04 2019
Die Stadt der Attraktionen
Das Territorium der Stadt wandelt sich zusehends in einen Kampfplatz des Städtewettbewerbs. Dessen Effekte: Touristifizierung und Musealisierung, Gentrifizierung und Spekulation, Zerstörung gewachsener Infrastrukturen und Vertreibung der Ansässigen, boomende Übernachtungszahlen und Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in der Hotelindustrie, Airbnb-Burgen und Kreuzfahrtschiffe, die Städte sein wollen und Städte zerstören. Nicht mehr nur Entfremdung in der Gesellschaft des Spektakels, sondern Myriaden von konkurrierenden Städten der Attraktion.
Schon immer war die Stadt Schauplatz des Experiments mit Regierungsformen. Der Name der Stadt verflechtet sich mit Herrschaft über das verdichtete Viele, zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten in unterschiedlichen Formen.[1] Im maschinischen Kapitalismus ist es eine Regierung der maschinischen Indienstnahme, der freiwilligen Selbstkontrolle, der bereitwilligen Ausbeutung auch noch der letzten Ressourcen, nicht zuletzt jener der Privatheit und des Wohnens.[2] Das Territorium der Verdichtung von Relationen wird vereinnahmt, in Wert gesetzt, gefügig gemacht. Bis zum Punkt, dass „… the city is where life escapes ...“[3]
Doch in denselben Städten oder unter/über ihnen finden sich auch subsistenzielle Territorien – Territorien, in denen Dinge, Maschinen, Tiere, Menschen tatsächlich nebeneinander ek-sistieren und zusammen leben. Sie subsistieren im subsistenziellen Territorium. Sub-, so ungenau und diffus wie das lateinische Präfix. So gefährlich-monströs wie in Underground Railroad oder in subaltern. So subversiv wie in Sub-comandante Marcos oder den Under-commons. Unter und um die vereinnahmte, in Wert gesetzte, gefügige Stadt wird immer schon das Subsistierende gewesen sein. Etwas, das subsistiert und zugleich resistent ist, renitent, ungefügig.
Und auch die Sache mit der Attraktion wird bei näherem Hinsehen ambivalent. Subsistenzielle Territorien in allen Maßstäben, von der beiläufig veränderten kollektiven Nutzung einer Parkbank über die soziale Maschine zwischen den Balkonen zweier gegenüberliegender Häuser bis zum Rhythmus der Sozialität ganzer Barrios: Und während ganze Stadtteile von Tourist_innen, aber auch von Stereotypenmenschen aus „besseren“ Teilen der Stadt, seien sie ultrakonservative Ästhet_innen oder neoliberale plastic people with plastic minds,[4] als unattraktiv, abgewohnt und gefährlich abqualifiziert werden, sieht es für die Anwohner_innen und Nutzer_innen manchmal ganz anders aus.[5] Fred Moten stellt die Frage in einem Kapitel von Black and Blur unter dem Titel “Collective Head” (nach einer Arbeit von Lygia Clark) so, als würde er von außen rangehen: „How do people live in the absence of attraction?“ und dann: “Is there something on the order of a life of attractions, which might be thought in relation to an architecture of attractions, a life and an architecture of attractions in the absence of any point of attraction?”[6] Ein Leben der Attraktionen, eine Architektur der Attraktionen unterhalb der Stadt der Attraktionen? Hier deutet sich die Attraktion als etwas ganz anderes an als die postmoderne Version vom totalisierenden Bild der Gesellschaft des Spektakels: als eben das, was zunächst als unattraktiv, abstoßend, jeden Zipfel von Attraktion entbehrend gesehen wird und zugleich gerade in der Abwesenheit der Attraktion für seine Bewohner_innen lebenswert, lebensnotwendig, und ja, warum nicht: attraktiv erscheint.[7] Wie in Fred Motens Reflexion von Masao Miyoshis Reflexion über „die (anti-)ästhetische Erfahrung“ der Peripherien von Taipei, Tokyo/Yokohama und Seoul: Sie sind „Monumente einer wachsenden Zugs zur Ableitung des Eigenen vom Gemeinsamen“. Während sie bei oberflächlicher Betrachtung als „eintönige, wuchernde, unattraktive Arbeiter- und Mittelklassen-Slums“ gesehen werden, sind sie zugleich „before that, in the double sense of before, the thing that underlies and surrounds enclosure“[8] Außerhalb der städtischen Einhegung, Inwertsetzung und Aneignung und in der Abwesenheit der Attraktion liegt ein Un/gefüge von Attraktionen, das die Stadt der Attraktionen unterwandert und umgibt. Das ist, wie Fred Moten schreibt, „der unterbegriffliche, untergemeinsame Untergrund und Vorort der Stadt.“[9] Vor und vor, ein Vor-ort, der immer schon da war und immer schon unter und um die Stadt herum, vor und vor der Stadt.
