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09 2024

2000/2024

Ari Joskowicz und Hito Steyerl

[8. Januar 2024]


2000 und was jetzt anders ist (Geschichtsbezüge)

Hito Steyerl: Lieber Ari, wir haben uns etwa 1999 kennengelernt. Vor einiger Zeit hast du dein ausgezeichnetes Buch „Rain of Ash. Roma, Jews and the Holocaust“ veröffentlicht, in dem du dich auf die komplexen Archivierungsprozesse nationalsozialistischer Massenvernichtungen nach 1945 konzentrierst und fragst, was in der Geschichtsschreibung auf welche Weise sicht- und hörbar wird, und was dies wiederum für die betroffenen Gruppen bedeutet. Ich finde diesen Ansatz extrem produktiv, weil er auf die Bedingungen der Möglichkeit von Geschichtsschreibung abzielt, und materialistisch argumentiert. So ergäbe sich auch für andere Bereiche eine Perspektive, um identitären Sackgassen und „Opferkonkurrenzen“ zu entgehen, ohne in Relativismus zu verfallen.

Es würde mich daher besonders interessieren, wie sich mit dieser materialistischen Perspektive die Wiener Proteste der Jahrtausendwende gegen die damalige ÖVP-FPÖ-Koalition analysieren lassen. Was ist seit 2000 passiert, was ist gleichgeblieben, was anders?  Die Proteste von 1999, 2000 waren ja auch von Geschichtsdebatten über Faschismus geprägt. Und wie haben sich diese Debatten geändert? Hat sich evtl. seither die Geschichte selbst geändert? Ist also das Geschichtsbild von damals noch gültig? Sind Auffassungen des Faschismus seither differenzierter geworden, haben sie sich geändert, wo hat sich die Debatte hinbewegt? Was ist mit Formen des Archivs oder des Protests seither?


Ari Joskowicz: Wenn wir über die materiellen Bedingungen des Protests und seiner Geschichtsbezüge nachdenken wollen, dann sollten wir vermutlich über Medien, Information und Ökonomie reden. Aber zuerst will ich kurz anschneiden, wie zumindest ein großer Teil der Demonstrierenden sich historisch eingeordnet hat. Die Protestbewegung 1999/2000 hat sich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit eher auf 1938 als auf 1934 bezogen. 1934-45 als Chronologie zu setzen ist passiert, war aber eher altbacken und parteipolitisch besetzt. Das war auch nicht, was der Begriff „Widerstand“ evoziert hat. Der Bezug auf den Anschluss 1938 hat es erlaubt, einerseits universeller und andererseits dramatischer zu argumentieren. Basiert hat das auf einem Geschichtsbild einer Generation, für die die Debatten der späten 1980er, Franz Vranitzkys Eingeständnis österreichischer Mitschuld im Parlament 1991 und die neue Aufarbeitung der Shoah wahnsinnig präsent war. Ich kann mich nicht einmal richtig erinnern, dass da wirklich Faschismus-Analogie-Debatten stattgefunden haben. Es wurde vielleicht etwas in der Art skandiert, aber nicht debattiert. Ist da meine Erinnerung richtig?


Hito Steyerl: Wahrscheinlich ist sie richtig. Aber auf der anderen Seite ist das Einzige, was für mich aus dieser ganzen Periode übrig geblieben ist, nicht der sogenannte Widerstand, sondern die Etablierung dieser ersten rechtspopulistischen Koalitionsregierung in der EU. Und das Modell hat sich durchgesetzt. Hier in Deutschland entsteht gerade eine sehr breite Protestwelle gegen Deportations- und Ausbürgerungspläne aus dem AFD-Dunstkreis. So eine Art Madagaskarplan 2.0., bloß diesmal in Nordafrika.

Also, der FPÖ-Rechtspopulismus von damals ist jetzt völlig oder weitgehend normalisiert. Rechtsradikale regieren in vielen EU-Ländern mit, oder gewinnen Wahlen. 1999, 2000 gibt es diese sehr simplistische Geschichtswahrnehmung der NS-Zeit plus die erste rechtspopulistische Regierungsteilnahme in Europa. Und jetzt gibt es das überall in verschiedenen Ausformulierungen, manchmal auch ganz widersprüchlich. Was ist in der Zwischenzeit passiert?


Ari Joskowicz: Ich glaube im historischen und geschichtspolitischen Feld sind zwei separate Debatten daraus entstanden. Das eine ist eine Diskussion zur Relevanz der Kategorie Faschismus, das andere eine Debatte zu Geschichte und Vergleichbarkeit von Genoziden und rassistischer Gewalt. Erstere bezieht sich auf die autoritäre Vorgeschichte des Rechtspopulismus, und das andere verbindet die Gegenwart mit Antisemitismus, Rassismus und Kolonialismus. Und die emotionalen Debatten finden momentan über Fragen von Genozid statt, nicht über Faschismus.

Es gibt natürlich auch hier wichtige Ausnahmen. In der Politikwissenschaft wird Autoritarismus vor dem Hintergrund der größeren Frage diskutiert: how democracies die (auch der Titel eines erfolgreichen Buches von Steven Levitsky and Daniel Ziblatt). Aber das scheint mir in der Geschichtswissenschaft weniger en vogue zu sein. Die Analysen zum Verfall der Weimarer Republik und der 1. Republik in Österreich waren einmal die definierende Frage der deutschsprachigen Zeitgeschichte, aber heute scheint mir das Thema kaum emotional und damit forschungstheoretisch aufgeladen.

