03 2004
Konstellation - Zerstreuung - Assoziation. Eine Historisierung gestischen Radiohörens
*"Je mehr Raum und Zeit beherrscht werden, desto weniger stehen die Beherrscher fest."* Siegfried Kracauer
Radio ist heutzutage
ein in vielerlei Hinsicht aus Gewohnheit unterschätztes
Medium. Es wird nur mehr nebenbei gehört. Während über
das Fernsehen immer wieder Debatten geführt werden,
wird der Medialität des Radios nur noch selten eine
größere Aufmerksamkeit zuteil. Eine interessante Situation,
sich wie nebenher dieses Medium anzueignen, um neue,
unvorhersehbare Situationen zu ermöglichen.
Aufgrund der Aufmerksamkeit einiger
Intellektueller sind in den späten zwanziger Jahren,
kurz nachdem das Radio eingeführt wurde und sich als
Massenmedium verbreitete, einige Urszenen des Radios
aufgezeichnet worden. Sie erinnern grundlegende Bedingungen
für eine Aneignung des Radios - und deren immanente
Grenzen. Anhand zweier solcher Szenen soll im Folgenden
die Konstellation der HörerInnen und die Zerstreuung
der Stimme als diejenigen Motive bestimmt werden, die
sich nicht beherrschen lassen und so eine Relektüre
der Radiotheorie von Bertolt Brecht erlauben.
1. Szene. Konstellation. Am Abend eines Wahltages.
"Da sämtliche
aus dem Ausland entsandten Sonderberichterstatter ihren
Blättern das hohe Wahlfieber gemeldet hatten, das hier
in Berlin herrsche, beschloss ich am Abend des Wahltages,
die Temperatur selber zu messen", beginnt Siegfried
Kracauer seinen kleinen Bericht für die *Frankfurter
Zeitung*. Der Reporter geht auf die Straße, um als
Augenzeuge von Vorgängen dort zu berichten. März 1932:
Die Situation auf der Straße war angespannt, Straßenschlachten
waren nicht ungewöhnlich, so dass auch am entscheidenden
Datum des Wahltags etwas zu erwarten war - und seien
es nur erhitzte Gemüter. Doch zu Kracauers Überraschung
verlief schon der Wahltag ausgesprochen ruhig, "nur
auf den Litfasssäulen tobte der Kampf weiter. Dort klebten
rote nationalsozialistische Zettelchen über den Mündern
von Thälmann und Düsterberg, um diese gewaltsam am
Sprechen zu hindern." So streunt der Feuilletonist
weiter, um nach Schließung der Wahllokale auf den großen
Plätzen Berlins die Entwicklung abzuwarten. Wird sich
der papierne Kampf in der Öffentlichkeit wiederholen?
"Gegenüber dem Kaufhaus
des Westens war mitten auf dem Platz eine weiße Projektionsfläche
angebracht, vor der aber nur ganz wenig Leute standen."
In den Jahren zuvor hatten sich immer größere Menschenmengen
vor solchen Projektionen der Wahlergebnisse versammelt
- sie bildeten Gruppen, die heftig debattierten -, handlungsfähig,
weil sie sich auf der Straße trafen. Erst auf der Straße
stellten sie eine Öffentlichkeit dar, deren Handeln
nicht vorhersehbar war. Doch 1932 ist davon nichts mehr
zu sehen, es herrscht "eine auffällige Untertemperatur".
Berlin ist entleerter und kälter als sonst im März.
Kracauer beendet seine präzisen
Beobachtungen mit der Suche nach den Gründen für diese
Situation. Ist es vielleicht gerade die Angst vor gewaltsamen
Auseinandersetzungen? Nein: "Viel wahrscheinlicher
ist (...), dass die meisten zu Hause blieben, um im
Kreis der Familie die Wahlergebnisse abzuhören. Das
Radio ist Schuld daran, dass die Öffentlichkeit verwaist.