Im subsistenziellen Territorium wird unser gelebter Reichtum nicht so in Wert gesetzt, nicht so vereinnahmt, nicht so gefügig gemacht. Unser gelebter Reichtum, das ist unser gemeinsames Lachen, unsre erhitzten Diskussionen in der lokalen Bar, unser Hinhören, unser Hinsehen, unser Hinfühlen, mit Marx „all the capacities, pleasures, productive forces, etc. created through universal exchange“.[10] Oder besser vielleicht, entschuldige, Karl: durch transversalen Austausch ebenso transversaler Intellekte und Affekte. Für uns, in unsren Leben, das nicht Alltag und schon gar nicht Allmacht ist, sondern Allnacht, regt sich allnächtlich das Vielgefaltene. Etwas, das – unten rum und drum herum – subsistiert, insistiert, resistent bleibt, persistent.
Málaga ciudad genial, gefügige Stadt
„Picasso erfindet Málaga neu“ – das ist die Schlagzeile einer lokalen Zeitung, mit der Rogelio López Cuenca seinen Vortrag im selbstverwalteten sozialen und kulturellen Zentrum La Casa Invisible begann, der im März 2017 im Rahmen der Konferenz „Picasso en la institución monstruo“ stattfand. Die Schlagzeile von 2004 zeigt die ersten Auswirkungen einer Operation der gefügigen Stadt, die in der Konstruktion der „Marke Málaga“, und später Málaga ciudad genial bestand und mit der Vereinnahmung der Figur Picassos durch die Stadtregierung und die lokalen Behörden begann. Die Marke wird sich im Laufe der folgenden 15 Jahre als Wirtschaftsmotor der touristischen Attraktion auf allen Ebenen der Stadt ausdehnen und zum Leitmotiv von Restaurants, Bars, Souvenirshops, Immobilienfirmen usw. werden. Das Bild der Stadt wird mit und durch Picasso rekonstruiert: die Feria de Málaga, die Semana Santa, die Stierkämpfe, die Universität, all die emblematischen Orte, überall erscheint Picasso. Die Anstrengungen der Stadt gehen so weit, dass sie sich als direkte religiöse Verklärung Picassos verkauft – ein Besuch in Málaga soll ein Spaziergang in das Innerste seines Genius sein. Picassifizierung Málagas und Malaguenifizierung Picassos. Picasso als Attraktion und die Stadt als Vergnügungspark.
Diese Neuerfindung von Málaga ist nun Realität, und es ist klar, dass sie nicht nur in Málaga und nicht erst 2003 mit der Einweihung des Picasso-Museums in Málaga begann. Es ist ein enorm komplexer Langstreckenprozess, dessen aktuelle Bedeutung auf der wichtigen Rolle fußt, die das Territorium, der Raum des Staates für die europäische und globale Tourismus-Industrie in der Mitte des letzten Jahrhunderts und die Implementierung der Demokratie vor allem in Spanien einnahm. Tourismus als Akkumulationsweise[11] wurde von der Diktatur initiiert und von der neuen geopolitischen Rolle Spaniens gegenüber den USA nach dem Fall des Faschismus im übrigen Europa angetrieben. Hier zeichnete sich der neue wirtschaftliche Spielraum im gesamten Staat ab. Mit dem Aufkommen der Demokratie und des neoliberalen Projekts sowie dem Eintritt in die EU wurde die Strategie der Schaffung von Räumen für den Tourismus forciert, die zugleich mit einem Abbau der traditionellen Industrie und der Implementierung der Kultur des Finanz- und Immobilienprofits einherging, was sich mit dem Bodenliberalisierungsgesetz von 1997 und dem neuen Panorama der globalen Finanzialisierung noch verschärfte. Städte und Gemeinden konkurrierten um immer mehr Besucher_innen, Großprojekte, Macro-Events, touristische Siedlungen und Resorts, mit allen Arten jener Strategien, die das Netzwerk politischer und unternehmerischer Korruption, wir es heute kennen, prägen.
