10 2010
Gelernte Lektionen. Kämpfe und Wissen des Dissens
Übersetzt von Wolfgang Sützl
Am 20. Oktober 2009 waren selbst die Wiener Linken überrascht, als StudentInnen und MitarbeiterInnen der Akademie der bildenden Künste zu protestieren begannen und die Universität besetzten. Vorausgegangen waren selbstorganisierte Gruppenaktionen und Untersuchungen zu den Bologna-Reformen, die Studium und Lehre veränderten. Mehrere Aktionen, darunter auch eine Reihe von Führungen, bei denen in den Hörsälen der Akademie in selbstorganisierten Recherchen erhobene Fakten über den Reformprozess präsentiert wurden, bildeten die Keimzelle für eine wachsende Gruppe politisierter StudentInnen und MitarbeiterInnen. Als die Lage immer drängender wurde – weniger Zeit, Zugang, Ressourcen, Flexibilität und Raum für außercurriculare Forschung und reflexive Fragestellungen – begannen sich stärkere Allianzen zwischen den Gruppen der verschiedenen Wiener Universitäten zu bilden. Der anschließende und lang andauernde Prozess der Selbstorganisation und des Kampfes führte zu einem besseren kollektiven Verständnis und einer verbesserten kollektiven Entwicklung der darauf folgenden Protest- und Organisationsformen.
Ausgangspunkt für die Besetzung der Akademie war eine Auseinandersetzung mit dem Rektor über den Entwicklungsplan. Dieser ist das Leitbild, das die Grundlage für die Leistungsvereinbarung bildet, einen alle drei Jahre erneuerten, rechtlich bindenden Vertrag zwischen den einzelnen österreichischen Universitäten und dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung. In der Leistungsvereinbarung werden Strukturreformen und statistische Ziele definiert, die im Gegenzug einen bestimmten Umfang an Finanzierung gewährleisten. In diesem Jahr hatte der Rektor angekündigt, er würde Vorschläge für den Entwurf entgegennehmen, worin die StudentInnen und MitarbeiterInnen eine Möglichkeit der Intervention und vermehrter Transparenz sahen, um die Institution von der Basis aus zu verändern. In der Folge wurden Entwürfe auf selbstorganisierter Basis verbreitet, die schließlich in ein gemeinsames Enddokument aller Fakultäten und Institute zusammengeführt wurden und gleichzeitig der Bewusstseinsbildung dienten. Dieser selbstorganisierte Entwurf wurde dann dem Rektor mit der Forderung vorgelegt, ihn an das Ministerium weiterzuleiten. Als der Rektor einer Klarstellung, was er denn nun dem Ministerium vorlegen werde, vermied, besetzten 250 StudentInnen und MitarbeiterInnen die Aula und forderten ihn dazu auf, seine Entscheidung bekannt zu geben. Als darauf eine unklare Antwort erfolgte, wurde beschlossen, die Besetzung so lange fortzusetzen, bis die Forderungen erfüllt seien. Die Besetzung dauerte mehrere Monate an und hinterfragte und gefährdete die schrittweise Privatisierung dieses äußerst repräsentativen Saals sowie auch anderer Räumlichkeiten, die immer wieder für Events wie Corporate-Identity-Launchparties von Banken, Pelzmodenshows u. Ä. vermietet worden waren. Stattdessen wurde der Raum für selbstorganisierte Parties, Plenarveranstaltungen, Konzerte und Performances genutzt, wobei über jeden Event von den BesetzerInnen selbst entschieden wurde. Als sich immer mehr Leute in den Prozess einbrachten, wurden die Forderungen allerdings immer abstrakter, wie z.B. die Abschaffung der Privatisierung von Gemeingut – ein Ideal, dessen Erfüllung deutlich über die ursprünglichen, auf die Leistungsvereinbarung abzielenden Forderungen hinausging.
