12 2021
After Representation before Study (1)
Ich möchte mit Rousseau beginnen – mit dem Autor des Gesellschaftsvertrags, seiner Schrift von 1762, in der er eine Republik ohne Repräsentation entwirft: das vereinte Volk der männlichen Bürger kann nicht vertreten werden.[1] Nicht zu trennen davon ist das misogyne Frauenbild, mit dem Rousseau entscheidend dazu beigetragen hat, es zu Beginn der bürgerlichen Gesellschaft zu etablieren. Rousseau ist zugleich auch derjenige, der mit seiner Repräsentationskritik sehr deutlich für das Fest, das Feiern plädiert hat. Das republikanische Fest – das er nicht minder streng heteronormativ betrachtet – kann paradoxerweise erste Aspekte für eine repräsentationskritische Form von Demokratie liefern, die ohne Volk auskommt und von der Heterogenität und der Verbundenheit der multitude, der beliebigen Vielen aus gedacht ist.
Wenige Jahre vor dem Gesellschaftsvertrag erscheint 1758 Rousseaus Essay Brief an d’Alembert über das Schauspiel.[2] Darin spricht er sich explizit gegen ein Theater in seiner Heimatstadt Genf aus. Er beklagt, dass es auf der Bühne viel zu leidenschaftliche Inszenierungen zu sehen gäbe, die die sittlichen heteronormativen Geschlechterverhältnisse unterminieren würden. Das Theater subvertiert ihm zu sehr seine gewünschte Geschlechterordnung, zudem ist es ein obskurer Ort ästhetischer Repräsentation, in dem, wie er schreibt, „eine kleine Zahl von Leuten in einer dunklen Höhle trübselig eingesperrt ist, furchtsam und unbeweglich in Schweigen und Untätigkeit verharrend“.[3] Gegen diesen theatralen Sittenverfall setzt Rousseau das Volksfest und proklamiert feierlich: „In frischer Luft und unter freiem Himmel sollt ihr euch versammeln [...], ihr seid es selbst, das würdigste Schauspiel, auf das die Sonne scheinen kann.“[4] Ohne Repräsentation, ohne Bühne, nur ein Fest der Versammelten. „Was wird gezeigt? Nichts, wenn man will.“[5] Beim republikanischen Fest sind die Versammelten keineswegs nur Männer. Was Rousseau neben dem Schützenfest[6] besonders hervorhebt, sind „die Bälle für junge Leute im heiratsfähigen Alter“[7]. Das festliche Versammeln sollte seiner Ansicht nach allein dem öffentlichen Kennenlernen dienen und den sittlichen Zusammenkünften von Mann und Frau mit dem klaren Ziel, zu heiraten, denn für Rousseau ist „das erste und heiligste Band der Gesellschaft die Ehe“[8]. Diese Ehen sollen allerdings nur unter Genfer:innen und nicht mit Fremden geschlossen werden.[9]
Ohne diese dichotome volkstümlich-fremdenfeindliche und heteronormative Argumentation gegen das Repräsentationstheater und für das Fest zu affirmieren, möchte ich dennoch einige Aspekte hervorheben, die Rousseau zu Gunsten des Festes anführt. In seiner Theaterkritik hebt er die Bühne auf und die Zuschauer:innen werden zu Akteur:innen in der Begegnung, im Austausch, in der Kommunikation, im Tanz: „stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern,“ schreibt er, „sorgt dafür, dass ein jeder sich im anderen erkennt und liebt, dass alle besser miteinnder verbunden sind.“[10] Die Feiernden sind „fröhlich, zärtlich“, sie brennen darauf, ihre Freude „mitzuteilen und auszutauschen. Wen immer er [der Genfer] gerade trifft, lädt er ein. [...] Aus vielen Gesellschaften wird eine einzige, alles wird allen gemeinsam.“[11]
Das Gemeinsame kann Rousseau allerdings nur durch Vereinigung denken, nicht im Bewahren des Heterogenen. Zugleich sind es Beliebige, die eingeladen werden. Und dennoch ist es eine „bedingte“ Gastfreundschaft, sie ist ohne Fremde, nicht offen für beliebige Viele, und es ist kein Feiern unter Gleichen (die Geschlechterhierarchie muss eingehalten werden).[12] Aber es sind Feste ohne Kanzel, Bühne oder Podium. Es gibt keine Bühnenschauspieler:innen mehr und im weiterführenden Sinn dieser Auflösung der architektonischen Szene der Repräsentation auch keine Wortführer:innen mehr. „Pflanzt in der Mitte des Platzes einen mit Blumen bekränzten Baum auf, versammelt dort das Volk, und ihr werdet ein Fest haben.“[13]