Zu einer Zeit, in der die Politik aus den Bürgerhäusern
auf die Straße gedrungen ist, treibt es während entscheidender
Stunden die Menschen von der Straße in die gute Stube
zurück." Das Radio zerstreut Kracauers Hoffnung
auf die Politisierung der Straße, wie sie mit dem Beginn
revolutionärer Bewegungen denkbar war. Mit der Masse
war eine neue Öffentlichkeit entstanden, die vielleicht
nicht entscheidend war, aber in entscheidenden Momenten
die Straße politisieren konnte. Mit dem Radio verfällt
diese Möglichkeit, bevor sie geschichtsmächtig werden
kann. Die Konstellation der HörerInnen, die zu Hause
getrennt voneinander an der Öffentlichkeit des Programms
partizipieren, also eine zerstreute Öffentlichkeit darstellen,
erscheint als nicht handlungsfähig und somit politisch
bedeutungslos. Die Familie hört die Ergebnisse, debattiert
vielleicht darüber, aber wie die Stimme aus dem Radio
bleibt ihr Handeln auf die vier Wände der Wohnungen
beschränkt. Mag sich das Bewusstsein der HörerInnen
verändern, politisch hat dies keine unmittelbare Wirksamkeit.
Im verwaisten öffentlichen Raum ziehen knapp ein Jahr
später die Nationalsozialisten mit ihren Paraden und
Fackelzügen auf, während die Masse zu Hause verfolgt,
wie sich die politische Situation verändert.
2. Szene: Zerstreuung. Spuk und Radio auf der Straße.
Auch der Intellektuelle
Günther Stern verließ Ende der Zwanziger sein Haus und
ging auf die Straße. Diese war aber nicht gespenstisch
leer, sondern von spukhaften Stimmen erfüllt: "Radikal
wird die der Musik zukommende Raumneutralität zerstört
erst im Radio. Man tritt aus dem Hause, die Musik des
Lautsprechers tönt noch im Ohre, man ist in ihr - sie
ist nirgends. Man macht zehn Schritte und die gleiche
Musik tönt aus dem Nachbarhause. Nun, da auch hier Musik
ist, ist Musik hier und dort, lokalisiert und in den
Raum gepflanzt wie zwei Pfähle. Aber es ist ja die gleiche
Musik: hier singt X, was er dort begonnen. Man geht
weiter - am dritten Hause setzt X fort, vom zweiten
X begleitet, vom vorsichtigen X des ersten Hauses leise
untermalt. Was chockiert hier?"
Stern beobachtet, wie die Stimmen
der Radios aus den Häusern dringen. Die verwaiste Öffentlichkeit
wird durch die "doppelgängerhaften Stimmen"
gespenstisch, weil alle Stimmen gleichzeitig und gleichermaßen
den Anspruch erheben, die authentische Stimme zu sein.
Das ist der grundlegende *Chok*
der Ubiquität, den das Radio bei dem Musikliebhaber
Stern erzeugt. Ihm ist das Radio ein Spuk, der "den
Menschen" vor die Wahl stellt, das Phänomen zu
ignorieren oder sich zu den "doppelgängerhaften
Stimmen" zu "bekennen", allerdings mit
der Gefahr, darüber "selbst unmenschlich"
zu werden.
Was Stern als spukhaft wahrnimmt,
erklärt sich aus der technischen Grundbedingung des
Radios: in der Verteilung der Stimme, ihrer Zerstreuung
von einem Sender auf unbestimmt viele Geräte. Die eigentümliche
Materialität der ausgestrahlten Stimme besteht darin,
immer nur im Plural aufzutreten. Darin liegt ihre Bedrohung
für "den Menschen", welchen Stern im Singular
gegen die Pluralität des Identischen setzt. Jeder Versuch
einer Aneignung des "Entwachsenen", des "Unmäßigen"
muss scheitern: Sie wendet sich gegen das Subjekt der
Aneignung und reißt es mit in das Geisterreich der Technik.
Dort zerstreut es sich mit seiner Stimme in der gespenstigen
Öffentlichkeit des Radios.
3. Perspektive. Assoziation. Die Hörer organisieren.
Damit sind zwei Urszenen
der Unheimlichkeit des Radios skizziert: die HörerInnen
in ihrer zerstreuten Konstellation und die auf viele
Geräte identisch zerstreute Stimme, welche darob als
Verwaisung des öffentlichen Raumes und als Heimsuchung
der so entstandenen Leere durch Doppelgänger und Gespenster
erscheinen. Einer linken Medienkritik scheint die Zerstreuung
ähnlich unheimlich gewesen zu sein - und sie hat in
ihr vorrangig ebenfalls nur ein Problem gesehen. Entsprechend
blieben die Möglichkeiten der Distribution in den zahlreichen
Versuchen der Aneignung des Mediums - angefangen mit
den Vorschlägen Brechts und deren Rezeption durch Enzensberger
über die Praxis von Radio Alice bis hin zu Gert Lovinks
Modell der souveränen Medien - weitgehend unbeachtet.