„Insgesamt dominieren in den Protesten Kritik und Forderungen, die weit über den unmittelbaren Kontext von Bildung und Universitäten hinausreichen, da sie die Erkenntnis darüber beinhalten, wie sehr die neoliberale kapitalistische Marktlogik alle Bereiche des Lebens infiltriert, kommodifiziert, durch rassistische und sexistische Ausschlusspolitiken isoliert und jegliche Kollektivität, die durch die Proteste ein Stück weit etabliert wurde, zunichte macht. Die Authentizität der Proteste zeigt sich im Bewusstsein, Verbesserungen im Bildungssystem nicht erkämpfen zu können, ohne die Struktur und das System zu verändern, das ebendieses erschaffen hat – und dass solche Veränderungen nicht mittels homogenisierter Top-Down-Reformen sondern nur durch basisdemokratische Prozesse herbeigeführt werden können. Es geht nicht darum, ein größeres Stück vom Kuchen zu fordern oder einen eigenen Kuchen für sich zu reklamieren –, es geht um die Übernahme der ganzen verdammten Bäckerei.“[1]
Zwei Tage nachdem die Akademie besetzt worden war, setzte eine Gruppe von StudentInnen und MitarbeiterInnen den Protest am Wissenschaftsministerium fort, während dort die Leistungsvereinbarungen verhandelt wurde, und präsentierte die Lage an anderen Wiener Universitäten. Dabei schlossen sich immer mehr dem Protest an. Die Proteste griffen rasch auf andere österreichische Universitäten über und schlossen sich weltweit an bestehende Protestbewegungen an, wodurch ein internationaler Schneeballeffekt entstand. Die längerfristigen Folgen dieser Internationalisierung führten im März 2010 zum transnationalen Bologna-Gegengipfel, der einen Protest gegen jenes Zusammentreffen der europäischen Minister für höhere Bildung in Wien darstellte, bei welchem der Europäische Hochschulraum, das erklärte Ziel des Bologna-Prozesses, „eröffnet“ werden sollte. Der Gegengipfel dauerte mehrere Tage und bestand aus Präsentationen, Protestaktionen und einer Blockade, deren Absicht es war, die Ankunft der MinisterInnen am Schauplatz des Gipfels, der Wiener Hofburg, zu erschweren. Protestierende aus mehreren von den Reformen des Bologna-Prozesses betroffenen Ländern gaben hier ihre Stellungnahmen und Forderungen ab, wobei diese zunehmend die Form von Erklärungen und Sabotage- und Inbesitznahme-Aktionen annahmen und immer weniger mit den ursprünglichen, klar formulierten Forderungen zu tun hatten.
Privilegierung, Infantilisierung und Selbst-Disziplin
Dass es den StudentInnen und MitarbeiterInnen der Akademie möglich war, sich Zeit und Raum zu nehmen, um sich selbst zu organisieren und die Bedingungen ihrer eigenen Ausbeutung unabhängig zu untersuchen ist bemerkenswert und bedeutsam. Der Bologna-Prozess führt zur Homogenisierung der Lehrpläne, zu transferierbaren Abschlüssen und Credits, und er schafft die Grundlage für einen Wettbewerb, in welchem Bildungseinheiten einen klar definierten Tauschwert bekommen und Zeit und Raum effizienter genutzt werden. Ob der Gewinn nun aus unbezahlter studentischer Arbeit, aus ausbeuterischen Praktika, aus Jobmangel oder Überschuldung gezogen wird, er wird in jedem Fall durch die Strukturreformen maximiert, denn es wird sichergestellt, dass Zeit und Raum nicht auf Prozesse „verschwendet“ werden, welche diese Strukturen in nicht gewinnorientierter Weise in Frage stellen.
Warum aber waren so viele darüber überrascht, dass eine Protestbewegung ausgerechnet von einer Kunstakademie ausging? An der Wiener Akademie der bildenden Künste entscheidet eine dreitägige Aufnahmeprüfung über die Zulassung. Professionelle KünstlerInnen entscheiden dabei darüber, ob das „Talent“ der Bewerber oder der Bewerberin ausreicht oder nicht. Wird ein Bewerber/eine Bewerberin aufgenommen, so wird er/sie damit als KünstlerIn mit einem bestimmten Maß an Talent sowie einem akademischem Titel und beruflichem Status definiert. Die Gefahr eines Versagens im Studium ist minimal, und man hat eine unbegrenzte Anzahl von Jahren zur Verfügung, um die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln, akademische Kriterien zu erfüllen und einen Platz auf dem Kunstmarkt zu finden. Damit wird die auf Universitäten verbreitete Versagensangst reduziert, bevor der graduierte Künstler/die graduierte Künstlerin am Ende den Mechanismen des Marktes überlassen wird. Eine Verknappung von Raum, Zeit und Ressourcen verändert diese Situation allerdings dramatisch. Die Politisierung, die den Protesten vorausging, war nur möglich, weil die erforderlichen Ressourcen existierten. Es war sogar möglich, den Protest in das eigene Studium und/oder die eigene künstlerische Arbeit zu integrieren.
