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07 2025

Im Kielwasser der Gewalt

Belinda Kazeem-Kamiński und Niki Kubaczek im Gespräch

Belinda Kazeem-Kamiński, Niki Kubaczek

(NKHaunting ist der letzte Begriff in deiner Videoarbeit Unearthing. In Conversation (2017), in der du dich mit den Fotografien des Österreichisch-Tschechischen Ethnographen und Missionar Paul Schebesta auseinandersetzt. In dem Begriff Haunting klingen unterschiedliche Ebenen der Arbeit mit einer kolonialen Vergangenheit, die die Gegenwart heimsucht, an. Eine Ebene des Begriffs Haunting bezeichnet, würde ich meinen, eine gewisse Unmöglichkeit der Sachlichkeit und der Souveränität in dieser Arbeit. Du hast darüber in einem anderen Text bereits gesprochen: du merkst, wie du von der Jagd auf Paul Schebesta selbst heimgesucht wirst. Was bedeutet das für dich: eine Arbeit zu machen, die man nie ganz los wird; wenn man merkt, man wird verfolgt von einer gewissen Auseinandersetzung, bei der du ursprünglich meintest, dass du diejenige bist, die sie führt; und nicht umgekehrt? Wir sprechen hier somit über etwas, was sich nicht abschütteln lässt. Das hat schon etwas Unheimliches, vielleicht auch etwas Beängstigendes, oder?


(BK) Ja, das stimmt schon, aber für mich ist es nicht so, dass mir das Angst macht, zu bemerken, dass ich von etwas verfolgt werde, sondern es weckt mein Interesse; es bringt mich dazu, innezuhalten, um genauer hinsehen zu können, womit ich es hier zu tun habe. Die Auseinandersetzung mit dem, was mich nicht loszulassen scheint, ist weniger Fluch, sondern vielmehr Möglichkeit. Worum es mir hier geht, ist das Innehalten und Aufmerksam-Sein für das, was da in mir passiert – nicht, weil es speziell um mich geht, weil ich so wichtig bin; das ist nicht das Ding, so ein Mimimi – Nein, sondern es geht um die Aufmerksamkeit für die Prozesse, die durch dieses oder jenes angestoßen und ausgelöst werden. Vielleicht ist das hier ein leises Plädoyer für die Entwicklung einer Aufmerksamkeit für das, was uns verstört; für das, von dem wir noch gar nicht wissen, was es ist; nur dass da etwas ist, was uns nicht loslässt, das wissen wir.

Das Interesse am Innehalten ist auch der Grund dafür, dass die meisten Arbeiten von mir relativ langsam sind. Die sind immer so, dass du dir denkst: Naja, es könnte schon auch ein bisschen schneller gehen. Geht es aber nicht. Genau um dieses Bleiben, Da-Bleiben, Dabei-Bleiben, auch, wenn es dich nach dem Weitergehen zieht, geht es mir.


(NK) Die Langsamkeit, von der du hier sprichst, ist somit keine allgemeine Langsamkeit, sondern eine spezifische Langsamkeit, ein konkretes Innehalten; nämlich genau da, wo es nahe liegen würde, rauszugehen, abzuhauen; vielleicht auch ein Genau-da-sitzen-Bleiben, wo das Eine-Seite-Einnehmen der Imperativ der Stunde bzw. dieser Sekunde, der Gegenwart ist, oder? Sitzenbleiben, genau dann und dort, wo das Sitzenbleiben vielleicht genau das ist, was in dem Moment und an diesem Ort am aller Entferntesten liegt.