Gleichzeitig sollte klar sein, dass die 1930er Jahre für die Szenarien vom Ende der liberalen Demokratie im Schatten des Populismus auch jenseits von Nazismus und Shoah relevant sind. Die neuen europäischen Demokratien der Zwischenkriegszeit sind kollabiert, als eine Allianz entstand zwischen der alten Rechten, den konservativen Eliten, die auch im Staat sehr wichtig waren, und den revolutionären Rechten. Letztere waren ein relativ rezentes Phänomen. In der französischen Revolution hätte kein Mensch verstanden, was denn eine revolutionäre Rechte sein könnte. Linke und Rechte haben sich gerade über ihre Zustimmung oder Ablehnung zur Revolution und zum politischen Umbau definiert. Aber nach dem Ersten Weltkrieg blüht die revolutionäre Rechte überall auf. Sie können mobilisieren in einer Zeit, in der die traditionellen Konservativen bei Wahlen kaum erfolgreich waren. Gleichzeitig brauchten die revolutionären Rechten den Zugang zu den Schaltstellen des Staates und hatten oft wenige regierungsfähige Kader. Das Resultat war eine Allianz, die nicht nur in Deutschland, sondern quer durch Europa zum Kollaps der neuen Demokratien führt.

Genau diese Szenarien waren 1999 oder dann im Februar 2000 kaum präsent - zumindest nicht für die Menschen um mich herum. Da ging es um österreichischen Widerstand gegen den Nazismus, und wie wir in diese heroische Tradition treten oder auch nicht. Aber wenn ich mir den Aufstieg der sogenannten populistischen Rechten ansehe und mit welchen Szenarien sie in Regierungen kommen, scheint mir diese Geschichte des Endes der Demokratien durchaus relevant.

Andererseits scheint es mir, wenn es um die spielerischen Formen des Widerstandes geht, die historische und andere kulturelle Anknüpfungspunkte hatten, wesentlich, wie wenig repressiv die Behörden und Sicherheitskräfte damals waren. Als jemand, der bei doch vielen dieser Demonstrationen dabei war, würde ich im internationalen Vergleich sagen, dass die Polizeigewalt beschränkt war. Natürlich gab es immer diesen Moment, auf den die Kamerateams warteten, dass jetzt irgendwo jemand etwas gegen die Polizeilinien wirft oder ein Polizeiwasserwerfer gegen Demonstrierende eingesetzt wird. Aber an sich war die Fähigkeit der Protestierenden, spielerisch mit den Sachen umzugehen: Das war nicht eine Antwort auf massive Repression, sondern eigentlich ein dankbares Annehmen eines Geschenks geringer Repression in dem Moment, aus wahrscheinlich unterschiedlichsten Gründen.

Gleichzeitig war uns nicht klar, wie die Organisation von Protest selbst Teil eines Repressionsapparates werden könnte. Die Herausforderungen der Selbstorganisation sind heute viel eindeutiger und gerade das, was wir so oft als spielerisch gefeiert haben, ist damit verbunden. Widerstand, manipulatives Entertainment und Dopaminmassage durch das Telefon sind schwer zu trennen, wie mir scheint.

Es war für mich wichtig, noch mal bei Gerald zu lesen, was 2000 die dominante Technologie war: unter andrem der Mail-Server. An das konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Aber der Mail-Server macht zwar etwas ähnliches wie eine WhatsApp-Gruppe, aber nicht ganz. Die WhatsApp-Gruppe hat einen viel schöneren Bling, dieses Geräusch, auf das wir trainiert sind, wenn etwas reinkommt. Und das macht doch schon einen Unterschied.


Hito Steyerl: Und die Leute konnten sich überhaupt nicht spontan verabreden für diese Demonstrationen, das musste angekündigt werden.

Es gab Text-Nachrichten, aber das war es dann auch. Und natürlich auch all diese Feedback-Schleifen durch soziale Medien und Internet, Shitstorms und so weiter, das fehlte eben auch. Und deswegen war es wahrscheinlich auch möglich, diese Art von eigentlich so fast schon anrührender Naivität aufrecht zu erhalten.


Ari Joskowicz: Irgendwann im Winter 2000 wurde ich in die Universität für Angewandte Kunst eingeladen. Da sollten wir dann berichten, wie das denn jetzt so ist in dieser jungen Generation. Wir sind vor einigen dutzend Studierenden gesessen und haben von unserer ziemlich limitierten Erfahrung erzählt. Das, was Erstaunen hervorgerufen hat, besonders bei der Professorin, die uns eingeladen hat, war, dass die Organisation über Digitales und das Internet entscheidend für die Reflexion war. Also über das, was eben damals noch das Internet war. Da fiel Leuten die Kinnlade herunter darüber, dass Aktionen im Internet angekündigt werden und dass die Reflexion darüber bereits vorher, ebenfalls im Internet, stattfinden kann: auf einem Mail-Server. Das ist fast rührend, weil man das heute keinem mehr so naiv als Neuerung oder als adäquate Antwort auf theoretische Organisationsherausforderungen erzählen könnte. Seither haben wir gesehen: Technologien der Selbstorganisation und Extraktionsmethoden gehen dann doch irgendwie Hand in Hand. Also das mag ich auch am Konzept des Surveillance Capitalism, dass es in der Analyse nicht um die konkreten Technologien selbst geht, sondern um die Extraktionsmodelle dahinter; von Daten, von Aufmerksamkeit etc.


