09 2015
Tanz das Derivat!
Anmerkungen zum Ende der Ökonomie, zur Neuerfindung politischer Ökonomie und zu Randy Martins letztem Buch Knowledge LTD
“Auf den Ruinen der Ökonomie können wir schon die Selbstproduktion sehen – ein dezentriertes, verteiltes und zerstreutes Vermögen nicht nur zur Bewegung, sondern auch für die Erzeugung von Bewegung. Inmitten der zerfallenden Öffentlichkeit können wir eine Polyphonie kritischer Stimmen hören, die ihr Recht auf Selbstrepräsentation einfordern. Aus der Dekolonisierung der Kultur verstreut sich eine Saat, überall strömen Quellen aus und werden eingefangen, gesampelt und gepostet, im überschwänglichen Gewebe der Selbstverbreitung. Tanz und andere spezialisierte Praktiken der Bewegung machen auf diese derivativen Sozialitäten aufmerksam, sie eröffnen Möglichkeiten, soziale Werte zu sammeln, sie verweisen auf die Wege in unsere heutige Notlage und aus ihr heraus, sie verschieben die grundlegenden Regierungsweisen unserer Körper.“[1]
Acht Jahre
nach Beginn der subprime crisis, mit der
immer weiteren Verschärfung der sozialen Unterschiede zwischen den Regionen des
Nordens und des Südens sowie Anzeichen einer Transformation des maschinischen
Kapitalismus in Richtung verschärfter Autoritarismen ist es höchste Zeit für
neue Ansätze der Ökonomietheorie. Die klassischen Positionen ökonomischer
Theorie, und selbst ihre kritischen Anteile, haben keineswegs nur deswegen versagt,
weil sie die Krise nicht vorhersehen konnten, sie sind einfach auch nicht in
der Lage, sich in den Mechanismen des maschinischen Kapitalismus und gegen sie reflexiv
und argumentativ zu bewähren, geschweige denn sich diskursiv durchzusetzen.
Es braucht einen neuen Anlauf politischer Ökonomie, der die Stärken marxistischer Theorien erneuert und zugleich die ökonomische Praxis historisch-anarchistischer, syndikalistischer und räterepublikanischer Alternativen ebenso in den Blick nimmt wie die aktuellsten Formen solidar-ökonomischer Praxen und Versuche neuer Subsistenz-Wirtschaft. Vor allem aber muss sich die avancierteste politische Philosophie eben überhaupt auch verstärkt ökonomischen Fragen zuwenden, und zwar auf der Höhe der neuesten technischen und finanzpolitischen Entwicklungen.
Es gibt einige Schritte in diese Richtung, etwa die Arbeiten des italienischen Ökonomen Christian Marazzi, jene der australischen queer-feministischen Theoretikerin Angela Mitropoulos, die Bücher Maurizio Lazzaratos über Schulden oder die Schriften von Stefano Harney zu Logistik und Algorithmen. In dieselbe Kerbe der Erprobung einer poststrukturalen politischen Ökonomie schlägt nun das neue und letzte Buch von Randy Martin. Tänzer, Performance- und Tanztheoretiker, Professor für Art and Pubic Policy an der New York University, Ökonom und Aktivist, starb er im Januar 2015. Posthum kam im Frühsommer bei Temple University Press sein Buch Knowledge LTD heraus. Der Untertitel des Buchs drückt das riesige Projekt Randy Martins deutlich aus: „Towards a Social Logic of the Derivative“ macht klar, dass es um nichts weniger geht, als um die Erfindung der Kehrseite des Derivats nach dem Ende der Ökonomie: das Derivat als zentrales Material des maschinischen Kapitalismus und zugleich als Anzeichen für die mögliche Wendung der Ausbeutung in eine Figur der Sozialität, des Zusammenlebens jenseits von Besitzindividualismus und Inwertsetzung der zerstreuten Arbeitskraft.