Ich möchte noch einmal zu deiner Videoarbeit Unearthing. In Conversation zurückkehren. Zu Beginn deines Videos deklarierst du: „This is in conversation with those that were.“ Das Gespräch, die Conversation, die deiner Arbeit den Namen gibt, und damit auch das Gespräch, das wir hier führen, dreht sich also auch um eine gewisse Unmöglichkeit; um ein unmögliches Gespräch, nämlich um ein Gespräch mit jenen, die nicht mehr da sind. Es geht somit um ein Gespräch mit jenen, die viel zu erzählen hätten über das Erleben der kolonialen Gewalt, den groß angelegten oder den unscheinbaren Widerstand gegen die koloniale Gewalt und die koloniale Ausbeutung; auch um ein Gespräch mit jenen, die uns den Spott über die Idiotie der sowohl selbstverliebten wie auch nicht-wissenden Missionar*innen, Ethnograf*innen und Völkerschaubesucher*innen näherbringen könnten; um hier kurz auf eine andere Arbeit, Yaarborley Domeïs Brief (2021), zu verweisen. Würdest du meiner Einschätzung zustimmen, dass es in deiner Videoarbeit Unearthing. In Conversation zentral um ein Gespräch mit dieser Unmöglichkeit geht; beziehungsweise um ein Gespräch darüber, wie – um hier eine schöne Formulierung von Derrida zu verwenden – der Unmöglichkeit eine Möglichkeit abgerungen werden kann?


(BK) Ja, Unearthing. In Conversation dreht sich ganz viel um die Unmöglichkeit; genauer gesagt, die Arbeit ist das Dokument eines Scheiterns. Ich trete mit dem unbedingten Wunsch an, irgendetwas mit diesen Bildern zu machen, was diese Gewalt, die ich in diesen Bildern sehe und die Gewalt, die die Begegnung mit diesen Bildern ausmachte, als ich sie das erste Mal zu Gesicht bekam, auflösen könnte. Je länger ich mit den Bildern arbeite, desto klarer wird mir, dass egal, was für eine Strategie ich anwende, ich diese ins Material eingelassene Gewalt nicht loswerde. Deshalb hört die Arbeit auch mit dem Begriff Haunting auf, weil das der Hinweis darauf ist, um was es eigentlich eher gehen wird: um die Überreste der Vergangenheit; oder: wie die Vergangenheit immer wieder in der Gegenwart hochkommt. Das bedeutet, dass das alles prozessuale Dinge sind, über die wir hier sprechen; Schleifen, die nicht unbedingt ein finales Produkt, ein Ende haben, sondern ongoing sind.

 

(NK) Bedeutet diese Betonung des Unabgeschlossenen und des Unabschließbaren für dich eine Negation des Ankommens, eine Abwendung von der Vorstellung eines Zuhauses? Ich frage, weil sich das Ankommen und das Zuhause aufdrängt, wenn wir Haunting als Heimsuchung, im Sinne einer Suche nach einem Zuhause bzw. einem Ort des Ankommens übersetzen. Die Heim-Suchung – die Heimsuchung mit Bindestrich, mit der du dich ja auf Nicola Lauré al-Samarais Arbeit an diesem Begriff beziehst – die auch im Namen deines Katalogs H(A)UNTINGS / HEIM-SUCHUNGEN (Sternberg Press 2023) steckt, hebt diese Suche nach dem Zuhause noch einmal stärker hervor als die Heimsuchung ohne Bindestrich. Gleichzeitig sprichst du dich im Nachwort auch kurz gegen die Vorstellung des Ankommens und gegen das Zuhause aus und forderst an dieser Stelle im Text stattdessen ein fortdauerndes commitment ein. Ein commitment zu was?