Technologie und Geschichtspolitik

Hito Steyerl: Was hat die digitale Technologie seit 2000 mit der Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung gemacht, aber auch mit Protest und Rechtspopulismus? Es gab ja 2000 keinerlei Social Media oder per Handy verschickbare Videos. Das hat natürlich auf alles Auswirkungen, aber mich interessiert die Auswirkung auf die Geschichtsschreibung. Hat sich “Geschichte” seit 2000 geändert? Was macht die veränderte Form der Aufzeichnung, Monetarisierung und Archivierung mit historischer Überlieferung?


Ari Joskowicz: Was enthusiastisch digital humanities genannt wird, ist ein primäres Feld für die Monetarisierung von Geschichte. Unlängst hat mir ein Gymnasiast aus Kentucky geschrieben. Er macht Virtual-Reality-Brillen, mit denen er Konzentrations- und Vernichtungslager im Klassenzimmer zeigen will. Er wollte das mit mir diskutieren, wohl um seinem Marketing einen akademischen Anstrich geben zu können. Die jüngere Generation ist da sehr unternehmerisch unterwegs.

Besonders die Technologien, die neuerdings die Verbreitung von Überlebendeninterviews unterstützen, haben eine bemerkenswerte Geschichte. Ich denke dabei an die Versuche, mit KI und Hologrammen oder anderen Darstellungstechnologien virtuelle Holocaust-Überlebende herzustellen, die dann mit interessierten Museumsbesucher_innen Zeitzeug_inneninterviews als Gespräch führen können. Einige der Technologien wurden in Zusammenarbeit mit dem US-Militär entwickelt. Die manchmal enthusiastisch, manchmal skeptisch beäugten Hologramme von Überlebenden wurden unter anderem in Forschungszentren an der University of Southern California erdacht, wo diese Technologien auch verwendet wurden, um Therapien für Posttraumatic Stress Disorder bei Soldat_innen zu entwickeln. Nun stellen sie zur Therapie nicht eine Schlacht nach, sondern eben eine Opfererzählung.

Noch bizarrer ist das Resultat, was den KI-Algorithmus betrifft, der hilft, aus der Information linearer Interviews dynamische virtuelle Konversationspartner_innen zu machen. Hier wird aus Erzählungen eine neue Art von Datenset, das auf unterschiedlichste, auch problematische Art manipuliert werden kann. Die Arbeit des Medienwissenschaftlers Noah Shenker zeigt das sehr schön. Jedenfalls vergessen Historiker_innen sehr schnell, dass sie nicht nur Geschichte produzieren, sondern egal, wie kritisch sie in ihrer Intention sind, eben auch vermarktbare Information.

Ich habe über diese Transformation auch in der Prä-ChatGPT-Zeit nachgedacht. Ich habe versucht, das mit dem Begriff des Surveillance Capitalism zu verstehen. Für mich gehören witnessing und surveillance, Zeugenschaft und Überwachung, zusammen. Es sind dieselben Technologien, mit denen wir beides unternehmen. Die Indexkarte, Mikrophon und Rekorder, die Datenbanken, um die Daten zu verwalten, alles ist das Gleiche. Und da ist immer das Paradox: wir wollen gehört werden, aber wir wollen gleichzeitig nicht abgehört werden.


Hito Steyerl: Extractive Witnessing.


Ari Joskowicz: Extractive Witnessing, genau, Extractive Witnessing in the Age of Surveillance Capitalism.

Das ist auch einer der zentralen Bereiche, in dem Historiker_innen sich mit Ethik befassen müssen und das fehlt völlig in der historischen Disziplin. Anthropolog_innen müssen sich von Anfang an mit Ethik beschäftigen, Historiker_innen nicht. Über eine seichte legalistische Auseinandersetzung mit Privatsphären-Gesetzen hinaus werden in der historischen Disziplin ethische Fragen nicht diskutiert. Sie erliegen der Illusion, dass Historiker_innen mit guten Intentionen per se widerständige Wesen sind.


Hito Steyerl: Das ist genau natürlich die Verlängerung dieser Archivkonstellationen, die du in deinem Buch untersuchst, diesmal im Zeitalter von KI-Surveillance Capitalism.


Ari Joskowicz: Ich glaube, das ist klar, wenn es um Oral-History-Interviews geht. Es gibt das Opferinterview, das Standard geworden ist, obwohl das natürlich nicht die einzige Form ist, und vielleicht auch nicht die ursprüngliche, in der Oral History gemacht wurde. Opferinterviews sind jedenfalls so paradigmatisch geworden, dass die Idee, dass das systematische Sammeln und Verarbeiten von biographischen Erzählungen schädlich sein könnte, für viele undenkbar ist. Es ist einfacher, moralistisch darauf zu beharren, dass die Opfer endlich gehört werden müssen, als zuzugestehen, dass Daten in einer Form extrahiert werden könnten, die die Personen gar nicht wollen.