Das Derivat ist also das Zentrum von Randy Martins
politischer Ökonomie. Die abstrakt-dividuelle Linie des Derivats verbindet
nicht nur die soziale Fabrik als neues Fließband, sie sammelt, bündelt auch die
zusammenpassenden Teile von verschiedenen Einzeldingen, um aus dieser
Neuanordnung Mehrwert zu schlagen. Randy Martin schreibt in seinem Buch über
diese Umkehrung des klassischen Produktionsprozesses: „Während das massenhafte
Fließband all seine Inputs an einem Platz versammelte, um eine straff
integrierte Ware zu erzeugen, die mehr war als die Summe ihrer Teile, spulte
das financial engineering diesen
Prozess verkehrt ab, indem es eine Ware in ihre konstituierenden und
veränderlichen Elemente zerlegte und diese Attribute zerstreute, um sie
zusammen mit den Elementen anderer Waren zu bündeln, die für einen global
orientierten Markt für risikogesteuerten Austausch interessant sind. Alle diese
beweglichen Teile werden mit ihrem Risiko-Attribut wieder zusammengesetzt,
sodass sie als Derivat mehr wert werden als ihre individuellen Waren.“[2]
Das Derivat ist dabei mehr als nur ein Vertrag über den Austausch einer bestimmten Warenmenge zu einem bestimmten zukünftigen Zeitpunkt und einem bestimmten Preis. Es ist das Instrument, das gegen die Vorstellung der Trennung von Finanzmarkt und realer Ökonomie gerade die Verbindung aller disparaten ökonomischen Sektoren und Kapitalsorten herstellt, sie miteinander kommensurabel macht und einem gemeinsamen Maß unterstellt. In den Worten Randy Martins: „ Während uns die Waren aber als Einheit des Reichtums erscheinen, die Teile in ein Ganzes abstrahieren kann, sind Derivate noch immer ein komplexerer Prozess, in dem Teile nicht mehr einheitlich sind, sondern ständig zerlegt und wieder gesammelt werden, wenn unterschiedliche Attribute gebündelt werden und ihr Wert die ganze Ökonomie übersteigt, unter die sie einst summiert worden waren. Größenverschiebungen vom Konkreten zum Abstrakten oder vom Lokalen zum Globalen sind nicht länger externe Maßstäbe der Äquivalenz, sondern im Inneren der Zirkulation der gebündelten Attribute, die Derivat-Transaktionen vervielfältigen und in Bewegung versetzen.“[3] Dividualisierung der Ökonomie, in allen Größenordnungen. Es ist die Kommensurabilität und Vergleichbarkeit, die hergestellt werden muss, um den dividuellen Austausch inwertzusetzen.
Doch jenseits und vor dieser Inwertsetzung ereignet sich schon eine
Sozialität, die ihr Vermögen genau aus der Qualität des Derives im Derivat
entwickelt. Die Potenzialität der wechselseitigen Verschuldung, der Ansteckung und der
Streuung in Raum und Zeit sucht Randy Martin genau im Zentrum der Finanzialisierung,
direkt als soziales Potenzial der Derivate. Wenn Derivate Teile bündeln, die
weit auseinander zerstreut subsistieren, dann stellt sich zunächst die Frage,
warum und wie diese Eigenheit der Derivate auf andere Felder als das
ökonomische zu übertragen ist, warum und wozu gerade das Unplanbare, das
Derivat, als Grundlage des gesellschaftlichen Reichtums konzeptualisiert werden
kann. Martins Antwort ist dreigeteilt: erstens für eine Konzeptualisierung des
Fragmentierten, Zerstreuten, Isolierten als miteinander verbunden, ohne als
einheitliches Ganzes zu erscheinen – das ist die brennende Frage nach der
Verkettung der Singularitäten in zerstreuter Produktion, mit Marxens Bild von
den Parzellenbauern als Kartoffeln: einer politischen Neuzusammensetzung der
Kartoffeln, die noch nicht einmal in einem Kartoffelsack nebeneinander zu
liegen kommen; zweitens um den Wert unserer Arbeit inmitten von Flüchtigkeit,
Unbeständigkeit, Volatilität zu artikulieren – an diesem Punkt verdichtet
Martin die technische Zusammensetzung der Produktion als radikal in Bewegung;
drittens um die agency of arbitrage
anzuerkennen, die kleinen Interventionen in der Entwicklung der Derivate, im
Schreiben der Derivate, Interventionen, die klein sind, nichtsdestoweniger aber
einen Unterschied ausmachen, vor dem Hintergrund eines „verallgemeinerten
Versagens“ ein „schöpferisches Risiko“ eingehen.[4]
Das Innere des traditionellen Felds der Ökonomie war nach Martin nie als Terrain der Ausbreitung und Dominanz der Derivate zu verstehen. Ganz im Gegenteil: Martin versucht die Derivate als Außen der Ökonomie zu beschreiben, das zur Krise von Ökonomie und ökonomischen Wissenschaften geführt hat, zu einer Rezession ihres Reichs, ja sogar als Totengräber der Ökonomie. Wenn Derivate die Enteignung des Selbst und des Besitzes vollziehen, dann wird damit auch der gute alte Besitzindividualismus zu Grabe getragen. Die Ökonomie bricht mit den Krisen des letzten Jahrzehnts mehr und mehr auseinander, und die Derivate sind Auslöser und zugleich Gegenstand dieses Auseinanderbrechens: „Die Derivate strömen aus dieser Bresche, sie lassen das Politische und die Schaffung von Reichtum untrennbar werden, sie lösen die Gegebenheit nationaler Bevölkerungen auf und eröffnen andere Aussichten auf wechselseitige Assoziierung.“[5] Statt wie im traditionellen Blick auf die Derivate als phantasmatischem Bruch der linearen Zeit und Kolonisierung der Zukunft, geht es hier vielmehr um laterale Bewegungen und um neue Verkettungen von Räumen. Die derivative Sozialität erscheint als transnational im starken Sinn – jenseits von Nationalität, als Aussicht auf eine ganz andere Form der Verkettung auf planetarischem Niveau. „Während Derivate in einer Sprache der futures und forwards, der gegenwärtigen Vorwegnahme dessen, was zukünftig ist, konzipiert sind, […] spricht der Akt der Bündelung von Attributen für eine Orientierung nach allen Seiten hin, die ein Effekt von gegenseitiger Kommensurabilität ist.“[6] Nach allen Seiten hin, als Deterritorialisierung der Grenze, als maschinisch-dividuelle Verkettung scheinbar nicht zusammengehörender Teile, so zieht sich die abstrakte Linie des Derivats. Die Zeitlichkeit der sozialen Logik des Derivats ist dagegen weniger die Vorwegnahme der Zukunft in den futures als eine ausgedehnte Gegenwart, die sich in multilateralem und wechselseitigem Austausch im Hier und Jetzt ausbreitet.