Die Reformen des Bologna-Prozesses wurden durch je nach Land verschiedene Formen der vorbereitenden Strukturanpassungen umgesetzt, etwa durch die verbreitete Idee der „Autonomie“ – ein neoliberales Trojanisches Pferd in Gestalt eines Vokabels, welches, obwohl der Art nach reaktiv, in Österreich in den 1990er-Jahren auf provokante Weise eingeführt wurde. Immer häufiger wird „Autonomie“ angeboten und implementiert, um das Feuer der Unzufriedenheit zu dämmen, wenn Forderungen nach einer weniger Top-Down-orientierten Restrukturierung laut werden. Der wahre Charakter dieser vermeintlichen Antwort auf solche Forderungen lässt sich indessen anhand der Geschichte veranschaulichen, die am Anfang dieser Analyse stand, nämlich der Verhandlungen über die Leistungsvereinbarung der Akademie. „Autonomie“ steht für den zunehmenden Rückzug des Ministeriums aus der finanziellen Verantwortung für Bildungseinrichtungen, d.h. der Staat überlässt die Universitäten auf der Suche nach Finanzierung der „freien“ Wildnis des Markts. Typische Ergebnisse dieser „Autonomie“ waren daher private Investitionen, bei denen Institute und Lehrpläne durch drastische Eingriffe an die jeweiligen Begehrlichkeiten angepasst wurden, aber auch erhöhte Studiengebühren, stärkere Ausgrenzung von externen StudentInnen und MitarbeiterInnen, und Mobilitätsprojekte, die auf einen gewinnträchtige Zunahme von Externen abzielten gehörten dazu. Als die Proteste und ihr Vokabular immer mehr von PolitikerInnen und RektorInnen vereinnahmt wurden, gerieten die Forderungen zu pervertierten Spiegelbildern der in ihnen zugrunde liegende Absicht; der Prozess, die Reformen selbst in die Hand zu nehmen, wurde zu einem Gefängnis, die Subversion wurde neutralisiert.
Die Instrumentalisierung des/der „verrückten“, von einer „Autonomie der Kunst“ träumenden „Künstlers/Künstlerin“ bot eine perfekte Grundlage für die Infantilisierung der Protestierenden und ermöglichte gleichzeitig ein bestimmtes Maß an unbedrohlicher Toleranz, ohne allzu viel Rücksicht darauf, wie dieses Privileg konstruiert wurde. Durch all die Aneignungs- und Instrumentalisierungsprozesse, die auf die Forderungen nach einer selbstbestimmten Reform von Studium und Lehre folgten, unterstützten diese einfach eine höchst effiziente und unbezahlte Form der Selbstdisziplin. Wir schufen das perfekte Rezept zur Beruhigung unserer eigenen Unzufriedenheit und reproduzierten damit die gesamte uns umgebende Maschinerie.