Die urbanen Konsequenzen waren enorm, die Städte wurden zu einer weiteren Ware: der Stadt als Marke. Im Jahr 2008 war die Intensität der Bautätigkeit und der städtischen Transformation höher als je zuvor, und die höchsten Raten an Besucher_innen wurden erreicht. Dann kam die globale Krise und das Platzen der Finanz-Immobilien-Blase, die durch den sozialen Körper fegte und Landschaften und Leben im ganzen Land zerstörte: Zombie-Siedlungen, Immobilien-Kadaver, Städte ohne Leben. Angesichts der Trostlosigkeit kehrten die Finanzgeier mit mehr Kraft zurück, die Geister der Vergangenheit tauchten wieder auf, aber dieses Mal konzentrierte sich der Terror der Gewinnmaximierung auf die Miete statt auf den Verkauf. Diese Geier nutzten die Abwesenheit von Leben, um die Schaffung von Räumen für den Tourismus zu konsolidieren, die Zwangsverschönerung zu kommerziellen Zwecken, die Etablierung von Fußgängerzonen als Schmiermittel-Mechanismus zur Gentrifizierung und Sanierung (oder, besser gesagt, der Zerstörung von allem Alten, das dem Neuen Platz machen muss) alter und heruntergekommener Gebäude, die touristischen Mietwohnungen Platz machen mussten: Das Modell der Gefügigkeit gegenüber der genialen Stadt setzt sich durch. Mit dem Versprechen einer einzigartigen Erfahrung für die Attraktion von Besucher_innen wird die Touristenstadt zu einem Einkaufszentrum (mall-aga),[12] und ihre Produkte, die Museen und Picasso, sind ein weiteres Stück dieser ganzen Infrastruktur der touristischen Akkumulation. Im Untertitel der Schlagzeile, die Rogelio López Cuenca als Ausgangspunkt seines Vortrags verwendete, heißt es in aller Deutlichkeit: „Das Zentrum entwickelt sich zu einem ‚Makromuseum‘ unter freiem Himmel“.[13]
Das Picasso-Museum war das erste, aber bei weitem nicht das einzige. Es folgte eine lange Reihe von Eröffnungen, und was hier in Wahrheit eröffnet wurde, war eine subtile, hinterhältige und zugleich asoziale Art und Weise, ganze Stadtteile über das Image einer kulturellen und modernen Stadt zu gentrifizieren. Diese neuen Kulturinstitutionen funktionierten symbolisch als Hauptquartier der jeweiligen Immobilienmakler, als Pilotprojektmuseen, in denen nicht die Räumlichkeit des Gebäudes zur Diskussion stand, sondern die potenzielle Rentabilität und Attraktivität der Nachbarschaft. Der deutlichste Fall ist 2003 die Eröffnung des Zentrums für zeitgenössische Kunst in Málaga (CAC) als Auslöser für die „Operation Sóho“, die als Prozess planmäßiger Gentrifizierung eine große Anzahl angesehener Street Artists anzog, die gegen Bezahlung zur Aufwertung des Stadtteils und Vertreibung seiner Bewohner_innen beitrugen, die den stark gestiegenen Mietpreisen nicht standhalten konnten. Eine Art schneller Gentrifizierung, die sich von den normalerweise länger sich hinziehenden Aufwertungsprozessen unterscheidet, welche in anderen Stadtteilen oder anderen Städten erforderlich sind. Heute ist die Heredia Ensache, die in „Sóho, Barrio de las Artes“ umbenannt wurde, die teuerste und unzugänglichste Gegend von Málaga, die zugleich versucht, dem Raum ein sorgsam luxuriöses Image zu geben. Diese Operation hat nicht nur die ehemaligen Bewohner_innen der Nachbarschaft vertrieben, sondern auch das ganze soziale Gefüge der Sexarbeiter_innen, die ihre Straßen bevölkerten. In den Worten des Bürgermeisters über die Operation waren „ihre Ziele die Erweiterung der Muelle Heredia in einen Raum der Kultur-, Geschäfts- und Freizeitattraktion für Bürger_innen und Tourist_innen, die Ausweitung und Erleichterung der Zugänglichkeit für Fußgänger_innen, die Schaffung alternativer Freizeitrouten und die Veränderung des Image der Nachbarschaft unter Schaffung eines eigenen Charakters“.[14]
Ein weiteres Beispiel ist die Eröffnung des Carmen-Thyssen-Museums im März 2011 und die mit ihr verflochtene „Operation Entorno Thyssen“, deren markanteste Komponente nicht direkt mit dem Museum zusammenhing, sondern mit einer Image-Kampagne „für“ den Stadtteil rund um das Museum, das sich direkt im historischen Zentrum befindet. Dieser war einer der historisch am wenigsten attraktiven Bereiche des Zentrums: Er hatte lange das Image einer heruntergekommenen Zone, mit all den klassischen Stereotypen des Drogenhandels, der Prostitution und des Gefühls der Gefahr. Zugleich war es ein Viertel voll von nachbarschaftlichem Leben, von lokalen Läden, in denen sich unvorhergesehene Begegnungen ereigneten, ein Platz für den curmudgeon, für diejenigen, die normalerweise keinen Platz haben, wo eine Wohnung erschwinglich, das Leben möglich war. Die Kampagne füllte dieses Viertel um das Thyssen-Museum mit rosa Fahnen mit dem Logo des Museums und drei Wörtern, die genau die Ziele der lokalen Regierung bezeichnen: „Kommerz, Kultur, Tourismus“. In kurzer Zeit veränderte die Kampagne durch eine Reihe von Zuschüssen für die Vermietung der Räumlichkeiten (ohne notwendigerweise mit Kunst oder Kultur verbunden zu sein) das Bild der Gegend völlig, als ob die Cafeteria und der Souvenirladen des Museums nicht ausreichend wären, um die Präsenz der Sammlung von Baronin Thyssen rentabel zu machen, als ob sie es in seine Umwelt hinein erweitern und den Bezirk in eine Marke verwandeln mussten, in einen weiteren Teil (des Bilds) des Museums. Wiederum wurden Kunst und Kultur als Attraktoren benutzt, Mechanismen zur Neuerfindung des Bilds der Stadt, die all das Leben und all das Unbehagen in ihr bereinigen und den Weg frei machen für die Akkumulation.