Für einen Artikel habe ich mir auch die Einverständniserklärungen angesehen, die die großen Interviewarchive seit den 80er und 90er Jahren verwendet haben, und die sagen sehr vorausschauend, dass Zeitzeug_innen eine umfassende Zustimmung zur Verwendung geben. Und zwar für die Bearbeitung und Weitergabe nicht nur mit Hilfe von Technologien, die es zu dem Zeitpunkt gab, sondern für alle in der Zukunft zu entwickelnden Technologien. In diesem Artikel argumentiere ich, dass ein neuerliches Einholen von Zustimmungen (reconsenting) die ethische Form des Umgangs mit Interviews gewesen wäre. Es gab niemanden, der sich zur Zeit der Aufnahme der meisten Interviews vorstellen konnte, was mit ihnen in Zukunft passieren könnte. Die Technologie der 90er Jahre waren Videokassetten, die fast niemand gesehen hat, und das war die realistische Erwartung jener, die damals vor der Kamera über ihr Leben erzählt haben.

In meiner eigenen Arbeit dazu habe ich primär Interviews mit Roma-Holocaust-Überlebenden analysiert, also Interviews mit Menschen, die aus guten Gründen sehr ungern Unbekannten ihre Geschichte erzählen wollten. Die ersten, die sie zu ihrer Geschichte befragt haben, waren auch nicht Historiker_innen, sondern Staatsanwälte und die Polizei in NS-Verfahren, oder Wiedergutmachungsbehörden—also Institutionen eines Staates, der sie noch immer unter Generalverdacht gestellt hat.

Das Material für diese Interviews, wie auch für die meisten anderen, war ursprünglich auf einer VHS-Kassette gespeichert. Am Anfang meiner Arbeit zu meinem letzten Buch habe ich diese Interviews noch im Archiv auf einem 90er-Jahre-Fernseher gesehen, also oben der fette Kathodenstrahler, unten ein eingebauter VHS-Recorder. So musste man sich die Interviews anschauen, und zwar in einer Universitätsbibliothek in New Haven, Connecticut. Kein Wunder, dass ursprünglich niemand vorhersehen konnte, dass das Material irgendwann breit zugänglich sein und im Internet landen würde. Das gab es ja nicht.

Aber viele dieser Interviews sind jetzt im Internet. Manche sind ohne jegliche Barriere und für generelle Suchmaschinen auffindbar beim US Holocaust Memorial Museum zugänglich. Und diese Institutionen verwenden dann auch KI, um die Interviews zu transkribieren. So wird alles online searchable, ohne irgendwas, das den Zugang blockieren würde. Sie erreichen eine Art der Öffentlichkeit, die es nicht gab, als diese Menschen gesprochen haben, und entsprechend konnten sie so einer Verwendung realistischerweise auch nicht zustimmen.

Ein anderer Fall. Es gab aus gutem Grund Proteste gegen eine Institution, die ursprünglich vom Internationalen Roten Kreuz unterhalten wurde: das Bad-Arolsen-Archiv des International Tracing Service. Dort finden sich unterschiedliche Materialien aus der Nazi-Zeit und von den internationalen Hilfsorganisationen, die in der Nachkriegszeit aktiv waren. Bad Arolsen war auch die zentrale Institution, die von den Alliierten alte Nazi-Dokumente aus Lagern erhalten hat, um offiziell individuelle Verfolgungsschicksale zu zertifizieren. Überlebende mussten dem IRK über Jahrzehnte schreiben, um ihre Lagerhaft bestätigt zu bekommen, etwa für Wiedergutmachungsrenten. Dieses Archiv war intransparent und in den 1990ern kamen immer mehr Stimmen auf, die richtigerweise gefordert haben, dass das Archiv demokratisiert werden muss. Es sollten auch endlich jüdische Organisationen an der Verwaltung und Verwertung beteiligt sein. Im Endeffekt ging die Verwaltung des Archivs nach einigen Verhandlungen an ein Konsortium, und die haben dann auch angefangen, massiv zu digitalisieren. Das ist alles bis zu einem gewissen Punkt gut und sinnvoll. Was digitalisiert wurde, ist aber zum Beispiel auch die sogenannte Child Branch, die unter anderem Adoptionsinformationen aus den 40er Jahren enthält, also von Menschen, die noch am Leben sein könnten. Wer würde denn aus den späten 40er Jahren Adoptionsinformationen ins Internet stellen? Das wäre nach deutschem Recht vermutlich illegal. Aber da geht es um den Holocaust, und dann ist das alles okay.


Hito Steyerl: Nie wieder?


Ari Joskowicz: Nie wieder, genau. Wenn du sagst, nie wieder, dann kannst du das alles ins Internet stellen und auch Daten Volltext searchable machen, nicht? Was bei einem anderen Datensatz offensichtlich problematisch ist, wird bei diesem Datensatz plötzlich vertretbar. Und das ist eben auch meine Furcht, dass historische Daten dann dazu verwendet werden, um das Unbehagen mit diesen Technologien schneller zu durchbrechen. Sie können die Barriere zur Verwendung zweifelhafter Datenverarbeitungsmethoden senken, indem sie es mit dem Projekt eines widerständigen Gegenredens und der Aufbewahrung unterdrückter Stimmen verbinden. Wenn Technologiefirmen sagen, wir entwickle diese Art von Datenextraktion fürs Militär, dann klingt das immer etwas eigenartig. Aber wenn du sagst, das ist notwendig, damit sich der Holocaust nicht wiederholt, dann sieht es schon anders aus.