(BK) Ich glaube, das, was ich mit commitment meine, wäre tatsächlich ein commitment dazu, immer wieder unseren Bezug zu bestimmten Gewaltgeschichten herausfinden zu wollen. Das ist auch das, was Christina Sharpe meint, wenn sie von wake work spricht. Es ist kein Zufall, dass sie hier das Wort Work verwendet, denn es handelt sich bei dieser Erinnerungsarbeit um Arbeit; um eine Aufgabe: was bedeutet diese Vergangenheit für mich im Hier und Jetzt? Die Arbeit mit dieser Frage fordert sie von uns, statt einfach nur zu übernehmen, wie Generationen vor uns definiert haben, was bestimmte Dinge oder Ereignisse für uns bedeuten sollen. Wake work ist ein Begriff, den Sharpe in ihrem Buch In the Wake. On Blackness and Being (2016) entwickelt. Sie führt den Begriff im Umfeld der Erzählung über ihre Familie ein; genauer gesagt über eine Zeit in ihrem Leben, in dem sich ein Todesfall an den anderen reihte. Wake steht hier einerseits für die Spur, die Schiffe nach sich ziehen; seien es Schiffe, mit denen im Hier und Jetzt Menschen versuchen, entgegen den Bestrebungen des europäischen Grenzregimes, das Mittelmeer zu überqueren; oder Schiffe, die versklavte Schwarze Menschen verschleppten. Sharpe spricht hier auch über das Wasser und darüber, wie lang Menschen, versklavte Menschen, die entweder über Bord geworfen wurden oder vielleicht selbst auch gesprungen sind, noch in diesem Meer sind. Das ist eine Ebene von wake; die wir als Nachlaufströmung oder Kielwasser übersetzen können. Von dieser Nachlaufströmung, the wake spricht Sharpe des Weiteren im Zusammenhang mit einer abgefeuerten Kugel, was uns ermöglicht, über Polizeigewalt zu sprechen, die eine wichtige Rolle im Leben Schwarzer Menschen spielt. Dann gibt es da noch, wie sagt man das; to sit in a wake, also wenn eine Person stirbt, aja, eine Totenwache. Diese Bedeutungsebene von the wake verwendet Sharpe als Möglichkeit, um über die Beziehung Schwarzer Menschen zum Tod nachzudenken. The Wake ist somit eine Metapher, die für viele Dinge Schwarzen Lebens anwendbar sind. Ich liebe das Buch sehr, muss ich sagen.


(NK) Zusätzlich beschreibt ja wake work auch eine gewisse Aufmerksamkeit dafür, dass selbst in Situationen von exzessiver und vermeintlich totaler Gewalt und Beherrschung Schwarzes Leben in einer Form des Nichtregierbaren besteht, oder? Du zitierst in H(A)UNTINGS / HEIM – SUCHUNGEN Christina Sharpe, die davon spricht, dass es in Situationen der Unterwerfung nie nur Unterwerfung, sondern immer auch noch etwas anderes als nur die Gewalt gibt.


(BK)  Na klar, wie sonst lässt sich Jazz verstehen? Ich finde, sie beschreibt es in dem Buch auch wirklich sehr schön; wie ihre Mutter, trotz des knappen Geldes, mit dem sie aufgewachsen sind, immer wieder diesen Sinn für Schönheit zeigte und für das Schaffen schöner Momente für die Familie. Dieses Vermögen sehe ich in vielen Praktiken, die aus der Schwarzen Community bzw. aus der afrikanischen Diaspora stammen. Ich glaube, dass es wichtig ist, diese Gleichzeitigkeit im Blick zu behalten; beides gleichzeitig anzuschauen, weil das auch miteinander etwas tut; das bedingt sich auch irgendwie. Ich glaube bell hooks hat das mal gesagt, dass es ihr, wenn sie über den margin, den Rand schreibt, wichtig ist zu sagen, dass es hier nicht um eine Romantisierung geht, sondern um eine Aufmerksamkeit dafür, was diese Position auch vermag...


(NK) Mich erinnert das, was du sagst, stark an die These der Autonomie der Migration, wo es um eine sehr ähnliche Perspektivierung geht. Die Bewegung von Menschen, denen diese Bewegung nicht erlaubt ist – die Migration – ist nichts, was einfach der Regierung unterworfen wäre oder lediglich ihr Opfer ist, sondern – im Anschluss an Überlegungen aus dem operaismo, wo ja ebenso eine Vorgängigkeit, eine gewisse Autonomie der Arbeiter:innen im Zentrum steht – es ist das, was der Regierung zuvor kommt und ihr erst ihren Anlass gibt. Der Widerstand ist das, was zuerst da ist. Wie bei wake work geht es auch bei der These der Autonomie der Migration um die Entwicklung einer Aufmerksamkeit für und ein Wahrnehmen von dieser Nichtregierbarkeit und Nichtunterworfenheit; dieser zumindest partiellen Nichtunterworfenheit. Nicht zuletzt wird auch hier immer wieder gefordert, die Aufmerksamkeit dürfe nicht mit der Romantisierung verwechselt werden; was ja vielleicht auf eine gewisse Verwechselbarkeit hindeutet.