Die Operationen der Attraktion werden immer vielfältiger, die „Operation Carretería“[15] und die „Operation Lagunillas“ [16] sind voll im Gange, um die Gefügigkeit der Attraktionen in alle Ecken der Stadt auszuweiten. Diese Form der Ausweitung der Gefügigkeit, die immer auch als notwendig für die geniale Stadt präsentiert wird, ist eine unendlich erweiterbare Liste nicht nur von Museen, sondern von Distraktionen, von Annehmlichkeiten, um unendliche Attraktion (unendliche Aufwertung, unendliche Verschuldung, unendliche Antisozialität) zu erzeugen.
La Casa Invisible als unattraktive Attraktion, als Umgebung und als wirkliche Versammlung
Gibt es etwas, das unterhalb dieses Bilds der Stadt ist? Wie können wir in dieses Bild der Stadt intervenieren? Oder mit einer Frage von Fred Moten: “How do people live in the absence of that infinitely expandable list of ‘amenities’ figured as ‘necessary’? […] What is this image of the thing [that is before the city] that happens when a limited form (the city of attractions and its attendant, etiolated notion of wealth and necessity) is stripped away?” [17].
Das, was unterhalb der Stadt subsistiert, unter dem Bild der ciudad genial, spielt sich in vielen Maßstäben ab. Mitten in der Entwicklung neuer Herrschaftsformen (in) der Stadt, parallel oder vor und vor ihrer antisozialen Effekten entwickeln sich in der Umgebung und aus ihr heraus soziale Gefüge aller Größenordnungen. Zum Beispiel die Casa Invisible, seit elf Jahren selbstorganisiertes sozial-kulturelles Zentrum in einem besetzten Haus mitten im durch-touristifizierten, durch-musealisierten Zentrum Málagas, mitten im Gelände der „Operation Entorno Thyssen“. Auch so ein subsistenzielles Territorium, das in diesem Jahr massiv mit Räumung durch die Gemeinde bedroht war.[18] Im Folgenden ein Versuch der Ansammlung von Komponenten, aus denen sich die unatttaktive Attraktion im Fall der Casa Invisible zusammensetzt:
1. “it effects a kind of inhabitation”[19] Auch wenn in der Invisible das Wohnen so gut wie unmöglich ist, geht es dennoch in gewisser Weise um eine Form von Wohnen, Bewohnen, Einwohnen. Kein Wohnen in vereinzelten Häusern, isolierten Wohnungen, Zimmern ohne Ausblick, sondern ein Wohnen im ausgelagerten Wohnzimmer, in dem das Gemeinsame statt findet, seinen Platz findet, verdichtet wird. Die Invisible nimmt den Charakter eines Wohnzimmers an, das weder privat ist noch das eingehegte Eigentum einer Gemeinschaft. Ein ausfransendes Wohnzimmer mitten in der Umgebung, eine “(under)commune, against and outside and before the city”[20]. Wohnen außerhalb der Wohnung bedeutet die Neuerfindung gemeinsamen „Wohnens“, ein undercommunes Wohnen, das die Formen des Zusammenlebens in den 1960er und 1970er Jahren unter dem Namen der Kommune über- und unterschreitet. Während in den meisten Experimenten dieser Zeit die Singularitäten in der Totalität (und manchmal auch im Totalitarismus) der Gemeinschaft aufgehoben wurden, müssen die Singularitäten im partikularen Bewohnen der Invisible nichts aufgeben. Der Raum der Ein-Wohnung ist ein unsichtbares Außen der Stadt mitten in der Stadt, das mit Masao Miyoshi als „outside architecture“[21], “an architecture outside of architecture”[22] bezeichnet werden kann.
