion", von der alle AutorInnen sprechen, erfüllen
kann, bedarf sie zusätzlich einer erzieherischen Dimension.
Um eine "Gesellschaft, die von ihren Lebenskräften
entfremdet ist, heilen" zu können[18]
- Jacob bringt die Figur des Schamanen wieder ins Spiel
-, müssen die "einzigartigen Wahrnehmungen und
kreativen Mechanismen von KünstlerInnen"[19]
an die nicht-künstlerischen Teilnehmer weitergegeben
werden. Die pastorale Mischung aus Fürsorge und Erziehung
erklärt die teilweise pseudo-religiösen Züge der NGPA,
die spirituellen Qualitäten ihrer Gemeinschafts-Beschwörung
sowie bestimmte Tendenzen, Communities auf traditionalistische
Rituale wie, z. B. "Parades", zu verpflichten.
Die Kritik am Individualismus und das Streben nach einer
gemeinschaftlichen Grundlage ästhetischen Handelns,
nach der "Versöhnung" sozialer Sphären, der
Bürgerbeteiligung an den Prozessen der Bedeutungsproduktion
- all das bezeugt eine große Nähe der konnektiven Ästhetik
zur Gesellschaftstheorie des Kommunitarismus.[20]
Es sei jedoch noch einmal daran
erinnert, daß hier ein homogenisierender Diskurs äußerst
divergente Praktiken überlagert. Seine traditionalistischen,
essentialistischen, moralisierenden und mystifizierenden
(Gabliks "Wiederverzauberung der Kunst") Elemente
dürfen daher nicht als Grundlage der Bewertung einzelner
künstlerischer Vorgangsweisen herangezogen werden. Es
ist allerdings notwendig, die konservativen Tendenzen
der NGPA kenntlich zu machen, weil sie ein Spektrum
teilweise durchaus produktiver und progressiver Ansätze
illegitim für sich zu vereinnahmen drohen.
GET DOWN AND PARTY. TOGETHER.
Adrian Pipers "Funk
Lessons" (1982-84 an verschiedenen Orten) folgen
einem Verständnis von Partizipation, das sich vom pastoralen
Typus kontrastreich abhebt. Die kollektiven Tanzperformances
verbinden politische Inhalte mit lustvollen Erfahrungen.
Im Unterschied zum idealtypischen Stufenmodell der NGPA,
Krankheitsdiagnose - Therapieplan - Heilung, haben die
"Funk Lessons" ausdrücklich experimentellen
Charakter ("A Collaborative Experiment in Cross-Cultural
Transfusion"). Die Unvorhersehbarkeit beginnt schon
damit, daß sich Teilnehmer auf ein Angebot hinauf einfinden
und nicht von vornherein nach bestimmten Kategorien
etwas wie "Community" oder "die anderen"
(die Arbeiter, die Alten, die Obdachlosen usw.) definiert
wird. Gemeinschaft entsteht, wenn überhaupt, im Verlauf
der Veranstaltung; sie erhebt darüber hinaus keinen
Anspruch auf Dauerhaftigkeit; sie hat nichts Essentielles
an sich.
Ausgehend von der verbreiteten
rassistischen Ablehnung seitens der weißen Mittelschicht
gegenüber dem Funk-Idiom als "black working-class
culture", setzt Piper Funk als "kollektives
Medium der Selbstüberschreitung" didaktisch dazu
ein, um "kulturelle und rassische Barrieren zu
überwinden." Sie erklärt die musikalisch-tänzerischen
Grundelemente, die kulturellen Hintergründe und Beziehungen
zu anderen, "weißen" Musiken. Was gleichsam
als learning-by-doing beginnt, entwickelt sich je nachdem,
wie sich tiefsitzende Abneigungen, Ängste, Unsicherheiten
oder aber Enthusiasmus und Neugier in Reaktionen äußern
und wie Gegenreaktionen einen vielstimmigen Dialog in
Gang setzen, der die ursprüngliche "Lernsituation"
in offene Diskussion verwandelt, die durchaus auch heftig
geführt werden kann. Partizipation an einem solchen
Prozeß bedeutet weniger an einem dumpfen Gefühl von
Gemeinschaft teilzuhaben, als in eine Auseinandersetzung
einzutreten, die die Grenzen von Politik und Persönlichkeit
berührt. Die Teilnehmer in eine ambivalente Situation
von Angeboten (ästhetische Erfahrung, Information) und
Anforderungen (Artikulation von Widerständen, Mitverantwortung
für den kollektiven Prozeß) einzubinden, bedeutet für
den Standpunkt der Künstlerin, ein riskantes Szenario
mit offenem Ausgang zu entwerfen.