Aber letztlich ist das widerständige Aufnehmen von Opferstimmen und die Kommerzialisierung von Daten zu unserem Leben und unserem Verhalten nicht auseinanderzuhalten. Die Shoah Foundation hat zum Beispiel einen kommerziellen Spin-off, geführt von der Ehefrau des ehemaligen Direktors. Die haben eine Art Unsterblichkeitsapp entwickelt, beworben von William Shatner. Das ist eine Handy-App, in die man seine Lebensgeschichte erzählt. Die App stellt dir alle möglichen Fragen und produziert daraus einen Datensatz, der immer wieder neu gemixt werden kann, um Antworten auf Fragen zu deinem Leben zu generieren. Im Marketing zeigen sie, wie ältere Menschen so auch noch nach ihrem Tod mit ihren Enkeln reden. Interessanterweise wird es in ihrer Fantasie Android und iPhone noch ewig geben.


Hito Steyerl:  Preemptive History ist das.


Ari Joskowicz: Genau, eine ganz besondere Art der Historisierung.


Hito Steyerl: Das ist im Grunde auch ein anderes Kapitel dieses allgemeinen Visibilitätsproblems. Was macht man sichtbar, was lieber nicht? Das wird aber im Zeitalter von KI nochmal deutlich verkompliziert. Ich kann mir vorstellen, dass es bald KI-generierte Daten gibt, um mit Lücken in der Überlieferung umzugehen. Probabilistische Vorhersagen für fehlende Evidenz oder Quellen.

Institutionen oder Universitäten könnten aufgrund ihrer Legacy-Daten eigene kleineren Modelle entwickeln und die dann vermieten oder verkaufen oder auf diese oder jene Weise monetarisieren. Das könnte man auch unter dem Vorwand der Verhinderung von Datenkontamination betreiben. Bestimmte, teurere Daten sind dann zertifiziert als authentisch, um sie von statistisch generierten probabilistischen Daten abzugrenzen.

Damit umgeht man trotzdem nicht die allmähliche Kontamination aller Modelle mit KI-generierten Daten. Denn es wird natürlich auch für die Zukunft billiger, Daten nur noch zu simulieren. anstatt sie zu erheben. Oder auch einen “idealen” Zeitzeugen aufgrund von Wahrscheinlichkeitsvorhersagen zu generieren. Letztendlich führt das zum sogenannten Model Collapse, einem Zustand, in dem KI-Modelle so stark auf das wahrscheinlichste Spektrum zusammengedrängt werden, dass so etwas wie eine Maschinenpsychose entsteht.


Ari Joskowicz: In dem Modell, das du da gerade beschrieben hast, könnte man dann sagen, es gibt Peak Data?


Hito Steyerl: Genau. Peak Data – im Sinne von von Menschen generierten Daten – war ca. vor einem Jahr. Vor LLM´s, also ChatGPT etc.


2000 und Protest

Ari Joskowicz: Für mich auch interessant wieder zu lesen bei Gerald, dass Demonstrant_innen damals das Sozialministerium gestürmt und angefangen haben, Sachen rauszuwerfen. Jetzt auf die Entfernung fällt mir dabei die Ähnlichkeit mit der Stürmung des US-Kapitols auf. Mich würde aber auch deine Wahrnehmung zu damals interessieren, zu 2000 und heute.


Hito Steyerl: Naja, also 2000 war vergleichsweise einfach. Alle waren einer Meinung, alle, die zumindest im weiteren Bekanntenkreis waren. Die anderen, die Rechtspopulisten haben aber gewonnen, brutal gewonnen, auf der ganzen Linie. Sie haben es geschafft, dass ihre Opponenten Schritt für Schritt zurückweichen und ihre Positionen übernehmen mussten. Sie haben auch teilweise das Konzept von Protest gekapert, wie du ja gerade erwähnt hast: Beispiel Kapitol. Ja, heute habe ich mir wirklich gedacht, es gibt jetzt diese Bauernproteste in Berlin, gegen Abbau der Diesel-Subvention und so weiter, die jetzt schon auch teils von Rechtsradikalen gelenkt werden. Aber der Furor, die Empörung, die moralische Indignation, das kennt man natürlich alles von der Linken, und plötzlich kommt es einem geballt von der anderen Seite entgegen, und das ist natürlich schon auch unangenehm, wenn man das so in diesem Spiegelbild sieht. Wenn man jetzt Strike Germany googelt, kommen einem der Bauernprotest, der Bahnstreik und die Bestreikung Deutschlands von Gazaunterstützern aus dem Kulturfeld entgegen. Und alles schaut affektiv ziemlich ähnlich aus.

Also da habe ich mich gefragt, welche Diskursparameter hat die Linke in den letzten 20 Jahren verschoben, mit ihrem Moralismus, mit der Idee, dass Gesetze problemlos ignoriert werden können und so weiter. Die Rechten, so zeigt sich jetzt, können es besser. Die sind besser organisiert, die haben auch weniger Skrupel und die können das jetzt einfach besser durchziehen, den Kulturkampf.


Ari Joskowicz: Gerade was den Kulturkampf betrifft, war für mich, bei gettoattack und anderen Gruppen was Spielerisches dabei. Lustig ist nicht immer das richtige Wort, es war ein Schmäh dabei, um es österreichisch zu sagen. Der rannte in der Linken, und die Rechte war damals nicht lustig. Die Rechte war bierernst, und das hat sich besonders in meiner Umwelt massiv umgekehrt. Daran gibt es auch etwas Verständliches. Die Moralisierung der Linken zielt auf Dinge ab, über die man nicht adäquat lachen kann, z.B. die Sicherheit marginalisierter Gruppen. Wenn Leute sich individuell unsicher fühlen, was gibt es da zu lachen? Wie kann man das über Identifikation spielen? Das funktioniert alles nicht. Und die andere Seite kann scheinbar ganz gut lachen. Insofern ist das Modell eben auf die andere Seite gewandert. Die Formen, die waren schon erfolgreich, nur der Inhalt leider nicht.