2. Zugleich ist die “outside architecture” der Invisible auch eine Architektur der Outsiders. „Outside as in before, of the attraction against attractions and amenities, of attraction in the supposedly unattractive, whose music is discomposed by the curmudgeon, the outsider, the metoikos, the fugitive, the exile, the hermit, the complainer.”[23] Das ist die zweite Ebene des Widerstands gegen die Stadt der Attraktionen, gegen die Entornifizierung – die Subjektivierungsweise, die sich nicht zufrieden gibt, aufbegehrt, aufsteht und auch gerne unattraktiv ist: Brumbär, Griesgram, Parrhesiast. Always complain, wie Moten Miyoshis Motto wiedergibt, und vor allem dann, wenn dich die Obrigkeit angreift. Und seit der Androhung der Räumung der Casa Invisible haben sich genügend curmudgeons auf den Weg gemacht und die Bedeutung des sozialen Zentrums moniert oder den Bürgermeister persönlich darauf aufmerksam gemacht. Es war manchmal eine diskomponierte Musik, die Francisco de la Torre sich da anhören musste, ein dröhnendes Grollen, eine klirrende Schrillheit, eine Dysphonie, in der die Brummbären hohe Töne von sich gaben.[24]
3. Aber der Brummbär ist eine noch viel zu individuelle Figur der Subjektivierung; der Reichtum des Lebens im subsistenziellen Territorium ist mitnichten individuelle Eignung, Eigenschaft, Eigentum. Immer schon ist die dividuelle Wunschproduktion vor der Produktion von Individuen. Sie ist überbordend, ausfransend, ausufernd; nicht einhegend und auf Identität und festgelegte Gruppen oder Gemeinschaften bezogen: „The attraction of the unattractive moves in another ecology.“[25] Was attraktiv wirkt, liegt nicht im Auge des Betrachters, die Attraktion des Unattraktiven ist nicht nur eine Frage der Wahrnehmung. Es geht um eine relationale Form des Attrahierens, der maschinischen Umhüllung, eine gänzlich andere Ökologie. Die Mechanismen von Marke und Marketing, Image und Branding durchquerend, fügt sie sich nicht den vorgeschriebenen Bahnen und Zonierungen, sondern bahnt ihrer ungefügigen Sozialität den je eigenen Weg. Un/gefüge ist beides: der Ungehorsam gegenüber der gefügigen Stadt der Attraktionen, und das neue Gefüge und seine dividuellen Linien der unattraktiven Attraktion.
4. Die Umgebung umgibt nicht etwas, sei es ihren identitär-vermarktbaren Kern (Entorno Thyssen) oder ihr gegnerisches Fort (das Ayuntamiento, das die Invisible belagert, das Wasser absperrt, immer massiver mit Räumung droht), sie geht überall hindurch, transversal, umhüllend. Meistens ist die Umgebung unsichtbar, doch manchmal zeigen sich ihre konkreten Spuren und Spitzen. Die Umgebung der Invisible bewies sich zuletzt eindrücklich in der Teilnahme an den beiden großen Demonstrationen im März und Juli 2018, die quantitativ beeindruckten (und damit eine nicht allein räumliche, sondern auch eine weitere soziale Umgebung verdeutlichten), aber auch und vor allem durch die Qualität und performative Intensität, sogar in den Fluten des Unwetters, das die erste der beiden überraschte. Und auch die vielen kleinen Aktivitäten und Aktionen und Attraktionen des vergangenen Jahres blieben keineswegs auf einen Kern von Aktivist_innen beschränkt. Am deutlichsten verdichtet sich die diffuse Umgebung des subsistenziellen Territoriums mit seinen unendlichen Mannigfaltigkeiten allerdings in der Versammlung: „the real assembly or assemblage that is present outside and underneath the city’s absence.”[26] Wenn die Stadt abwesend ist, oder nur sichtbar wird als Stadt des Ein-/Ausschlusses durch Bürgerschaft, als gefügige Stadt, als Stadt der Attraktionen, aktualisiert sich die Anwesenheit der Un/gefüge vor allem in der Versammlung, der wirklichen Versammlung, wie sie schon Marx genannt hat[27], konkret den hunderten Versammlungen, die gerade im Lauf des Jahres 2018 in der Invisible stattfanden. Dort, in den geduldigen Auseinandersetzungen und Begegnungen, inmitten von radikaler Inklusion, affirmativen Gesten, emotionaler Einmischung, Geduld und Beharrungsvermögen, entfaltet sich die Umgebung über, unter und um die Stadt der Attraktion.