Das Bemerkenswerteste an Pipers
"Funk Lessons" im Vergleich zu den vielen
wohlmeinenden Absichten vor allem der "pastoralen"
Richtung ist vielleicht das offen artikulierte Eigeninteresse:
"My motivation in doing the 'Funk Lessons' performances
also has a very large self-interested component (of
course). The
ignorance and xenophobia that surround the aesthetic
idiom of black working-class culture have affected the
audience's comprehension of my performance work since
1972."[21]
Um dieses Idiom als Teil der
persönlichen Identität weiterhin in der künstlerischen
Arbeit verwenden zu können, schien es notwendig, einen
Versuch zu unternehmen, dieses mit dem vornehmlich weißen
Mittelklassepublikum in irgendeiner Form zu teilen.
Diesen Aspekt der Arbeit, der sicher nicht der wichtigste
ist, hervorzuheben, scheint angebracht, weil er sich
diametral unterscheidet von der Kehrseite der Weltverbesserungsrhetorik,
wie sie in einem "acknowledgment" Suzanne
Lacys manifest wird: "Most important to me are
the many invisible communities ... who have inspired
my work over the years, those who suffer various forms
of discrimination, violence, and injustice."[22]
Radikale Demokratie ...
Seit den späten 80er
Jahren arbeiten Michael Clegg und Martin Guttmann an
künstlerischen Projekten in öffentlichen Räumen, für
deren Funktionsweise die aktive Beteiligung der lokalen
Bevölkerung Voraussetzung und entscheidendes Kriterium
ist. Der erste derartige Versuch, "A Model for
an Open Public Library", 1987, bestand in der Plazierung
eines aus den Beständen der Künstler bestückten Bücherregals
an verschiedenen Orten in New Jersey. Die befremdliche
Erscheinung eines Bücherregals im Freien, noch dazu
an nicht besonders frequentierten Orten, hatte eher
poetische, fast surreale Züge und funktionierte wohl
mehr im dokumentarischen Zusammenhang einer späteren
Galerie-Ausstellung. In einem kurzen Text, "Entwurf
für eine 'Open-Air' Bibliothek", 1990 in Durch
erschienen, formulieren Clegg & Guttmann bereits
die grundlegenden Gedanken ihrer später in Graz und
Hamburg realisierten "Offenen Bibliothek":
"Eine Bibliothek ohne Bibliothekare und ohne Überwachung,
deren Bücherbestand von den Benützern selbst durch ein
Tauschsystem, demzufolge jedes entlehnte Buch nach Gutdünken
des Benützers durch ein anderes zu ersetzen ist, bestimmt
wäre. Eine solche Bibliothek könnte als Institution
zu einer Selbstdefinition der Gemeinschaft beitragen
... und wäre damit eine Art Porträt einer Gemeinschaft."[23]
Es geht also einerseits um die
Idee der "sozialen Skulptur", die auf der
Interaktion mit einem Publikum beruht, durch deren Intensität
und konkreten Verlauf das Werk erst als solches konstituiert
wird bzw. seine spezifische Funktion bekommt. Das zweite
Moment, die Konzeption des "Porträts" einer
Gemeinschaft, leitet sich aus früheren fotografischen
Arbeiten der Künstler her, denen ein erweiterter Porträt-Begriff
zugrundeliegt. Obwohl der Gedanke des sozialen Porträts
von der Konzeption der "Offenen Bibliothek"
nicht loszulösen ist und er - auch in seiner Problematik
- nicht undiskutiert bleiben sollte, scheint er für
unseren Zusammenhang von eher sekundärem Interesse.
Relevanter für die Frage nach Hintergründen und Potentialen
partizipatorischer Verfahren ist hier das modellhafte
Durchspielen oder Testen der Idee einer kulturellen
Institution, die weitgehend ohne Hierarchien, Kontrollmechanismen
und bürokratische Regelungen auskommt.