Wir wollen alles[2],
wir verlangen nichts![3]
Am 4. März 2010 besuchte die neue ernannte Wissenschaftsministerin, Beatrix Karl, die Akademie der bildenden Künste und lud mehrere führende „ExpertInnen“ und ÖH-VertreterInnen zu einer offenen Diskussion über die Proteste ein, um zu sehen, was hinter all dem Aufruhr steckte, und um eine Möglichkeit zu finden, diese Unordnung gleich am Beginn ihrer Amtszeit zu bereinigen. Nach einer längeren Zeit mit unklaren Äußerungen Karls, Kritik seitens des Publikums, und zunehmender Frustration der ÖH-RepräsentantInnen, sagte eine Vertreterin der Akademie, dass sie keinen Grund dafür sähe, den so genannten „Universitätsdialog“ mit Karl fortzusetzen – jene Gespräche also, die mit dem Ministerium als Folge der Proteste begonnen wurden – weil sie nicht glaubte, dass sie zu einem nützlichen Ergebnis führen könnten. Sie erklärte das „Ende des Dialogs“. Karl, die auf diese Situation nicht vorbereitet war, fiel zu den Buhrufen und Beschimpfungen aus dem Publikum immer weniger ein und es entstanden lange, peinliche Pausen.
„Ohne eine spezifische Forderung kann es auch keine befriedende Vermittlung geben; ‚keine’ Forderungen zu haben ist kein Mangel, sondern eine widersprüchliche Behauptung der eigenen Stärke und der eigenen Schwäche. Zu schwach, um auch nur zu versuchen, von denen, die das proletarische Leben dominieren, etwas zu bekommen; und gleichzeitig stark genug, um die direkte Aneignung des eigenen Lebens zu versuchen, der Zeit und der Tätigkeit außerhalb der Mediation.“
„Forderungen werden zum Mittel ihrer eigenen Unterdrückung.“ Diese zwei Zitate aus We Demand Nothing von Johann Kaspar unterstützen dessen Behauptung, dass die Forderung selbst die Umstände definiert, in denen der Widerstand enden soll, also ein Ablaufdatum für den Kampf festsetzt.[4] Kaspars Analyse untersucht den jüngsten und zunehmenden Trend, keinerlei Forderungen zu erheben und damit derartige widersprüchliche Formen des Kampfs als die einzigen in den gegenwärtigen soziopolitischen Strukturen der Unterdrückung, Aneignung und Instrumentalisierung noch möglichen Formen des Kampfes zu legitimieren. Kaspar schreibt: „In dem Maß, in dem sich die Ausbeutungsbedingungen entwickeln, verändern sich auch die Kämpfe selbst. Dies kommt nicht durch Forderungen, sondern durch den Inhalt der Aktivität selbst zum Ausdruck. “ Die Besetzung ist bis jetzt die klarste Methode, die Symbiose zwischen Forderungen und profitabler Aneignung des Widerstandes zu brechen, indem Zeit, Raum, das Soziale und Gemeingüter in Anspruch genommen werden. Die Besetzung fordert nichts; sie nimmt und behält einfach alles, was sie bekommen kann.
Mobilität, oder eine Bewegung bewegungsunfähig machen
Was geschieht, wenn Protest und Besetzung sich entwickeln und alle Forderungen aufgeben und damit die Ausbeutungsbedingungen in einer Wissensökonomie bloßstellen oder den Fluss privater Güter blockieren? Können wir beginnen, die Forderung (demand) im Verhältnis zu Angebot und Nachfrage (demand) innerhalb der neoliberalen Strukturen der Aneignung zu sehen?
Die Vorstellung eines Wissensraums definiert einen Raum, in dem das Kapital, das den Fluss des Wissens ermöglicht – also humanes und kognitives Kapital und Güter – frei innerhalb eines gesicherten Bereichs fließen kann. Die Weltsystemtheorie beschreibt eine neokoloniale, globale Aufteilung der Welt in Peripherie, Semi-Peripherie und Zentrum, wobei die freie Zirkulation von Profit und Kapital im Zentrum erlaubt und gefördert wird, während die Semi-Peripherie von gefilterten Restriktionen betroffen ist und die Peripherie eine Ausnahmezone darstellt. Die Europäische Union ist zum Beispiel so ein supranationales Zentrum, während Osteuropa eine Semi-Peripherie bildet und Afrika eine Peripherie.[5] Der europäische Hochschulraum steht für den Wissensraum des EU-Zentrums. Eines der wichtigsten Ziele des Bologna-Prozesses ist die größtmögliche Mobilität von Lehrpersonal und Studierenden innerhalb dieses Raums. Was zunächst wie eine Überwindung restriktiver Grenzregimes aussieht, führt zwei Klassen der Bewegung ein: die vom Gesetz bestrafte Migration, und die vom Gesetz beschützte Mobilität. Das Zuckerbrot „Mobilität“ und die Peitsche „Autonomie“gehören zusammen. Eine maximale Rendite erhöht die Profitabilität durch restriktive, rassistische Aufenthaltsgenehmigungen und bedeutend höhere Studiengebühren für nicht in der EU Lebende für die Dauer ihres „Besuchs“. Ben Rosenzweig bezeichnet die Studierenden, die diesen Restriktionen innerhalb von Wissensräumen ausgesetzt sind, als „GastkonsumentInnen“[6], während in der wirtschaftlichen Terminologie von „Bildungsexporten“ die Rede ist.