Die Forderung nach Aufmerksamkeit für die Widerständigkeit könnten wir ja auch leicht als die Forderung nach Sichtbarkeit für die Widerständigkeit, die Sichtbarkeit für die widerständigen, marginalisierten Subjekte umschreiben. Vor allem vor dem Hintergrund kolonisierter, versklavter Subjekte, die nicht nur ausgebeutet und ermordet wurden, sondern darüber hinaus auch noch ihrer Sichtbarkeit auf allen Ebenen beraubt wurden, würde ein Plädoyer für mehr Sichtbarkeit der Unsichtbar-Gemachten naheliegen. Viele deiner Arbeiten scheinen jedoch auf die gegenteilige Forderung hinauszulaufen: Neben den Fotografien von Schebesta setzt du dich auch noch in weiteren Arbeiten mit der Sichtbarkeit als Zurschaustellung auseinander, nämlich in deiner Arbeit mit einer sogenannten Völkerschau im Wiener Prater, in dem dem Wiener Publikum dargeboten werden sollte, wie das Leben im Alltag der Ashanti aussieht. Mehr noch als mit dieser Zurschaustellung im Prater beschäftigst du dich jedoch mit der rassifizierten und sexualisierten Darstellung der Schwarzen Performer:innen im Roman des Österreichischen Schriftstellers Peter Altenberg. Auch hier ist die Sichtbarkeit wieder etwas, der es gilt zu entkommen. Nicht zuletzt hast du dich bereits vor zehn Jahren mit der rassistischen und entwürdigenden Zurschaustellung der sterblichen Überreste eines Menschen auseinandergesetzt, der als Angelo Soliman bekannt wurde. Vor dem Hintergrund all dieser extrem gewalttätigen Formen des Sichtbarmachens, Ausstellens und Exponierens, stelle ich mir die Frage: würde die widerständige Kraft somit nicht eigentlich viel mehr in der Unsichtbarkeit stecken als in der Sichtbarkeit?


(BK) Immer, wenn es um die Frage von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit geht, muss ich an Araba Evelyn Johnston-Arthur denken, weil sie das einmal so schön auf den Punkt gebracht hat: Schwarze Menschen sind einerseits unsichtbar als selbstbestimmte Subjekte – diese Aussage ist jetzt schon länger her und vielleicht muss sie heute etwas angepasst werden; nach dem Mord an George Floyd hat sich schon etwas getan. Heute werben wir auf der Straße für alles, von Binden bis Kreditkarten. Für manche Leute wäre jetzt alles gelöst; denn wir sind so präsent, wie wahrscheinlich noch nie. Andererseits – und das war der zweite Punkt von Araba Evelyn Johnston-Arthurs Aussage, der nach wie vor zutrifft – sind Schwarze Menschen schon lange sehr sichtbar, wenn wir an Stereotype denken.

Die Frage der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit ist somit sehr ambivalent, denn weder die Sichtbarkeit noch die Unsichtbarkeit ist die Lösung. Das sage ich auch als eine Person, die in Österreich aufgewachsen ist und sich von klein an bewusst war, dass sie ständig eine gewisse Sichtbarkeit hat und sich deshalb immer wieder auch einfach Unsichtbarkeit gewünscht hätte. Gleichzeitig war ich in bestimmter Hinsicht auch sehr unsichtbar, bestimmte Teile von mir wurden nicht gesehen und anerkannt, da ich durch eine Brille beobachtet wurde, die manche Dinge nicht durchgelassen hat.


(NK) Das Gespräch, das wir hier führen, wird in einem Buch erscheinen, in dem es um plurales Erinnern geht; also um ein Erinnern von unterschiedlichen Geschichten der Gewalt, der Unterdrückung und der Ausbeutung. Worin siehst du die Schwierigkeiten und wo siehst du die Möglichkeiten, unterschiedliche Vergangenheiten zu erinnern, ohne die unterschiedlichen Unterdrückungsgeschichten in Konkurrenz zueinander anzusiedeln? Und vielleicht als Nachsatz: Wie lassen sich in solch einer transversalen Erinnerungspraxis die unterschiedlichen Grade der Anerkennung beziehungsweise die unterschiedlichen Grade der Sichtbarkeit dieser verschiedenen Gewaltgeschichten trotzdem besprechen, ohne jedoch in die Logik der Konkurrenz zu geraten?