Nach einer ersten Version der
"Offenen Bibliothek" 1991 in Graz und einem
Modell für ein frei zugängliches Werkzeuglager (Toronto
1991), das nach dem selben Prinzip funktionieren sollte,
stellt die Hamburger Version der "Offenen Bibliothek",
ausgeführt im Herbst 1993, die erste ausgereifte Variante
dar. In drei demographisch unterschiedlichen Bezirken
wurden Schaltkästen der E-Werke mit Regalbrettern und
Glastüren ausgestattet und so zu öffentlichen, frei
zugänglichen Bibliotheken umfunktioniert. Im Vorfeld
des Projekts wurden Anwohner über das Konzept informiert
und um Buchspenden gebeten. Lediglich eine Minimalregel
zur Benutzung der Bibliothek wurde vor Ort schriftlich
festgehalten: "Entnehmen Sie bitte die Bücher ihrer
Wahl und bringen sie diese nach einer angemessenen Zeit
zurück. Ergänzungen des Bücherbestandes sind willkommen."
Das Fehlen von weiteren Vorschriften und Instanzen der
Überwachung überträgt die Verantwortung für das Funktionieren
und das Geschick der Einrichtung ihren Nutzern. Clegg
& Guttmann sehen darin "ein Experiment mit
einer radikal demokratischen Einrichtung."[24]
Die politische Dimension einer
solchen "Versuchsanordnung" liegt in der Herausforderung
eines selbstbestimmten kollektiven Handelns, dessen
weitgehende Regellosigkeit innerhalb der Normalität
einer institutionell verwalteten repressiven Gesellschaft
keinen Platz hat. Fragen, die sich daraus ergeben, formulierten
Clegg & Guttmann änläßlich ihres Grazer Projekts:
"What happens when you leave books unprotected
by guards or librarians? How will people react to such an utopian proposition? People are very opinionated
about questions like that. But they have no data to
rely on. We wanted to find out what the real situation
was."[25]
Die das Projekt begleitenden
soziologischen Studien haben sowohl ein hohes Maß an
Beteiligung, die sich u. a. in der fast vollständigen
Erneuerung des Bibliotheksbestands im Laufe der Projektdauer
manifestierte, als auch eine grundsätzlich positive
Reaktion auf den "utopischen Vorschlag" ergeben:
"Begründungen für die Attraktivität des Projekts
nahmen vor allem Bezug auf den geleisteten Vertrauensvorschuß,
auf die eröffneten Kommunikationsmöglichkeiten und die
Verstärkung von Solidarität auf der Basis von Austauschbeziehungen."[26]
Auch wenn die Beteiligung an dem Projekt von Bezirk
zu Bezirk variierte und letzlich eine Spannweite hatte,
"die von Vandalismus bis zur Unterstützung durch
Bürgerinitiativen reichte,"[27]
verweist die Gesamtheit der daraus entstandenen kommunikativen
Situationen und sozialen Beziehungen auf eine Bedürfnisstruktur,
die der "utopischen" Dimension einer radikal
demokratischen Einrichtung eine reale Grundlage verleiht.
Sie ist es letztlich auch, die den großen Worten vom
"breaking down the boundaries to life", mit
denen Clegg & Guttmann ihre Praxis in der Anspruchsgeschichte
der historischen Avantgarden positionieren, ihre etwas
überzogene Rhetorik nachsehen läßt. Obwohl die Arbeit
von Clegg & Guttmann seit längerem fest im Kunstbetrieb
verankert ist und sie diesen Hintergrund auch ganz selbstverständlich
für "außerkünstlerische Projekte" nützt,[28]
bezieht sie ihre theoretische Grundlage aus einer speziellen
Lektüre von Peter Bürgers Theorie
der Avantgarde. Sie greift die dort beschriebene
Intention der historischen Avantgarden auf, die Kunst
in Lebenspraxis zu überführen, ignoriert aber Bürgers
Historisierung dieses Anspruchs, der zufolge die Überführung
der Kunst in Lebenspraxis nicht stattgefunden hat und
"wohl auch innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft
nicht stattfinden kann."[29]
Nach Bürger haben "die Mittel, mit deren Hilfe
die Avantgardisten die Aufhebung der Kunst zu bewirken
hofften, inzwischen Kunstwerkstatus erlangt," daher
könne "mit ihrer Anwendung der Anspruch einer Erneuerung
der Lebenspraxis legitimerweise nicht mehr verbunden
werden." Für Bürger institutionalisiert die Neoavantgarde
die Avantgarde
als Kunst
und negiert damit die genuin avantgardistischen
Intentionen."[30]
In bezug auf Bürger scheint es tatsächlich eine "very
particular interpretation", die avantgardistische
Rhetorik aufrecht zu erhalten und sie auch noch mit
einer "position of leadership"[31]
zu verknüpfen. Dennoch zeichnet diese Interpretation
der Avantgardegeschichte als "an inspiration for
a process of democratizing institutions"[32]
einen Weg, sich von der großen Erzählung revolutionärer
"Avantgarde" zu verabschieden, ohne ihre gesellschaftskritischen
Potentiale aufzugeben. Teilansprüche der historischen
Avantgarde, wie sie bei Bürger gefaßt sind, etwa die
"Aufhebung des Gegensatzes zwischen Produzenten
und Rezipienten",[33]
die kollektive Rezeptionsform oder die Vorstellung,
daß "Kunst und Lebenspraxis eine Einheit bilden,
wenn die Praxis ästhetisch ist und die Kunst praktisch,"[34] versprechen Arbeiten wie
die "Offene Bibliothek" durchaus einzulösen.