Anders als im Gesellschaftsvertrag gehören hier alle, die das Fest feiern, zum großgeschriebenen Peuple. Wenn Rousseau wenige Jahre später den Gesellschaftsvertrag verfasst, gehören zum peuple nur noch jene, die den Souverän bilden, die bürgerlichen Männer. Würde er auch in seiner politischen Schrift über Feste schreiben, müsste er nun von der multitude reden, von den heterogenen Vielen, die sich auf den Plätzen versammeln, sich austauschen und ihre Verbundenheit feiern.[14] – Es liegt nahe, bei diesem Szenario auch an die Platzbesetzungen der beginnenden 2010er Jahre zu denken, die ohne Repräsentant:innen sich versammelten, austauschten, feierten und alternative Formen von Demokratie praktizierten.[15] –
Es ist dieser repräsentationskritische Rousseau, an dem sich der junge Jacques Derrida abarbeitet, als er in seiner Schrift Grammatologie von 1967 die Denkpraxis der Dekonstruktion zu entwickeln beginnt. Er wirft Rousseau in toto eine maskulinistische Metaphysik der Präsenz vor und kritisiert nicht nur die politische Konstitution der Republik im Gesellschaftsvertrag, sondern vor allem das Fest. „Diese Gesellschaft“, so Derrida, „kennt keine Verträge, [...] keine Repräsentanten. Sie ist ein Fest. Sie verzehrt sich in der Präsenz. Es gibt wohl eine Erfahrung der Zeit, aber es ist eine Zeit reiner Präsenz, die weder Berechnung, noch Reflexion, noch Vergleich zulässt [...], eine Zeit ohne Differenz.“[16] Rousseaus Denken gehöre, wie Platon und Hegel, „zur Metaphysik der Präsenz, [... zur] sich selbst gegenwärtigen Präsenz“[17]. Mit dieser massiven Kritik an authentizistischer, unmittelbarer und geschichtsloser Gegenwärtigkeit, trifft Derrida viel mehr Hegel als Rousseau.
Wenn bei Rousseau nämlich die Repräsentation ausgesetzt ist und beim republikanischen Fest das Publikum nicht mehr zuschaut, sondern gemeinsam wird, als gemeinsames erscheint und passiv/aktiv das Geschehen bestimmt, dann geht es nicht darum, wie Derrida kritisiert, die Differenz auszulöschen, „die Differenz zwischen dem Schauspieler und dem Zuschauer, dem Dargestellten und dem Darsteller, dem betrachteten Objekt und dem betrachtenden Subjekt“[18]. Es geht gerade nicht um Authentizismus oder – wie Derrida formuliert – um „Intimität einer Selbstpräsenz“, um „Empfindung des Bei-sich-seins, [um] Eigentlichkeit“.[19] Der junge Derrida sieht im öffentlichen Fest wie in der repräsentationslosen Republik nichts als die Präsenz des Identischen. Er fehlt ihm auch in den politischen Formen des sich versammelnden Bürgervolkes die „repräsentative Differenz“[20].
Derrida will hier nicht sehen, dass Rousseau das Fest als Versammlung anführt, um das „Publikum“ die Bühne aussetzen zu lassen. Es soll seine Rolle im Szenario der Repräsentation gerade verlassen. Das Publikum wird zur multitude, zu den keineswegs differenzlosen heterogenen Vielen, die sich bewegen, tanzen, sich wechselseitig affizieren. Dennoch bleibt das Fest bei Rousseau entsprechend der Versammlung der Bürger ereignishaft. Es ist nicht von Dauer, nicht Teil des Alltags, aber es kann erneut stattfinden.
Wenn das Publikum die Repräsentation verlässt, partizipiert es nicht einfach. Wenn die beliebigen Vielen, die multitude, sich zusammensetzen, sich begegnen, sich einladen, sich austauschen, dann verlassen sie nicht einfach den dunklen Raum des Zuschauens und kommen ans Licht der Öffentlichkeit. Es geht nicht um Partizipation, denn die Teilnahme war immer schon ein Fake der repräsentativen Demokratie, die als ihr Anderes Präsenz als subjektivistische Selbst-Referenzialität, als Identität so sehr braucht wie authentizistische Körperlichkeit. Stattdessen geht es um radikale Inklusion, um wechselseitige Verbundenheiten und Affizierungen.
Wie kann aber die uns so vertraute Dichotomie zwischen Präsenz und Repräsentation durchbrochen werden? Wie lässt sich Demokratie nicht durch ein ‚Volk‘ bestimmen? Wie lässt sie sich als eine entgrenzte Demokratie verstehen, eine Demokratie, die die Grenzen aussetzt, die die Grenzen öffnet für das_die Anderen?