Oder aber die Distribution wurde - ausgehend von Brecht
- als ein Mangel begriffen, den es zu beseitigen gilt:
"Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat
in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln."
So wird das Potenzial der gespenstigen Distribution
verdrängt: die Herstellung einer zerstreuten Öffentlichkeit
und eine mehr als nur akustische Veränderung von Räumen
und Situationen. Ein Potenzial, wie es unter den Medien
allein dem Radio eignet.
Doch wie lässt sich dieses Potenzial
aneignen? Obwohl es auf den ersten Blick nicht so scheint,
lautet so auch Brechts Frage, wie er sie in der "Radiotheorie"
stellt. In dem Aufsatz merkt er an, wie sich durch Radioempfänger
öffentliche Orte verändern und schränkt ein, "aber
es kann nicht die Hauptaufgabe des Rundfunks sein, auch
noch unter den Brückenbögen Empfänger aufzustellen",
um dann die schon zitierte Forderung nach der Umwandlung
des Rundfunks in einen Kommunikationsapparat zu stellen.
In der Rezeption wird diese Rundfunkkommunikation zumeist
als "Wechselwirkung" zwischen Sender und Empfänger
vorgestellt, betrifft also nicht die unheimliche Konstellation
der HörerInnen. Dem scheint Brechts Erläuterung zu entsprechen:
Der Rundfunk "ist ein reiner Distributionsapparat,
er teilt lediglich zu". Erst in der Umwandlung
würde die distribuierende Zuteilung zur kommunikativen
Mitteilung.
Doch entspricht dies wirklich
Brechts Forderung? Denn, wie er weiter feststellt, teilt
das Radio auch jetzt schon mit: "Die Aufgabe des
Rundfunks erschöpft sich nicht damit, Berichte weiterzugeben."
Brecht geht es nicht um Kommunikation im Sinne einer
wechselwirkenden Mitteilung, sondern darum die Distribution
selbst umzuwandeln, sie als Kommunikation zu verstehen.
Nicht der technische Apparat muss umgewandelt werden,
wie Enzensberger liest, sondern die Funktion der Zuteilung.
Sie darf nicht nur "das öffentliche Leben verschönen",
sondern muss *als*
Zuteilung die Situation des Hörers verändern und wie Brecht an anderer Stelle
schreibt, "seine Wiedereinsetzung als Produzent"
realisieren. Nicht von einer Abwertung des Radios ist
Brechts Theorie motiviert, sondern von der Kritik an
der herrschenden Nutzung, in der die Möglichkeiten der
Distribution ungenutzt bleiben.
Die Aktualität seiner Analyse
besteht darin, dass er anders als Kracauer und Stern
in dem Aufkommen des Radios nicht den Verfall einer
Kultur des Öffentlichen sieht, sondern erstmalig die
Möglichkeit, durch das Radio die Hörer in ihrer Konstellation
"in Beziehung zu setzen", d.h. sie miteinander
in einer freien Assoziation zu organisieren.
In dieser Lesart bestünde die
eigentliche Aufgabe einer linken Aneignung des Radios
also keineswegs in der Umkehrung des Mediums, welche
zudem nur als abgeschlossener Akt verstanden werden
kann: ein Akt, der immer zukünftig bleibt, also nie
beginnen wird.
Die Aufgabe bestände vielmehr
darin, unter der grundlegenden Bedingung des Gespenstischen
der Distribution mit der Aneignung zu beginnen. Diese
Aneignung wäre nicht abschließbar, ließe stattdessen
die Entwicklung von Modellen zu, die das Medium in seinen
gegebenen Möglichkeiten immer wieder prüfen: In welche
Situationen kann das Radio intervenieren? Welche politische
Wirksamkeit kann die zerstreute Öffentlichkeit der HörerInnen
haben? Wie lässt sich die Konstellation der HörerInnen
in eine freie, politisch wirksame Assoziation verwandeln?
In der Suche nach Antworten auf solche Fragen wären
unvorhergesehene Praktiken der Radionutzung zu entwickeln.
[aus: Open House. Kunst und Öffentlichkeit / Art and the Public Sphere, o.k books 3/04, Wien, Bozen: Folio 2004]