Hito Steyerl: Ja, genau, die Formen haben sich durchgesetzt. Ja. Auch Solidarität, habe ich das Gefühl, das ist mehr auf die rechte Seite gewandert.


Ari Joskowicz: Und dann ist die Herausforderung, die wiederum sehr situationsbedingt ist, für mich: Wie kann Politik aussehen, die versucht, sich das Spielerische nochmal anzueignen, aber trotzdem die Sorge um ihre Effekte versteht?

2000 hatte einen Aspekt der Sorglosigkeit in doppelter Bedeutung, die die Donnerstags-Demonstrationen und all das bestimmt hat. Bei den Protesten waren sehr viele Leute bestimmend, die von institutioneller Sorge um andere befreit waren. Und wie eine Politik aussehen kann, die das zurückholt und dennoch mit der Realität dieser Sorge umgeht, das ist für mich, glaube ich, die persönliche Herausforderung. Das kann mit dem Lebensalter zu tun haben oder mit veränderten Zeiten.

Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, der vielleicht wichtiger ist. Ich hatte im Jahr 2000 eine gewisse Sicherheit, dass in meiner Umwelt ein Konsens vorherrscht, dass bestimmte Behauptungen absurd sind. Der „Ball der linken Jagdgesellschaft“ ist zum Beispiel ironisch verstanden worden. Das war selbstverständlich nicht die von der FPÖ metaphorisch beschworene linke Jagdgesellschaft, die sich da im Sinne eines Geheimbundes wirklich trifft. Das zu glauben wäre mir damals bizarr erschienen. Und das funktioniert eigentlich gar nicht mehr. Es könnte sich heute eine reddit- oder 4chan-Gemeinde bilden, die glaubt, es gibt eine Geheimgesellschaft mit diesem Namen. Daran sind großteils die sozialen Medien schuld.

Ich habe eine Lehrveranstaltung über Verschwörungstheorien, und eine Aufgabe, die ich den Studierenden stelle, ist, dass sie einen Fake herstellen müssen. Und zwar historisch. Manche Studierende produzieren dann gefälschte Dokumente aus dem Mittelalter, andere zur Mondlandung oder zum Tod von Diana and Dodi Fayed. Eine Regel ist, dass sie ihre Arbeit absolut nie irgendwo digital posten dürfen. Egal wo. Es kann gar nicht schlecht genug gemacht oder absurd genug sein, damit das nicht irgendeine Gruppe von Wahnsinnigen aufgreift.

Damit ist viel Politik blockiert, kommt mir vor. Dann gehen viele Interventionen nur noch sehr lokal. Das Lokale, das nicht digital ist, ist aber in meiner Umwelt fast nicht mehr herzustellen. Das macht viel von dem, was gettoattack ausgemacht hat, das Spielen mit der Überidentifikation etwa, noch einmal schwierig. Die Mozartaktion, bei der wir uns als Konzertkartenverkäufer verkleidet haben und falsche Werbebroschüren mit Information zur Geschichte des Rassismus vermittelt haben, die funktioniert digital nicht. Das heißt, es würde vielleicht einen größeren Effekt haben. Gerald schreibt in seinem Buch ganz richtig, dass diese Aktion analog nicht sehr viele Leute erreicht hat. Aber die Gefahr, dass sie falsch verstanden wird, war nicht da. Es war im Gespräch in der Situation eindeutig, dass wir über Rassismus aufklären, eben als Mozart verkleidet und mit Broschüren. In dem Moment, wo alles nur im digitalen Raum stattfindet, habe ich keine Ahnung, was damit passieren würde. Man möchte es nicht ausprobieren.


Hito Steyerl: Also, auf der einen Seite führt diese Art von Kommunikation zu diesen Minibubbles, wo Leute ihre eigenen Kommunikationsstandards und Sprachen und Selbstverständigungen kreieren, aber auf der allgemeineren Ebene zu so einer extremen Wörtlichkeit, ja, es wird alles buchstäblich. Und es darf auch nicht anders verstanden werden. Es muss sozusagen alles quantifizierbar sein im Ja oder Nein, in einer bestimmten Wertigkeit, weil es sonst einfach Probleme gibt.


Ari Joskowicz: Wir sind alle evangelikal geworden. Wir lesen die Bibel wörtlich, wir lesen unsere Welt wörtlich. Sobald es über die lokale Ebene hinweg geht, muss alles wörtlich gelesen werden, weil sonst die Gefahr von Missverständnissen 100 Prozent ist.


Hito Steyerl: Das erinnert mich daran, ich bin, ich glaube, 2000 nach Serbien gekommen. Wirklich ganz kurz, nachdem die Sanktionen aufgehoben wurden. Und dann habe ich Leute getroffen, Künstler, Intellektuelle, die haben über Politisierung in einem wirklich abfälligen Ton gesprochen. Das war das Letzte für die. Und ich habe es nicht verstanden.