Man muss der hoffnungsvollen Interpretation Randy Martins nicht immer zur Gänze folgen, um die Derivate vielleicht weniger als Heilsversprechen, denn als Symptome einer Veränderung zu verstehen, die neue Öffnungen erzeugt – ohne Sicherheit, ob diese Öffnungen in nie dagewesene Formen herrschaftlicher Partition und Partizipation münden oder in Existenzweisen, in denen Martin zurecht die soziale Logik des Derivats erkennt, als „ein Exzess, der freigesetzt ist, aber nie völlig abgeschöpft werden kann, ein Rauschen, das nicht zum Schweigen gebracht werden muss, Schulden, die eingetragen sind, aber unmöglich zu begleichen.“[7] Wenn die Vielen sich wegstehlen aus den Zwängen des Kredits, Fluchtlinien ziehen auf und aus dem Immanenzfeld des maschinischen Kapitalismus, die schlechten Schulden zum Wuchern bringen – warum sollte nicht gerade die Dividualität der Derivate zeigen, dass selbst im Modus der Modulation Subjektivierungsweisen entstehen, die der Fügung entgehen?
Scheinbar völlig paradox besinnt sich Randy Martin im
dritten und letzten Kapitel seines Buchs auf eine alternative Geschichte des
Tanzes, als keineswegs metaphorische Verkettung zweier so unterschiedlicher Bewegungsformen
– Tanz und Finanz. Warum und inwiefern wird diese Wendung, jenseits der
spezifischen Biografie des Autors, der beide Felder so souverän durchquerte,
produktiv? Randy Martin wusste, dass die TänzerIn suspekt ist. Er wusste das
aus eigener Erfahrung, und er insistierte darauf auch in theoretischen und
akademischen Umfeldern. Nicht genug, dass er die paradoxen Analogien von Tanz
und Finanz zur Sprache brachte, das Auseinanderfallen des Körpers, sein
Nie-Ganz-Gewesen-Sein, ähnlich den Teilungen und Bündelungen der dividuellen
Linie des Derivats. Er benutzte den Tanz auch als Verfremdungsakt, der in die
extremen Verhärtungen des akademischen Vortragsbusiness interveniert. Wenn man
ohnehin schon am Pult steht, liegt es in der Sicht des Tänzers nahe, gleich ein
paar Tanzschritte einzulegen, die die ohnehin schon suspekte Sprache über Tanz
und Finanz begleiten. Und so begann auch im Juni 2014, ein letztes Mal in
Europa, Randy Martin auf einmal in einem nüchternen Hörsaal der Freien
Universität in Berlin zu tanzen. Mitten in einem akademischen Vortrag, mitten
in einem akademischen Setting, umrahmt von der knöchernen Präsenz des
einladenden akademischen Personals und der staunend folgenden
StudentInnenschaft, als Verkörperlichung eines tanzenden Denkens und
freundlicher Bruch mit akademischer Tradition. Er sprach über Louis XIV, die
Judson Church, Trisha Brown, Breakdance, Hiphop und Boarding Culture (Randy
Martins kleine Geschichte der Kinästhetik ist nachzulesen im dritten Großkapitel
von Knowledge LTD), und wagte
zwischendurch mal kurz ein kleines Tänzchen – minoritäre Aktualisierung
„lateraler Mobilität“, wie er das nannte.
Tanz wie Finanz ruhen und beruhen und beunruhigen sich
auf der Basis einer Sozialität, einer sozialen Logik, einer wechselseitigen
Verschuldung, einer verstreuten Form von Besitz, einer „dezentralen sozialen
Kinästhetik“. Der Tanz ist verletzlich, gefährdet und prekär, und die TänzerIn
ist verletzlich, gefährdet und prekär. Und dennoch ist ihr Tanz, ist Randy
Martins Tanz „abun-dance“. Er fließt aus der sozialen Logik des
Verschuldetseins, und er fließt über alle Begradigungen hinaus, tanzender
Überfluss, Überschuss, derive, weit über
sein Ableben hinaus. Und genau das macht ihn auch gefährlich, monströs,
potenzielle Kippstelle des maschinischen Kapitalismus.
„Eine Politik der Prekarität […] wird sich vom Zentrum weg bewegen müssen, niedrig fliegen und alle ihre Kräfte lateral sammeln müssen, um die zusammenfallenden Rhythmen von Tanz und Finanz zu animieren.“[8]