Wie effektiv solche Praktiken in bezug auf die Demokratisierung
der Institution Kunst sein können, ist eine offene Frage.
Die interessantere Frage wäre aber, was es für die emanzipatorische
Symbolkraft einer zweifellos erstaunlich funktionierenden
radikaldemokratischen Versuchsanordnung bedeutet, wenn
sich - wie in Hamburg - herausstellt, daß eine solche
Einrichtung unter der Bevölkerung mit dem größten ökonomischen
und Bildungskapital am erfolgreichsten ist, jener Bevölkerungsgruppe,
die auch unter normalen Umständen am demokratischen
Prozeß (z. B. Wahlen) am meisten partizipiert.[35]
In diesem Zusammenhang wäre dann auch die Problematik
des "Porträts einer Gemeinschaft" zu diskutieren,
wenn dieses nicht anderes abzubilden droht als die etwas
stereotype Vorstellung von einer dem sozialen Niveau
korrespondierenden Demokratiefähigkeit.
... und Gegen-Bewußtsein
Den Projekten von
Clegg & Guttmann, insbesondere der "Offenen
Bibliothek", ist zweifellos ein hohes Maß an konzeptioneller
Reflektiertheit und Präzision in der praktischen Umsetzung
zu bescheinigen. Dadurch unterscheiden sie sich auch
von einer Reihe anderer Projekte, die über eine rhetorisch-spielerische
Ebene nicht weit hinauskommen. Dennoch erscheint die
Konstruktion einer singulären Stellung, wie sie in der
Diskussion dieser Arbeit immer wieder vorgenommen wird,
etwas fragwürdig. Der abstrakte, generalisierende Bezug
auf partizipatorische Ansätze in der Kunst der 60er
und 70er Jahre, die verallgemeinernd als "gescheitert"
betrachtet werden, dient dabei letztlich nur zur Markierung
der historischen Sonderstellung von Clegg & Guttmann.
Die Künstler selbst betonen, daß sie "das Projekt
nicht als Wiederbelebung der (etwas naiven) Arbeiten
der 60er Jahre sehen."[36]
Und Michael Lingner, der sich explizit mit der kunsthistorischen
Dimension der "Offenen Bibliothek" befaßt,
grenzt deren Funktionsweise radikal von allen früheren
Versuchen der Übertragung von Handlungskompetenzen an
das Publikum ab. Zwar habe es "vielfältige Versuche
der künstlerisch-produktiven Einbeziehung des Publikums"
gegeben, doch seien die "auf Selbstbestimmung des
Publikums gerichteten künstlerischen Handlungskonzeptionen
der 60er Jahre ... bis heute nicht praktiziert, sondern
weitgehend bloß als Idee präsentiert und rezipiert worden."[37]
Nur aus Lingners hauptsächlichem Bezugspunkt, den "Handlungsobjekten"
von Franz E. Walther, läßt sich erklären, daß er in
der Art und Weise, wie Clegg & Guttmann "alles
daran setzen, das selbstbestimmte Handeln des Publikums
tatsächlich praktizierbar zu machen, statt sich auf
die Durchsetzung dieser Idee im Kunstkontext zu beschränken,"
einen "fundamentalen Unterschied ihrer künstlerischen
Position gegenüber der Geschichte" erkennt.[38]
Von solchen "fundamentalen"
Differenzen kann allerdings keine Rede mehr sein, sobald
man sich historischen Modellen zuwendet, die jenem der
"Offenen Bibliothek" tatsächlich nahestehen.