Dazu braucht es eine Neukonzeption der Gegenwart – und entgegen der gerade dargestellten Position, möchte ich dafür weiter bei Derrida bleiben, nämlich bei seinen Überlegungen zu einer „kommenden Demokratie“.[21] Fünfunddreißig Jahre nach der Grammatologie liest Derrida Rousseau in seinem Buch Schurken erneut und anders; interessanterweise dann, wenn er sich von der Frage der Repräsentation löst. Derrida denkt Demokratie nun in der Gegenwart, das Kommende im Jetzt. Wie müssen wir also die Gegenwart begreifen, damit das Kommende, das, was kommt, was ankommt, einen Platz hat?
Im Unterschied zu einer sich eingrenzenden, auf Grenzen und Identität setzenden Demokratie bricht die entgrenzte Demokratie mit der naturalisierten Homogenität eines ‚Volkes‘ ebenso wie mit Ursprungs- und Herkunftsorten. Statt das Versprechen der Demokratie unbegrenzt in die Zukunft zu verschieben, plädiert Derrida für das Kommende. Nicht für eine Zukunft, sondern eher eine ausgedehnte, unvorhersehbare Gegenwart, die nicht ist, sondern im Werden bleibt, offen für Veränderungen. Diese Gegenwart hat keine Verbindung zum Authentischen, zur Essenz oder zur unmittelbaren Gegenwärtigkeit. Die Gegenwart, die im Kommen bleibt, dauert an, in der Unvorhersehbarkeit. Das Kommende legt großen Wert auf den Anfang und die Ankunft, eine Ankunft, die unvorhersehbar, unberechenbar, die kontingent ist. Das Kommende deutet auf das- oder diejenigen hin, die kommen, auf das Kommen der beliebigen Anderen, die man nicht kommen sieht, auf das, was kommt, ohne dass es sichtbar wäre, voraussehbar, erwartbar, antizipierbar, berechenbar.
Das, was sich dem Unvorhersehbaren, der Unbestimmtheit, dem immer prekären Kommenden in der Gegenwart ohne Bedingung stellt, ist für Derrida „absolute Gast-freundschaft“. „Die absolute Gastfreundschaft“, schreibt er, „erfordert, dass ich mein Zuhause öffne und nicht nur dem Fremden [...], sondern auch dem unbekannten, anonymen absolut Anderen (eine) Statt gebe, dass ich ihn kommen lasse, ihn ankommen und an dem Ort, den ich ihm anbiete, Statt haben lasse, ohne von ihm eine Gegenleistung zu verlangen [...] oder ihn nach seinem Namen zu fragen.“[22]
Die Kommende ist nicht zur Rückgabe verpflicht. Ihrem Kommen wird Statt gegeben, sie kann ankommen und auch bleiben; ihr wird eine selbstlose Gabe, eine Gabe ohne Selbstbezogenheit zuteil.[23]
Über Derrida hinaus möchte ich betonen, dass diese radikale Gastfreundschaft gerade deshalb sozial ist, weil sie die Tausch- und Schuldenökonomie aussetzt, ohne Rückgabe funktioniert, keinen Kredit gibt, keine Schuld auflistet, die zurückgezahlt werden muss.[24] Wer auch immer kommt, wird eingeladen, ist willkommen Statt zu haben. Diese Praxis radikaler Inklusion[25] schließt nicht durch Bedingung der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft aus, sondern inkludiert, indem sie exzessiv gibt, in dem sie das Affiziertwerden durch das_die Andere zulässt. Diese Aufgeschlossenheit, mit beliebigen anderen zusammenzukommen, das gegenseitige Vergnügen, die radikale Heterogenität zu genießen, kann auch als eine Art Fest verstanden werden. Im Unterschied zu Rousseau ist dieses Vergnügen allerdings eins, das Verbundheit und Kooperation nicht durch die Idee eines ‚Volkes‘ abschließt und abbricht, sondern prekär in der unkalkulierbaren Gegenwart im Kommen bleibt. Die Gastfreundschaft der kommenden Demokratie ist kein singuläres Ereignis, auch kein wiederholtes. Sie ist eine soziale Praxis, die dem Anderen radikal zugewandt bleibt, eine nicht-identitäre Subjektivierung im Werden, eine Sozialität, die von der Heterogenität, der Verbundenheit mit Anderen sowie der Umgebung, dem Surround, ausgeht.