Die Reformen, die den Europäischen Hochschulraum strukturieren, sind das Ergebnis eines schrumpfenden kapitalistischen Systems, das ständig nach neuen Ressourcen sucht, während gleichzeitig die Krise an dem Punkt ankommt, wo Aneignung und Unterdrückung in den Komfortklassen der „Ersten Welt“ häufiger werden und kreativere Formen annehmen. Die Grenzen des Europäischen Hochschulraums definieren nicht die Grenzen des Kampfs. Politiken der Strukturanpassung führen im globalen Süden schon seit Jahrzehnten zu privatisierenden Bildungsreformen und bilden ein Testareal für die Reformen im Zentrum. Die Proteste gegen sie dauern schon ebenso lange an wie die Reformen selbst und haben einen umfangreichen Wissensbestand aus der Erfahrung der Unterdrückung erzeugt. Was bedeutet es also, die „Freiheit“ abzulehnen, wenn diese als freier Verkehr von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und BürgerInnen der Ersten Welt bei gleichzeitiger Verstärkung der Außengrenzen definiert wird? Und wie können wir die Bedeutung eines transnational geeinten Widerstands innerhalb eines Raums verstehen, der eben diese Bewegung innerhalb eben dieses Raums unterstützt? Wird auf diesen Kampf mit der Elimination jeder Bewegungsfreiheit reagiert werden, wie es in den Peripherien der Fall ist?
In der Nacht des 27. Juni 2010 wurden zwei Mülltonnen vor dem leer stehenden Arbeitsamt Wien Redergasse in Brand gesteckt. Die Aktion wurde gefilmt und das Video mit einem Text ins Internet gestellt, der lautete: „Der Arbeitsmarkt als eines der zentralen Organe des Kapitalismus soll mit Disziplinierungsunternehmen wie das AMS am Leben erhalten werden.“[7] Am 6. Juli 2010 stürmte die Polizei drei Wohnungen in Wien und verhaftete drei Personen. Türen wurden aufgebrochen, Schlösser geknackt, Computer und Festplatten beschlagnahmt. Auch das Wiener Kulturlokal Kaleidoskop wurde Ziel einer Razzia, da angenommen wurde, es sei politisch mit der Brandstiftung verbündet.[8] Eine vierte Person wurde am 20. Juli festgenommen. Die Verhaftung dieser Personen geht über die üblichen Konsequenzen für die Zerstörung von Mülltonnen deutlich hinaus. Es wurde noch keine Anklage formuliert, und es ist nicht klar, wie lange die Haft bis zum Prozess dauern wird, wenn es überhaupt zu einem solchen kommt.