Überleben/subsistieren unter dem alltäglichen Bild der Stadt
In Málaga ist das Bild der Stadt (das Bild von) Picasso. Dies zeigt sich sehr gut in der prozessualen Arbeit von Rogelio López Cuenca mit dem Titel „Picasso überleben“. Die offizielle Erzählung ist so stark, dass der Alltag der Stadt und des Stadtbilds nicht nur die Attraktionen der genialen Stadt und ihre endlosen Annehmlichkeiten übernommen, sondern auch im Alltäglichen eine Dimension der Prekarität bewirkt hat, die die Existenz als Über-/Erleben betrifft. Über-/Erleben als neoliberales Vorrecht des „Rette sich, wer kann, was immer es koste“, und zugleich als die Existenz, die sich aus Erleben speist, also aus Erfahrungen, die wir auf dem Markt konsumieren können, den das Bild der Stadt und die Stadt uns bietet.
Unter diesem Bild, tief unten, in Kontakt mit den Schatten und dem Hell-Dunkel jeder Bar, die schließt[28], jedes vernachlässigten Stadtteils, jeder Nacht, die spät wird, jedes Morgens, den man nächtens aufsteht, durch all dieses Hell-Dunkel hindurch gibt es eine andere Alltäglichkeit, die nicht dank des harten Licht des Tages und seiner atemberaubenden Attraktionen ertragen wird, sondern in der Sanftheit der Nacht subsistiert, in der queer-feministischen Sorge des Subcommunen, in der Sozialität der Umgebung, im „Nachtleben, das kein gutes Leben“[29] ist, im Allnachtsleben, im allnächtlichen Leben. Diese Allnächtlichkeit hat mit der Nacht zu tun, mit jeder Nacht, mit dem Allnachtsleben, aber es ist nicht nur eine Frage der Tageszeit oder der Menge an Licht, es hat vielmehr mit einer anderen Art und Weise zu tun, Zeit, Präsenz und Klarheit zu verstehen. Es sind diejenigen, die unsichtbar die Straßen und ihr Leben aufrechterhalten, bevor der Tag beginnt, aber auch diejenigen, die sich im Verborgenen verschwören, wenn die Nacht hereinbricht, um sie zu subvertieren. Das Allnachtsleben umgibt das falsche Bild der Stadt, um es zu entsiedeln, es ist immer da, vor und vor der Stadt, um die Attraktionen herum, die versuchen, es zu zerstören.
In Rogelio López Cuencas Arbeit ist Überleben nicht nur eine Frage des Über-/Erlebens, es ist viel mehr. Das Überleben steht hier im Zusammenhang mit dem, was subsistiert und zugleich resistent, insistierend und persistent ist angesichts der Stadt und des Bilds der Stadt. Picasso zu überleben bedeutet weiter und tiefer als (das Bild von) Picasso zu gehen, vor und vor die Stadt, sich mit dem, was unter der Attraktion des Über-/Erlebens von Picasso subsistiert, zu bewegen. Das Allnachtsleben ist das, was den Alltag überlebt, die schillernde Klarheit der genialen Stadt. Die „Operation Sóho“ war ein klarer und eindeutiger Versuch, alles auszurotten, was nicht zum neuen Image des genialen Stadtviertels passte. Die Sexarbeiter_innen waren Staatsfeind Nummer eins, die Stadtregierung erließ eine kommunale Verordnung gegen sie und verbot die Straßenprostitution, vertrieb sie in die vorstädtischen Gewerbezonen, kriminalisierte ihre Aktivitäten und verstärkte ihre Marginalität immer weiter. Rogelio López Cuenca trug eine Intervention um diese auf (dem Bild) Picasso aufbauenden Erzählung der Stadt und des Bilds der Stadt zusammen, mit konkretem Bezug auf Picassos Les Demoiselles d'Avignon von 1907, das als Repräsentation der Marginalität der Prostitution und ihrer Schattenseiten bekannt wurde. Das in diesem Zusammenhang entstandene Plakat mit einigen der Demoiselles d'Avignon und dem Schlagwort ‚Spantalo, weil du es verdienst‘, bezieht sich auf das Bordell ‚Scandalo‘ und seinen bekannten Slogan ‚weil du es verdienst‘: Das Bordell, das von ‚ehrenwerten Herren’, die nicht gesehen werden wollen, stark frequentiert wird, rückt die Heuchelei von ihren Aktionen gegen die Sexarbeiter_innen im öffentlichen Raum in den Vordergrund, wo ihre bloße Anwesenheit denselben 'ehrenwerten Herren' grotesk erscheint. „Die alte Quelle, die nie versiegt: die Ausbeutung des Bildes der Ausgeschlossenen [...] der Hure, die wir nur wollen, wenn sie eingefroren ist im Rahmen des Museums, schweigend, passiv, durch den Künstler und sein Genie zum Thema gemacht.“ [30] Der nächste und noch interessantere Schritt der Intervention war ein Protest von Sexarbeiterinnen, in dem sie die Gesichter der Demoiselles d'Avignon als Masken benutzten und betonten, dass Picasso nicht gezögert hätte, sich für ihre Sache einzusetzen. Damit wird der sesshafte Diskurs (des Bilds) untergraben, der sie dafür verurteilt, das Leben da unten unsesshaft zu machen, sie für ihr Allnachtsleben verurteilt. Zugleich setzen sie den Körper in der Intervention tagsüber ein, zeigen die Gesichter, die es sonst nicht außerhalb des Museums und des Bordells zu sehen gibt. Der allnächtliche Skandal geht in Form des Grauens auf die Straße und erschreckt nur deshalb, weil er ein Un/gefüge im normativierten Alltag ist.