Wir hatten ja vorhin, als das Aufnahmegerät noch nicht gelaufen ist, schon über diese Frage gesprochen; und du hast hier meiner Meinung nach schon eine Antwort darauf gegeben, die ich jetzt probiere zu paraphrasieren: Du hattest über das Innehalten gesprochen; auch vorhin kein allgemeines Innehalten, sondern über das Innehalten in genau jener Situation, in der wir aufgerufen sind, möglichst schnell eine Seite zu beziehen. Mir kommt vor, dass in deinen Überlegungen, in deinen Interventionen und in deiner Arbeit, dieses Begehren, diese Notwendigkeit immer wieder eine wichtige Rolle spielt: in Situationen, in denen ein Entweder-Oder angesagt ist, du dann aber sagst: du verharrst jetzt hier vorerst einmal – in dieser doch eher unangenehmen Situation des Nicht-Seite-Beziehens – und hältst mal inne, um dich, vielleicht, der Arbeit des Ausbuchstabierens zuzuwenden?


(BK) Wir leben heute in Gesellschaften, wo viele Geschichten zusammenkommen. Das ist auch gut so, aber es macht das Ganze einfach komplexer. Das heißt auch, dass es nicht die eine Antwort auf die von dir aufgebrachte Frage gibt; und das sage ich nicht, weil ich denkfaul bin, sondern weil ich tatsächlich glaube, dass es sie nicht gibt.  Es gibt Grenzen meiner Erfahrung und meines eigenen Wissens. Ich glaube, es lässt sich auch nicht alles anlesen. Alleine die Antwort auf die Frage, warum ich mich mit diesem Konflikt auseinandersetze und nicht mit einem anderen, kann von anderen Menschen leicht als Wertigkeit gelesen werden. Darüber hinaus gibt es ein manchmal latentes, manchmal explizites Verbot, Dinge zu vergleichen, so als ob vergleichen ‚nivellieren‘ und ‚Dinge unsichtbar machen‘ hieße; im Speziellen, wenn es um ohnehin marginalisierte Geschichten geht. Ich glaube, Meron Mendel spricht auch über die Schwierigkeit sowie die Notwendigkeit des Vergleichens. Denn wie sonst kommen wir ins Gespräch, wenn nicht auch über das Vergleichen? Wenn du beispielsweise ein Thema auf den Tisch bringst und ich bringe ein anderes Thema auf den Tisch, dann müssen wir ja irgendwie einen common ground für unser Gespräch finden. Dieser common ground sind die Bezüge, die wir zwischen den beiden Themen herstellen können. Bezüge müssen nicht unbedingt Gemeinsamkeiten sein; aber es braucht Andockpunkte, die das Miteinander-Sprechen erlauben. Das Gegenteil ist dann oft der Fall: die Hierarchisierung der Themen.

In Wahrheit, habe ich keine Ahnung, wie das auflösbar ist. Ich glaube, es ist wirklich etwas, was erprobt werden muss. Immer und immer wieder. Es gibt dafür kein Rezept. Ich sage das nicht, um zu sagen, dass es nicht möglich ist. Sondern ich glaube, wir müssen darum kämpfen, dass es möglich ist. Ich denke in letzter Zeit viel über den Horizont nach; als das, was mir dabei hilft, mich auszurichten, der aber gleichzeitig nicht erreichbar ist. Wir wollen ins Gespräch kommen, wir wollen im Gespräch miteinander bleiben; das ist vielleicht der Horizont.

Das ist kein Massenphänomen, das ist nicht etwas, das ich mit 100 Menschen haben kann. Das ist ganz mühsame, kleinteilige Arbeit, die natürlich wachsen kann; und es ist persönliche Arbeit. Es ist eine Art von Arbeit, die nicht am Handy passieren wird, ebenso wenig über das Versenden eines Newsletters, sondern: Im Interpersonellem, zusammen mit mehreren Leuten in ein und demselben Raum, die ein bestimmtes commitment zueinander haben, ein bestimmtes Warum teilen.