Als eines der elaboriertesten Konzepte partizipatorischer
Kunstpraxis, welches gleichzeitig über lange Zeit hinweg
konsequent verfolgt wurde, möchte ich hier die Projekte
erwähnen, die Stephen Willats seit den 60er Jahren ausgeführt
hat. An Willats' Arbeit kann auch exemplarisch gezeigt
werden, daß die pauschale Rede von der "Naivität"
bzw. lediglich ideellen Natur älterer Modelle partizipatorischer
Praxis so nicht haltbar ist.
Stephen Willats produziert in
den frühen sechziger Jahren kinetische Objekte und plastische
Konstruktionen, die teilweise bereits auf Interaktivität
mit dem Publikum ausgerichtet sind. Kritische Überlegungen
zum elitären Charakter des Museums und zur ausschließenden
Struktur des Kunstsystems führen Willats jedoch sehr
bald zur Ausarbeitung neuer Arbeitsmethoden, die zwar
auf dem "kommunikativen" Grundzug der frühen
Objekte aufbauen, aber den Schwerpunkt von der Beziehung
zwischen Menschen und Objekten auf intersubjektive,
also soziale Beziehungen verlagern. Wenn Kunst als Kommunikationsform
gedacht wird, dann muß sie sich nicht in der kommunikativen
Beziehung zwischen Künstler und Publikum erschöpfen,
sondern kann in bestehende soziale Räume und deren Beziehungen
investiert werden. Der für Willats in dieser Hinsicht
zentrale Begriff heißt "Selbstorganisation"
und meint das Herstellen oder Intensivieren von sozialen
Verhältnissen innerhalb einer Gruppe von am ästhetisch-kreativen
Prozeß Beteiligten. Willats
rückt das "Publikum" ins Zentrum des künstlerischen
Prozesses: "I consider that the audience of the
work of art is as important as the artist, and that
the active involvement of people in the origination
of art work is an essential part of the process of generating
interventions in the social process of culture."[39]
Für dieses Verständnis von Partizipation
sind vor allem zwei Punkte
festzuhalten: das "Publikum" (nun ja
Mitproduzent) ist bereits in die Entstehung
des Kunstwerks eingebunden, und nicht erst in die Aktualisierung
einer vorgegebenen Partitur, wie in anderen Modellen,
etwa der Fluxus-Künstler, oder in die Umsetzung einer
von mehreren vorgegebenen Möglichkeiten. Und zum zweiten
ist von "Interventionen in den sozialen Prozeß"
die Rede, d. h. von einem Handlungsraum jenseits des
eigentlichen Kunstzusammenhangs. Den Projekten von Willats
geht es also weniger um die abstrakte Idee von "Partizipation"
als in irgendeiner logischen Folge des "Tods des
Autors" stehend, sondern sie orientieren sich von
vornherein primär am konkreten Lebenszusammenhang jener
Menschen, die an ihnen beteiligt sind, und sie zielen
immer auch auf eine Veränderung dieser Lebensverhältnisse:
"From the outset it became obvious that a model
of practice would be required that would bind it to
the context in which the artwork was to be presented,
and which could embody the priorities, languages and
behaviours of the audience."[40]
Die Neudefinition des Verhältnisses
von Kunst und Öffentlichkeit, um die es hier geht, erweitert
nicht bloß numerisch einen mit den Konventionen und
Kriterien der Kunst vertrauten Rezipientenkreis um die
unbestimmte Dimension des Normalbürgers, der damit auch
an den Werten des Kreativen und Ästhetischen aktiv teilhaben
würde. Kennzeichnend für Willats' Modell ist vielmehr
die Konzentration auf ein zwar anderes, aber wiederum
sehr spezifisches Publikum, welches größenmäßig zunächst
mit dem Kreis der jeweiligen Projektteilnehmer mehr
oder weniger ident ist. Dies hat seinen Grund darin,
daß nicht nur die Aufhebung der Trennung zwischen Produzenten
und Publikum angestrebt wird, sondern diese Gruppe(n)
zugleich auch das Thema, den Inhalt der Arbeit darstellt.