Ich dachte sehr naiv, alles muss doch politisch sein. Und im Kulturbereich ist doch das Schlimme, dass alles immer depolitisiert wird und so weiter. Und jetzt verstehe ich ganz genau, was die meinen. Die kamen aus einem Krieg heraus, in dem sozusagen alles ständig politisiert und ideologisiert und religiosifiziert wurde. Und die hatten keinen Bock mehr da drauf. Und ich verstehe jetzt ziemlich genau, was sie meinten. Das ist eine ein bisschen enttäuschende Entwicklung der letzten 20 Jahre. Politisierung ist oft, bzw. sogar meistens eine totale Hysterisierung von Sachverhalten unter den Bedingungen digitaler Oligopole.


Ari Joskowicz: Ich glaube, wir müssen die Orthodoxie, die sagt, „alles ist politisch“ und das normativ meint, im Sinne von „wir müssen dafür sorgen, dass alles zu einem politischen Kampf wird“, historisieren. Ich habe einen Kollegen an meiner Universität, Robert Talisse, der sehr interessant argumentiert, dass die Zivilgesellschaft nur funktioniert, wenn Orte und Themen depolitisiert werden und wir unpolitische Räume schaffen. Er meint, es muss möglich sein, zu einem Football-Spiel zu gehen, ohne dass es als eine politische Handlung wahrgenommen wird oder eine erkennbar politische Handlung erzwingt. Und wenn du das nicht hast, wenn alles menschliche Handeln zum politischen Teamsport links gegen rechts wird, dann kommt es zum Zusammenbruch dieser Orte, in denen gesellschaftlicher Zusammenhalt hergestellt wird. Das ist für mich eigentlich plausibel, einfach aus persönlicher Anschauung. Dass alles in einer polarisierten und medial-überbelichteten Welt politisch sein soll, ist für mich kontraproduktiv und eher ein Kniefall vor den Zwängen einer neuen Kommunikationsrealität. Der Satz hat in den 50er, 60er und 70er Jahren sicher in Auflehnung gegen eine bewusste Depolitisierung Sinn gemacht. Und jetzt macht er für mich keinen Sinn. Ich will nicht alles politisieren. Das ist auch wahnsinnig ermüdend. Rein vom Energielevel schaffe ich es nicht.

Eine andere Frage ist, welche Formen die Politisierung annimmt. Ich finde die momentanen Protestbewegungen in meiner Umgebung dabei faszinierend. Gerade wenn man mit Gerald über Strukturen nachdenkt, ist auffällig, wie traditionell etwa die Proteste um den Gazakrieg abgelaufen sind. Alle Seiten agieren hier konservativ in der Form, und zwar auf eine Art, die für mich manchmal absurd wirkt, aber eben auch ihre Logik hat. Lass mich die Proteste an meiner Universität im Herbst 2023 als Beispiel nehmen. Diese Proteste spiegeln erheblich mehr davon wider, was in dem Herbst auf den über 2500 Universitäten der USA passiert ist, als die hysterischen Berichte, die gerne geteilt werden. Die Proteste, die es gab, haben sich in engen Bahnen abgespielt und wurden immer institutionell begleitet, auf eine Weise, die für mich nicht immer Sinn gemacht hat—zumindest nicht zuerst.

Es gab zum Beispiel im November 2023 einen Konflikt an der theologischen Fakultät. Dort haben Studierende Poster aufgehängt. Ich glaube, die erste Version davon hatte Sprüche dabei wie „Death to Settler Colonialism,“ aber auch moderat gehaltene Aufrufe zum Waffenstillstand. Diese Poster mussten entfernt werden, weil sie nicht ordnungsgemäß aufgehängt wurden. Sie haben nicht ausgewiesen, wer dahintersteht, und wurden außerhalb der dafür vorgesehen Flächen angebracht.

Die Absurdität der rigiden Regeln, die zur Entfernung geführt haben, war augenscheinlich, weil die Poster nur einige Meter vom Eingang des Lawson Institute for Non-Violence aufgehängt wurden. An dem Ort sind überall Fotos von Sit-ins, weil James Lawson als ein führender, früher Theoretiker der schwarzen Bürgerrechtsbewegung auch die historischen Sit-ins in Nashville organisiert hat. Für mich war unklar, wie jemand die Ironie nicht sehen konnte, dass man Leute dazu zwingt, ihre Poster gerade dort abzunehmen. Ich frage mich dann manchmal, ob alle verstehen, dass Sit-ins ein Bruch der Regeln waren. Non-Violence heißt ja nicht, dass sie Leserbriefe geschrieben haben.

Die Ironie wurde scheinbar nicht gesehen und stattdessen waren dann für nächsten Monat im Vorraum der Theologischen Fakultät auf einer Seite Ceasefire-Now-Poster aufgehängt und Listen mit Namen von palästinensischen Opfern. Ein wenig später haben einige jüdische Militärkaplane auf der gegenüberliegenden Seite Bilder von Geiseln und Opfern des Hamasüberfalls ausgestellt. Das Resultat war ein spannungsreiches, aber gewaltloses Nebeneinander dieser Positionen. Das ist auch auf ungewöhnliche Art produktiv, aber es ist als Protest im klassischen Sinn fast nicht mehr wahrnehmbar.

Die einzigen, die im Herbst 2023 Universitätsregeln gebrochen haben, waren Jews for Ceasefire, und das war auch dann ein Schock für einige. Die sind ohne Bewilligung einmal durch die Mensa gegangen mit einem Poster auf dem „Ceasefire Now“ draufstand. Das hat gereicht, dass einige jüdische Studierende erklärt haben, sie würden sich deshalb unsicher fühlen, und die Aktion pro-palästinensischer jüdischer Studierender wurde entsprechend emotional diskutiert.