Hier sehen wir, wie unter dem falschen Bild der genialen Stadt das Allnachtsleben subsistiert, die verletzliche Sozialität auch der Nachtarbeiterinnen, die nicht nur ein Risiko eingehen, weil sie allnächtlich ihre Körper auf der Straße aussetzen, sondern auch weil sie von der Polizei verfolgt werden, die jede Flucht aus dem normalisierten Alltag überwacht. Sie sind Ausdruck des Subcommunen, das von der Härte der Alltagsstadt und ihres Bildes angegriffen wird, dafür, dass sie versuchen, im Alltag der genialen Stadt zu überleben / zu subsistieren. Ihnen schließen sich eine unendliche Vielfalt von sozialen Maschinen an, die im Allnachtsleben subsistieren, das, wie die Zapatisten erinnern, von weit her kommt, aber keine Zukunft hat, anonyme Leben, in der Umgebung jeder Nacht enteignet. Das Allnachtsleben bewohnt ein aufständisches subsistenzielles Territorium, es will alles für alle, und zugleich will es nichts haben, wie in den Worten von Subcomandante Marcos in der langen Nacht der 500 Jahre: „Wir sind in der Nacht geboren. In ihr leben wir. Wir werden darin sterben. [...] Für uns der Schmerz und die Angst, für uns die freudige Rebellion, für uns die negierte Zukunft, für uns die rebellische Würde. Für uns nichts.“[31] Die Selbstenteignung als Antidot nicht nur gegen die Enteignung, sondern auch gegen die Selbstaneignung, gegen jede Produktion des Eigenen, vom Eigentum bis zur Identität. Das ist, noch einmal mit Fred Moten, „the critique of possession that only the dispossessed can make“[32], und die wir sogar in Picassos Gemälde erkennen konnten, sicherlich nicht wegen seines Genies, sondern weil darin eine Wiederaneignung der subsistierenden Allnächtlichkeit und ihres Bilds aufblitzt, die jede Nacht in den Straßen präsent ist, um und unter und vor und vor der Stadt der Attraktionen.
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[1] Insofern ist es wahrscheinlich auch geraten, sich nicht allzu euphorisch auf eine Wiederaneignung gerade der Stadt zu beziehen (vgl. z.B. die verdienstvolle Bewegung „Recht auf Stadt“, deren Name allerdings doppelt problematisch ist – in ihrem Fokus auf das Juridische wie in der unkritischen Aufnahme des Konstruktes Stadt).
[2] Vgl. die Praxis der teilweisen Aufgabe und des Rückzugs aus der privaten Wohnung im Geschäftsmodell von Airbnb. S. z.B. Christian Berkes (Hg.), Welcome to Airspace, Berlin: boto press 2017.
[3] Fred Moten, Black and Blur, Durham: Duke University Press 2017, 191.
[4] Danke an Gil Scott-Heron für diesen – heute noch mehr als in den 1970er Jahren – treffenden Ausspruch. Und immer noch gilt: The Revolution Will Not Be Televised.
[5] Für Immobilienspekulant_innen sind genau dieselben Stadtteile möglicherweise die heißesten finanziellen Attraktionen.
[6] Moten, Black and Blur, 188.
[7] Für eine weitere abweichende Interpretation der Attraktion im Kontext der sowjetischen Avantgarde der frühen 1920er Jahre (vor allem Trejakov und Eisenstein, „Theater der Attraktionen“ und „Montage der Attraktionen“), vgl. Gerald Raunig, Art and Revolution, Los Angeles: Semiotext(e) / MIT 2007, 149-162: „Theater Machines against Representation. Eisenstein and Tretyakov in the Gas Works).