Die gesellschaftskritische Position,
aus der heraus Willats mit jenem spezifischen Publikum
kooperiert, basiert auf der Einsicht in die institutionellen
Zwänge moderner Lebensbedingungen, die sozialen Normen
und kulturell vorherrschenden Codes, die das Alltagsleben,
die Verhaltensweisen und Wahrnehmungen der Menschen
dominieren. Exemplarisch verkörpert findet Willats diese
repressiven Strukturen in den charakteristischen Wohnblöcken
der Nachkriegsmoderne, die auf das psychische wie soziale
Leben ihrer Bewohner - einer widersprüchlichen "Gemeinschaft
von Isolierten" - wesentlichen Einfluß haben. Die
Projekte, die Willats mit den Bewohnern erarbeitet,
sind auf das In-Gang-Setzen von Wahrnehmungsprozessen
ausgerichtet, die zu einer Analyse und möglichen Veränderung
sowohl der individuellen Verhältnisse zur Umgebung als
auch der sozialen Beziehungen untereinander führen sollen.
Dabei geht Willats von einem latent vorhandenen "Gegen-Bewußtsein"
(counter-consciousness) aus, das sich den gesellschaftlichen
Zwängen gegenüber im subversiven Umkodieren von Zeichen
und einem Spektrum von Handlungen äußert, das von Graffitis
über Zerstörungen bis zu "mißbräuchlichen"
Nutzungen von öffentlichen Räumen reicht. Ein Teil der
Arbeit besteht darin, unterschiedliche Formen von Gegen-Bewußtsein
zu artikulieren und durch die Konfrontation mit anderen
von der individuellen Ebene auf die gesellschaftliche
zu heben.
Willats' Modell einer partizipatorischen
Praxis läßt sich an einem Projekt wie "Vertical
Living" (1978) veranschaulichen. Nach Auswahl eines
typischen gemeindeeigenen Wohnblocks, Skeffington Court
in West London, erfolgt die erste Kontaktaufnahme mit
dem Hausmeister und der hier lebenden Mutter eines Freundes,
um zunächst in offener Weise über die Idee einer Zusammenarbeit
mit Bewohnern zu diskutieren und sich potentielle Teilnehmer
vorstellen zu lassen. Nach Konstituierung einer größeren
Teilnehmergruppe führt Willats über drei Monate hinweg
Einzelgespräche, die sich auf die Beziehung zwischen
dem Gebäude und den täglichen Lebensgewohnheiten, dem
Freizeitverhalten und sozialen Kontakten beziehen. Die
Tonbandaufzeichnungen der gesammelten Gespräche eröffnen
dann einen Problemhorizont, auf dessen Basis noch einmal
spezifischer über bestimmte Probleme gesprochen werden
kann. Schließlich werden von jeweils einem/r BewohnerIn
in Zusammenarbeit mit dem Künstler Schautafeln hergestellt,
die durch Fotos und Texte einen bestimmten Sachverhalt,
ein Problem, ein Defizit oder eine Erwartung adressieren.
Die Tafeln werden am Gang neben dem Lift aufgestellt,
wobei der architektonischen Struktur insofern Rechnung
getragen wird, als in regelmäßigen Abständen neue Tafeln
zwei Stockwerke höher plaziert werden. Zusätzlich werden
Antwortblätter verteilt, auf denen andere Mieter Lösungsvorschläge
für angesprochene Probleme artikulieren können, die
wiederum gesammelt und öffentlich präsentiert werden.
Der Projektverlauf generiert neben der notwendig gewordenen
physischen Beweglichkeit innerhalb des Blocks vor allem
eine kommunikative Dynamik, die ein Netz sozialer Beziehungen
hervorbringt, das als so produktiv empfunden wird, daß
ähnliche Strukturen auch nach Ende des Projekt von den
Mietern selbst weitergeführt werden. Auch wenn Willats
von einem Kunstbegriff als sozial relevanter Praxis
ausgeht, bezweckt er keine unmittelbare "Verbesserung"
sozialer Situationen. Die jeweiligen Interventionen
eröffnen lediglich einen neuen Handlungsrahmen, der,
wenn er angenommen oder weiterentwickelt wird, auch
nachhaltige Veränderungen möglich macht.