Es gab davor auch Demonstrationen von Students for Justice in Palestine und für einige Stunden eine temporäre Ausstellung, wo sie Fotos von den Zerstörungen in Gaza hatten. In 50m Entfernung hatten jüdische Student_innen einen Stand, an dem sie der Entführten gedachten und ihre Rückkehr forderten. Aber um diese zwei Proteste herum waren überall Schilder, auf denen stand: Sie kommen jetzt an einen Ort, wo etwas Schockierendes dargestellt wird, und wenn Sie das emotional belastet, hier ist eine Telefonnummer mit psychologischer Beratung. Wenn man aus einer europäischen Protestkultur kommt, ist das echt eigenartig.


Hito Steyerl: Ja, aber ich muss ganz ehrlich sagen, ich bin ganz überrascht zu hören, dass das trotzdem dann noch irgendwie ausverhandelt wird, auch wenn es ein bisschen überreguliert wirkt, aber es hat immerhin ein Verhandlungsprozess stattgefunden, das ist doch super. Das scheint mir hier in Europa so gut wie gar nicht der Fall. Da wird gebrüllt, fertig.


Ari Joskowicz: Ja, absolut, eigentlich sehe ich es auch positiv. Ich finde es in vielerlei Hinsicht erstaunlich produktiv, und die Berichterstattung kann ich deshalb nicht nachvollziehen. Die amerikanische Uni ist in einer zersiedelten Gesellschaft einer der letzten Orte, an dem Menschen mit unterschiedlichen Ideen sich physisch begegnen. Deshalb dient sie als nationale Bühne, auf der jedes nationale Drama dargeboten wird. Campusse sind in den USA wirklich einzigartig. Da wohnen Leute noch zusammen. Die gehen dann zu Fuß in ihre Lehrveranstaltung und müssen aneinander vorbeigehen. Die mussten dann über 6 Wochen zum Beispiel in der Theologischen Fakultät jeden Tag diese unterschiedlichen Slogans und Bilder sehen und sich damit konfrontieren lassen. Das ist für die meisten US-Amerikaner_innen in ihrem Alltag nicht der Fall. Da ist die Realität über soziale Medien nur indirekt vermittelt. Es wird nicht wütend skandiert, sondern wütend geklickt. Sogar meine Kolleg_innen an der Uni, die weniger auf das schauen, was um sie herum stattfindet, sondern die Wahrnehmung ihrer eigenen Umwelt über die sozialen Medien bekommen, sind öfter ganz aus dem Häuschen. Die sind mehr in den medialen Narrativen verhaftet und fühlen sich oft von der Linken allein gelassen und betrogen—aber eben nicht wirklich von irgendwelchen Linken aus Fleisch und Blut an ihrer Universität, sondern abstrakten Linken, die ihnen medial dargeboten werden. Alle, die mit echten Menschen auf der Uni sprechen, haben viel weniger das Gefühl, dass ein kompletter Zusammenbruch der Kommunikation stattgefunden hat.

Gleichzeitig verstehe ich auch, wie bestimmte Themen jegliche Debatte unmöglich machen. Hier führt die Politisierung zur Unmöglichkeit, mit jemandem sinnvoll über Politik zu sprechen. Manche Themen sind wie schwarze Löcher, die alles Licht und alle Energie wegsaugen. Ich selbst habe das Gefühl, dass ich sehr bewusst damit umgehe, um überhaupt noch etwas produktiv sagen zu können. Ich versuche dann, genau diese schwarzen Löcher zu umschiffen.


Hito Steyerl: Schau dir die deutsche Kulturlandschaft an, ein Meer von diskursiven schwarzen Löchern. Man kann sich ein C.D. Friedrich-Gemälde vorstellen, ein Meer voller schwarzer Löcher, und so ein Masterplan entwerfender AfD Aristokrat schaut begeistert drüber. Der freut sich schon, dass wir alle verschluckt werden von den Singularitäten.

Das wäre auch ein interessantes Computerspiel. Ich schaue mal nach, ob ChatGPT4 es schafft, das selber als 2D-Webspiel zu programmieren. Das interessiert mich. Also das Spiel wäre: schwarze Löcher im Diskurs zu umschiffen. Sonst wird man von denen gefressen, reingesaugt und spagettifiziert. Aber die Schwarzen Löcher werden auch gefüttert, mit Klicks, Skandalen und Aufmerksamkeit.  Und dann kriegen sie mehr Energie, und man muss aber trotzdem noch dran vorbei. Man kann ihnen aber auch Aufmerksamkeit entziehen und sie schrumpfen lassen.

Ich muss also wormholes einbauen, mit denen man wieder rauskommt aus dem Loch. Auf der anderen Seite, im Universum. Da kommt man hin, wenn man die Singularitäten durch hat.

Aber dann kommt erst der Endboss, und das ist auch nach all der Zeit derselbe Gegner, der sogenannte Rechtspopulismus, der auch schon damals keinen Hehl daraus gemacht hat, dass er sich überaus inspiriert fühlt von seinem nationalsozialistischen historischen Vorbild. Es liegt also hier eine Situation vor, die sich nicht groß geändert hat, nur erweitert.  Gleichzeitig ist natürlich der fundamentale Unterschied der, dass anders als 1933, 34, 38, 41 etc. wirklich alle ganz genau wissen, worauf sie sich einlassen. Das weiß sogar ChatGPT.