Und das ist nun wieder verbunden mit jener Praxis von study, die Stefano Harney und Fred Moten vorgeschlagen haben. – After Audience before Study ist eigentlich ein falscher Titel für unsere beiden Inputs – studieren wir doch immer schon, studieren bereits, in der Gegenwart. Studieren verweist auf die wechselseitigen unendlichen Verschuldungen, auf die sozialen Schulden, die nicht zurückgezahlt werden können. Sie sind bereits da, sie konstituieren das Jetzt.
Dieses Studieren, um das es uns geht, hat nicht einfach mit der Universität zu tun und kommt ohne Repräsentation aus, ohne Fürsprecher:innen, ohne Autoritäten. Einen Text zu studieren bedeutet, einen sozialen Raum zu betreten, sich darin mit anderen zu treffen. Studieren ist eine soziale Praxis, einen Text zu studieren bedeutet, Gast-freundschaft zu genießen, eine andere Weise des Zusammenlebens zu erfinden, es bedeutet _Mit_Sein.
Studieren ist miteinander reden und gehen, essen und tanzen. Eine irreversible ge-meinsame Intellektualität, immer bereits da und immer im Werden.[26] Nach der Repräsentation – nach der Partei ist immer schon die Party.
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[1] Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts [1762], neu übers. und hrsg. von Hans Brockard und Eva Pietzcker, Stuttgart: Reclam 2003.
[2] Rousseau, Jean-Jacques, „Brief an d’Alembert über das Schauspiel“ [1758], in: ders., Schriften, Bd. 1, hrsg. von Henning Ritter, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981, S. 333-474.
[3] Ebd., S. 462.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Vgl. ebd., S. 463.
[7] Ebd., S. 464. Rousseau bezieht sich immer wieder auf die griechischen Antike und lässt Herrschaftstechniken wie jene von „Brot und Spiele“ anklingen, wenn er schreibt: „Schlimm genug, wenn das Volk nur die Zeit hat, sein Brot zu verdienen, denn es braucht auch Zeit, es mit Genuss zu essen, wenn es nicht die Lust, es zu verdienen, verlieren soll. [...] Wollt ihr ein Volk tätig und fleißig machen? Gebt ihm Feste.“ (Ebd., S. 463)
[8] Ebd., S. 464.
[9] Rousseau schreibt unverhohlen, „dass niemals ein Fremder nach Genf gekommen ist, der dort nicht mehr Schaden angerichtet als Gutes getan hat“ (ebd., S. 469).
[10] Ebd., S. 462f.
[11] Ebd. S. 464.
[12] Mit Derrida gesprochen ist diese Gastfreundschaft bedingt, weil sie Fremden nicht offensteht, obwohl Rousseau betont, dass sie „wen auch immer“ (ebd.) einlädt (vgl. Jacques Derrida: Von der Gastfreundschaft [1997], übers. von Markus Sedlaczek, Wien: Passagen 2001).
[13] Rousseau, „Brief an d’Alembert“, S. 462.
[14] Das republikanisch-gesellschaftliche Fest scheint zur Entfaltung zu bringen, was Rousseau im Gesellschaftsvertrag im Bereich des Politischen unterbunden hat.
[15] Zur Ausführung dessen und des Folgenden, siehe Isabell Lorey, Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2020.
[16] Jacques Derrida: Grammatologie [1967], übers. von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 449.
[17] Ebd., S. 423.
[18] Ebd., S. 525.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Vgl. Jacques Derrida, Schurken. Zwei Essays über die Vernunft [2003], übers. von Horst Brühmann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005.
[22] Derrida, Von der Gastfreundschaft, S. 27.
[23] Die Gabe der Gastfreundschaft muss ohne Pflicht gegeben, sie muss geschenkt werden (vgl. ebd., S. 29 und 64.
[24] Vgl. Stefano Harney und Fred Moten: Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium, übers. von Gerald Raunig und Birgit Mennel, Wien u.a.: transversal texts 2016. Sie auch Isabell Lorey, „Preserving Precariousness, Queering Debt“, in: Recerca. Revista de Pensament y Anàlisi, 2019:24 (1), S. 155-167; und Lorey, Demokratie im Präsens, Kapitel 6.
[25] Zum Begriff der „radikalen Inklusion“ im Kontext der Praxen der spanischen Demokartiebewegungen, siehe Lorey, Isabell, „Präsentische Demokratie. Radikale Inklusion – Jetztzeit – Konstituierender Prozess“, in: Alex Demirović (Hg.), Transformationen der Demokratie – Demokratische Transformationen, Münster 2016, S. 265-277.
[26] Siehe das Gespräch zwischen Stefano Harney, Fred Moten und Steven Shukaitis in der englischen Version von The Undercommons. Fugitive Planning and Black Study, London: minor compositions 2013, S. 110.