Die einzelnen Tendenzen
partizipatorischer Kunst - die spielerische und/oder
didaktische, die "pastorale" und die "soziologische"
- haben zumindest eines gemeinsam: den institutionskritischen
Hintergrund, also die Kritik am sozialen Ausschließungscharakter
der Institution Kunst, dem sie "einschließende"
Praktiken entgegensetzen. Für alle bedeutet "Beteiligung"
mehr als die Ausdehnung des Rezipientenkreises. Die
Form der Beteiligung und die Beteiligten selbst werden
konstitutive Faktoren inhaltlicher, methodischer und
ästhetischer Aspekte. Die einzelnen Tendenzen unterscheiden
sich allerdings stark in ihren Vorstellungen von "Gemeinschaft"
und ihren Kriterien für soziale Relevanz. Die einen
verstehen die Community als präexistent und tendieren
deshalb dazu, ihr (feststehende) Identität zuzuschreiben.
Für andere ist Gemeinschaft ein im Projektverlauf hervorgebrachtes
temporäres Phänomen mit Entwicklungspotential.
Der Wert oder Erfolg partizipatorischer
Praktiken scheint letztlich weder allein nach dem Ausmaß
von Handlungskompetenz beurteilbar, das sie den Beteiligten
eröffnen, noch am Maßstab der "konkreten Veränderung."
Gerade gegenüber dem oft erhobenen Postulat der Nützlichkeit
scheint Skepsis angebracht. Was angesichts der weitgehenden
gesellschaftlichen Folgenlosigkeit von Kunst einmal
notwendig schien, auf der Möglichkeit "realer"
Wirkung zu beharren, steht unter anderen Vorzeichen,
wenn es immer mehr die übergeordneten politischen Instanzen
sind, die Engagement, Solidarität und Bürgerbeteiligung
einklagen. Die Nützlichkeit sozialen (künstlerischen)
Handelns paßt unter Umständen ins Kalkül eines Staates,
der sich seine Bürger nicht mehr leisten kann und sie
deshalb zur Selbsthilfe aufruft. Das eingangs zitierte
Konzept der "Bürgerarbeit" ist nur ein Beispiel
für das Austauschen von politischen Partizipationsmöglichkeiten
durch "soziale Praxis." Unter solchen Bedingungen
scheint die Frage berechtigt, ob nicht Veränderungen
auf "nur" symbolischer Ebene, wie sie bestimmte
Modelle partizipatorischer Praxis intendieren, gegenüber
den "konkreten" wieder aufgewertet werden
müßten. In vielen Fällen sind sie es, die zumindest
die Idee politischer Handlungsfähigkeit bewahren. Nicht
zuletzt deshalb, weil sie zunächst beim politischen
Bewußtsein und den Grundlagen von Mitbestimmung verweilen,
ohne sich sofort dem Pragmatismus der Problemlösung
zu verschreiben.
aus: Marius Babias, Achim Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen, Dresden: Verlag der Kunst 1998
[1] Ulrich Beck, "Die Seele der Demokratie", Die Zeit, Nr. 49, 28. Nov. 1997, S. 7-8.
[2] Als VertreterInnen dieses Soziochics wären etwa Rirkrit Tiravanija, Christine & Irene Hohenbüchler oder Jens Haaning zu nennen. In ihrer Kritik solcher Vorgangsweisen, denen sie "ausgeprägten Ausbeutungscharakter" zuschreiben, haben Alice Creischer und Andreas Siekmann den Begriff "Subunternehmertum" geprägt. Dieses lagert die Produktion aus, schöpft aber den Mehrwert ab. Siehe A. Creischer/A. Siekmann, "Reformmodelle", springer, III, 2, 1997, S. 17-23. Jene Variante, die sich mehr auf die sozial-kommunikativen Beziehungen zwischen KünstlerInnen und AusstellungsbesucherInnen beschränkt, hat Nicolas Bourriaud anläßlich der von ihm kuratierten Ausstellung "Traffic" "Relationale Ästhetik" getauft.
[3] Zitiert nach Benjamin Buchloh, "Von der Faktur zur Faktografie", Durch, 6/7, 1990, S. 9.
[4] ebd.
[5] Zitiert nach Walter Benjamin, "Der Autor als Produzent", in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1991, S. 688.
[6] ebd., S. 694.
[7] Allan Kaprow, Essays on The Blurring of Art and Life, hg. von Jeff Kelley, Berkeley/London: Univ. of California Press, 1993, S. 195.
[8] Manifest von George Maciunas (1965), zitiert nach Estera Milman, "Historical Precedents, Trans-historical Strategies, and the Myth of Democratization", in: FLUXUS: A Conceptual Country (= Visible Language, Vol. 26, 1/2), Winter/Spring 1992, S. 31.