[8] Moten, Black and Blur, 187.
[9] Ebd. “the city’s underconceptual, undercommunal underground and outskirts”.
[10] Zitiert ebd., 185.
[11] Ivan Murray (2015), Capitalismo y turismo en España.
[12] https://transversal.at/blog/Invisible-is-here-to-stay
[13] Not so far away from the image that was painted by Brian Holmes nearly 15 years ago about the last of three steps in the expansion of the museum into the city: https://transversal.at/transversal/0504/holmes/en (also existing sp/de): “Imagine a six-story multiplex with reception and ticketing facilities, cinemas, conference and performance halls, media and information centers, libraries, book and gift shop, cafeteria, restaurant/bar and, of course, exhibition galleries: it's the Pompidou Center in Paris. Distribute these functions inside a huge enclosed courtyard, with multiple buildings and all the attractions of an architectural promenade: it's the MuseumsQuartier in Vienna. Scatter them further within a renovated city whose traditional festivals and contemporary intellectual life can be reprogrammed as events in a tourist calendar: it's the entire municipality of Barcelona. The welfare states may be shrinking, but certainly not the museum. The latter is rather fragmenting, penetrating ever more deeply and organically into the complex mesh of semiotic production.”
[14] https://www.laopiniondemalaga.es/malaga/2011/02/11/soho-malaga-cerca/401196.html
[15] En calle Carretería es donde mejor se pueden apreciar los efectos de la profesionalización de AirBnb (https://www.eldiario.es/economia/Airbnb-Espana-anfitriones-gestionan-alojamientos_0_806669478.html), a través de compañías financiero-inmobiliarias que compran edificios enteros para su explotación turística, así como la sustitución de una heterogeneidad de comercios locales por la homogeneidad plástica de las infraestructuras de la acumulación turística (consignas, segways, lavanderías, muffins, etc.). La explotación turística no es solo el vaciamiento de las viviendas (sustituidas por habitáculos turísticos) sino también explotación laboral mediante el vaciamiento de los derechos laborales y de la extensión de la precarización. Como por ejemplo aquí: http://malaga.cnt.es/spip.php?article1174
[16] En el caso de la operación Lagunillas si que podemos ver un proceso más clásico de gentrificación, donde una zona se mantiene descuida para que se deteriore y atraer a las clases creativas para revalorizar el territorio y después expulsar a la vecindad revalorizando el suelo. Aunque en este caso no ha sido directamente atrayendo a las clases creativas sino la propia vecindad expresándose en sus muros y conforme avanza la presión especulativa, los mensajes se van politizando más y más. Véase https://transversal.at/transversal/0318/ruiz/es y https://transversal.at/transversal/0318/raunig/es
[17] Moten, Black and Blur, 188.
[18] Vgl.https://transversal.at/blog/Invisible-is-here-to-stay, http://lainvisible.net/es/node/640, https://www.diariosur.es/opinion/invisibilizar-censura-peligros-20180715000209-nt.html y http://lainvisible.net/es/node/785.
[19] Moten, Black and Blur, 190.
[20] Ebd., 191.
[21] Ebd., 190.
[22] Ebd., 191.
[23] Ebd., 191.
[24] Intervención performática de La Invisible en el acto de clausura del Festival de Cine de Málaga en abril de 2018: https://www.youtube.com/watch?v=zVhcHrlQBis con la canción «Gallo negro, gallo rojo» de Chicho Sánchez Ferlosio. Escrache de las superheroínas invisibles al Alcalde de Málaga en la Feria, en agosto de 2018: https://www.youtube.com/watch?v=DQsQr_U3ndw. Fandango leído por las superheroínas invisibles en el Ayuntamiento de Málaga en la manifestación contra el desalojo el 19 de julio de 2018: https://www.youtube.com/watch?v=xW4sRmhCE3Q.
[25] Moten, Black and Blur, 191.
[26] Ebd.
[27] zitiert ebd., 185: “the commune, on the one side, is presupposed in-itself prior to the individual proprietors as a communality of language, blood, etc., but it exists as a presence, on the other hand, only in its real assembly for communal purposes.”
[28] https://www.diariosur.es/malaga-capital/declive-noche-alternativa-20180805002909-ntvo.html
[29] Moten/Harney, The Undercommons, 19.
[30] Texto parte del proyecto Surviving Picasso de Rogelio López Cuenca.
[31] Cuarta Declaración de la Selva Lacandona, en enero de 1996: http://enlacezapatista.ezln.org.mx/1996/01/01/cuarta-declaracion-de-la-selva-lacandona/
[32] Moten, Black and Blur, 192.