Am 21. Mai 2008 stürmte die Polizei 23 Wohnungen von Tierrechts-AktivistInnen in Wien. Sie waren bereits seit mindestens 1997 polizeilich überwacht worden. Dreizehn Personen wurden festgenommen und 105 Tage lang inhaftiert, bevor endlich ein Prozess begann, bei dem sie eineinhalb Jahre nach ihrer Festnahme nach dem neuen „Mafiaparagrafen“ §278a angeklagt wurden.[9] Der Prozess gegen die Verdächtigen ist immer noch nicht abgeschlossen. Der Ausgang des Verfahrens ist unklar, allerdings steht fest, dass die Verdächtigen bereits mit viel Zeit, Raum, Ressourcen und einer Anhäufung von Schulden bezahlt haben. Es wird vermutet, dass ein ähnlicher Paragraf, §278b, gegen die Verdächtigen der AMS-Aktion benutzt werden und ihre kollektive Organisation als terroristische Organisation verurteilt werden wird. Der extreme Charakter dieser Anklage würde die atypische Festnahme rechtfertigen. Drei der Verdächtigen, A., B., und J., gehören zu den HauptakteurInnen der Bildungsprotestbewegung in Wien.[10]
Dissidentes Wissen, Selbstbildung
Unterdrückung und Immobilisierung symbolisieren eine gewisse Zerbrechlichkeit, die verzweifelte Schutzmaßnahmen verlangt. Verzweifelte Krisenzeiten verlangen verzweifelte Maßnahmen, und die Wissensökonomie bietet der schrumpfenden Weltwirtschaft eine Fülle entsprechender Ressourcen. Langsam ist die Krise in das Mittelklasse-Leben der „Ersten Welt“ vorgedrungen, und mit ihr Disziplinierungsformen, die früher die Sicherheit eben dieser Mittelklasse gewährleisteten.
Repressive Polizei-Interventionen und Brutalität waren während der Universitäts-Proteste überall von der „Ersten“ bis zur „Dritten“ Welt gang und gäbe. Sie führten allerdings zu unvorhergesehenen Reaktionen. In mehreren Fällen, etwa der extremen Polizeibrutalität an der University of Florida[11], wurden Besetzungen und Blockaden organisiert. Am 26. Juli 2010 begann in Bangladesch ein Protest vorwiegend externer Studierender gegen Mehrwertsteuer und höhere Studiengebühren. Die Chittagong University rief einen unbefristeten Streik aus. Die Behörden haben bis jetzt gegen 32 AktivistInnen Strafverfahren eingeleitet und damit der Bewegung noch mehr Schwung gegeben. Derzeit breitet sich der Protest vom Universitätscampus aus auf die ganze Stadt aus, und andere Einrichtungen in Chittagong schließen sich der Bewegung an. Tausende von Protestierenden besetzen die vier wichtigsten Straßen der Stadt.[12] Es kommt zu immer mehr Fällen, wo die Aneignung der Kämpfe und die Unterdrückung durch die Polizei den Widerstand nicht zum Verstummen bringen. Stattdessen wird dazugelernt. Kreativere und aggressivere Formen des Protests entwickeln sich.
„Solange es §278a gibt, wird es Proteste geben! Solange es Unterdrückung gibt, wird es Widerstand geben! Für eine kämpferische Bewegung! Getroffen sind einige – Gemeint sind wir alle.“[13] Es sind die breiteren Verbindungen der jeweils lokalen Implikationen von Unterdrückung und Kampf, die Bobby Subhabrata Banerjee als „Translokalität“ bezeichnet. Translokalität führt das Verständnis des eigenen Anteils an globalen Prozessen in Widerstandsaktionen ein, die auf einem Verständnis der Verflechtungen von Staat und Kapital auf lokaler Ebene beruhen.[14] Der Kampf darf die Komplizenschaft der eigenen Privilegien an der Unterdrückung anderer nicht übersehen. Der Kampf und die Kollektivität dürfen nicht an Klassen-, rassistischen, sexistischen oder anderen konstruierten sozialen Spaltungen und Grenzen zerbrechen, ob diese nun Körper oder das Gebiet zwischen ihnen definieren. Diese Spaltungen müssen abgeschafft werden.
Die Bildungsproteste haben versucht, die transgressive Logik der Aneignung aller Lebensbereiche durch das Kapital aufzuzeigen, die zunahm, sobald die Vorstellung von Forderungen aufgegeben wurde. Kunst und Bildung waren ein perfektes Modell für die Infantilisierung, die Aneignungsverfahren, und die Flexibilisierung der Arbeitskraft in einer neoliberalen Wirtschaft. In dem Moment jedoch, wo auf die kollektive Aktion, die aus Kunst und Selbstbildung entstanden war, mit einer die Grenzen eben dieser Infantilisierung überschreitenden Repression reagiert wurde, wurde noch etwas anderes klar: Die Grenzen, die in einem angeblich „autonomen“ und „mobilen“ Bildungs- und Gesellschaftssystem existieren, wurden offensichtlich. Inbesitznahme, Besetzung und das Aufgeben von Forderungen wurden zur Grundlage für ein anderes Modell der selbstorganisierten (künstlerischen) Bildung, einem Modell, das die Eigenmacht stärken und die Nähte eines befestigten Wissenssystems durchtrennen könnte.