[9] Mary Jane Jacob, "Outside the Loop", in: Culture in Action, Seattle: Bay Press, 1995, S. 52.
[10] Suzanne Lacy, "Cultural Pilgrimages and Metaphoric Journeys", in: dies. (ed.), Mapping the Terrain: New Genre Public Art, Seattle/Washington: Bay Press, 1995, S. 37.
[11] ebd., S. 32.
[12] ebd., S. 36.
[13] ebd.
[14] Michael Brenson, "Healing in Time", in: op. cit., Culture in Action, S. 21.
[15] In ihrem Text "Won't Play Other to Your Same" in Texte zur Kunst, 3, 1991, hat Renée Green festgestellt, daß es sich bei der Konstruktion des "Anderen" um die Zuweisung eines Zustands handeln kann, die auch dazu dient, die "Gleichartigkeit" als Norm zu bestätigen.
[16] Brenson in op. cit., S. 27.
[17] Siehe dazu Seyla Benhabib, "Ein Blick zurück auf die Debatte über 'Frauen und Moraltheorie'", in: dies., Selbst im Kontext, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1995, S. 161-220.
[18] Lucy Lippard, "Looking Around: Where We are, Where We could be", in op. cit., Lacy, S. 126.
[19] op. cit. Jacob, S. 56.
[20] Für eine Kritik, die sich mehr mit den problematischen "Effekten" als mit den ideologischen Hintergründen befaßt, siehe Christian Höller, "Störungsdienste", springer, I, 1, 1995, S. 20-26, und Miwon Kwon, "Im Interesse der Öffentlichkeit...", springer, II, 4, 1996/97, S. 30-35. Ulf Wuggenig kritisiert wiederum die Abwehr der "populistischen Gemeinschaftsorientierung" der NGPA durch die "elitär und individualistisch orientierte" Kunstwelt. U. W., "Kunst im öffentlichen Raum und ästhetischer Kommunitarismus", in: Christian Philipp Müller, Kunst auf Schritt und Tritt, Hamburg: Kellner, 1997, S. 88f.
[21] Adrian Piper, "Notes on Funk I-IV", in: dies., Out of Order, Out of Sight, Vol. I: Selected Writings in Meta-Art 1968-1992, Cambridge, Mass./London: MIT Press, 1996, S. 201.
[22] op. cit., Lacy, S. 16.
[23] Clegg & Guttmann, "Entwurf für eine 'Open Air' Bibliothek", Durch 6/7, 1990, S. 136.
[24] Claus Friede, "Interview mit Clegg & Guttmann", in: Clegg & Guttmann, Die Offene Bibliothek, hg. von Achim Könneke, Hamburg/Ostfildern: Cantz, 1994, S. 18.
[25] Clegg & Guttmann, Breaking Down the Bounderies to Life: Avantgarde Practice and Democratic Theory, Nr. 1 der Schriftenreihe des AKKU, Wien, 1995, S. 57.
[26] Ulf Wuggenig, Vera Kockot und Kathrin Symens, "Die Plurifunktionalität der Offenen Bibliothek. Beobachtungen aus soziologischer Perspektive", in op. cit., Clegg & Guttmann, Die Offene Bibliothek, S. 88.
[27] ebd., S. 85.
[28] Im zitierten Interview mit Friede, S. 20.
[29] Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1981, S. 72.
[30] ebd., S. 80.
[31] Clegg & Guttmann, op. cit., Breaking Down the Bounderies..., S. 43.
[32] ebd., S. 35.
[33] op. cit., Bürger, S. 72.
[34] ebd., S. 69.
[35] Siehe die Ergebnisse der soziologischen Studie in op. cit., Wuggenig et al, "Zur Plurifunktionalität der Offenen Bibliothek", S. 84.
[36] op. cit., Clegg & Guttmann, "Entwurf für eine 'Open Air' Bibliothek", S. 136.
[37] Michael Lingner, "Ermöglichung des Unwahrscheinlichen. Von der Idee zur Praxis ästhetischen Handelns bei Clegg & Guttmanns Offener Bibliothek", in: op. cit., Clegg & Guttmann, Die Offene Bibliothek, S. 50.
[38] ebd.
[39] Stephen Willats, Between Buildings and People, London: Academy Editions, 1996, S. 7
[40] ebd., S. 8.