[1] Lina Dokuzović u. Eduard Freudmann: „Squatting the Crisis: On the Current Protests in Education and Perspectives on Radical Change”, European Institute for Progressive Cultural Policies, Wien, 11/2009; http://eipcp.net/n/1260352849
[2] Die Forderungen der Protestbewegung begannen jenen der Zapatistischen Befreiungsbewegung zu ähneln, welche diese am 16. Februar 1994, dem Tag des Inkrafttretens des NAFTA-Vertrags, abgaben: „Wir werden fordern, was richtig und richtig für alle ist: Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie, alles für alle, und nichts für uns selbst!“
[3] Johann Kaspar, „We Demand Nothing: On the Practical Necessity of Demanding Nothing”, Fire to the Prisons, Nr. 7, Herbst 2009; http://zinelibrary.info/files/wedamandnothing-read.pdf
[4] Ebd.
[5] Für eine detaillierte Analyse in Bezug auf Hochschulräume vgl. Lina Dokuzović u. Eduard Freudmann, „Fortified Knowledge: From Supranational Governance to Translocal Resistance”, The Worlds & Knowledges Otherwise, Nr. 3, Dossier 2: On Europe, Education, Global Capitalism and Ideology, Hg. von Marina Gržinić, Duke University: Juli 2010; http://trinity.duke.edu/globalstudies/volume-3-dossier-2-on-europe-education-global-capitalism-and-ideology
[6] Ben Rosenzweig, „International Student Struggles: Transnational Economies, Guest Consumers and Processes of Restructuring”, Mutiny, Nr.. 48, 2010, http://jura.org.au/files/jura/Mutiny%2048%20WebV3.pdf
[7] „BRANDZEICHEN SETZEN! - Direkte Aktion beim Arbeitsmarktservice Redergasse in Wien”, 29. Juni 2010; http://linksunten.indymedia.org/de/node/22143; abgerufen am 1. Juli 2010.
[8] „Anti-Repressionsdemo in Wien, 12. Juli 2010 – Solidarität mit den drei U-Häftlingen…”, http://fm5ottensheim.blogspot.com/2010/07/anti-repressionsdemo-in-wien-12-juli.html; abgerufen am 14. Juli 2010.
[9] „Was bisher geschah”, Gemeint sind wir alle! Solidarität mit den von §278a betroffenen AktivistInnen, http://antirep2008.org/?page_id=886; abgerufen am 14. Juli 2010.
[10] „Offener Brief zu den Verhaftungen von Studierenden”, 29. Juli 2010, http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20100729_OTS0145/offener-brief-zu-den-verhaftungen-von-studierenden
[11] Andrew Stanfill, „UF Student was Shot in Head by Police”, 2. März 2010; http://www.gainesville.com/article/20100303/ARTICLES/100309832?p=1&tc=pg; abgerufen am 5. Juni 2010.
[12] „Chittagong University on Indefinite Strike”, 31. Juli 2010, http://occupyca.wordpress.com/2010/07/31/chittagong-university-on-indefinite-strike/ ; abgerufen am 1. Aug. 2010.
[13] Solidaritätserklärung für die festgenommenen TierrechtsaktivistInnen.
[14] „Das Translokale erscheint an der Schnittstelle von politischer und ziviler Gesellschaft, wo Gruppen von Menschen, die in verschiedenen Teilen der Welt die politische Gesellschaft bilden, ähnlich Kämpfe über Ressourcen und gegen Markt- und Staatsakteure austragen.” Subhabrata Bobby Banerjee, „Histories of Oppression and Voices of Resistance: „Towards a Theory of the Translocal”, Reartikulacija, Nr. 9, Ljubljana, 2009; http://www.reartikulacija.org/?p=612