Denn das ist schon auch eine Frage: Warum eigentlich sich diese Arbeit antun? In Wahrheit gibt es keine Alternative, wenn wir versuchen wollen, irgendwas zu verändern. Das ist der Grund. Diese Arbeit hat jedoch auch eine Bedingung: dass wir an etwas anderem als an der Konkurrenz interessiert sind, an etwas anderem als auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, um von sich behaupten zu können, die Person zu sein, die moralisch handelt, während alle anderen unmoralisch sind. Da geht es glaube ich tatsächlich auch um eine ganz andere Art des Umgangs miteinander. Das klingt alles so ein bisschen hippiemäßig, darauf will ich eigentlich nicht hinaus. Aber ja, wir müssen einen Umgang mit Unvereinbarkeit und Ambivalenz finden; und zwar nicht nur mit jener Ambivalenz, die uns gefällt, sondern wirklich mit den Dingen, die uns auch mal wirklich nicht passen. Ambivalenz ist ja schon länger immer wieder Thema in unseren Kreisen. Mir scheint, es geht aber in der Regel nur um Ambivalenz, wenn es gerade lustig ist; nicht dann, wenn es gerade echt unlustig ist und es um eine wirklich unangenehme Ambivalenz geht; dann also, wenn mir ein politischer Standpunkt überhaupt gar nicht passt.

Dafür braucht es natürlich nochmal etwas Größeres, das wichtiger ist als das Bestehen auf meinem Standpunkt; etwas, das der Grund dafür ist, mich dieser anstrengenden Arbeit zu widmen und die Frage zu stellen: Wie machen wir uns das jetzt aus; oder wie tun wir damit, dass dein Bezug zu einem bestimmten Konflikt durch deine Geografie oder durch was auch immer wirklich diametral zu meinen ist? An die Möglichkeit, dass so etwas geht, will ich glauben.


(NK) Ich hab das Gefühl, das, worüber wir hier sprechen, hat schon auch grundsätzlich mit linkem Denken zu tun hat: linkes Denken oder emanzipatorisches, kritisches Denken basiert auf der Unterscheidung zwischen Unterdrückten und Herrschenden. Bei etwas genauerer Betrachtung bemerken wir, wie unterkomplex diese Unterscheidung ist, weil je nach Kontext unterschiedliche Standpunkte, unterschiedliche Subjekte manchmal in der mächtigen und manchmal in der unterdrückten Position sind. Die Differenz zwischen Mächtig und Unterdrückt wird oft als zwei Identitäten, als zwei fixe und auf alle Ewigkeit stabile Standpunkte missverstanden, anstatt als Verhältnis, als etwas Relatives. Gleichzeitig ist diese Unterscheidung in unterdrückt vs. mächtig unabkömmlich, wenn wir eben macht- und herrschaftskritisch über die Welt nachdenken wollen, sprich, wenn wir sie in einem emanzipatorischen Sinne verändern wollen.

Vor allem auf der Suche nach multidirektionalem bzw. transversalem Erinnern wird diese Unterscheidung zwischen mächtig und unterdrückt immer wieder auf den Prüfstein gestellt, was wiederum an den Grundfesten linken Denkens rüttelt. Das ist beunruhigend, weil wir wissen, wie wichtig diese Unterscheidung nach wie vor ist und wie gefährlich die Untergrabung dieser Unterscheidung ist. Hinzu kommt, dass wir auf der Suche nach den Möglichkeiten der Multidirektionalität bzw. der Transversalität immer wieder auf Dinge stoßen – du hast es gerade angesprochen –, die für unsere linken, kritischen Ohren sehr hippie und esoterisch klingen. Vielleicht ist diese Unterscheidung in marginalisierte und mächtige Positionen auch etwas, was uns heimsucht: Wir können weder einfach sagen, diese Unterscheidung ist zu unterkomplex, die legen wir jetzt einfach ab; und gleichzeitig können wir diese Unterscheidung auch nie einfach ganz bejahen, weil wir uns mit der Unterscheidung immer auch gewisse Probleme einschleppen, die damit zu tun hat, dass diese totale Dichotomie, die in dieser Unterscheidung unterstellt wird, real so nie existiert. Es gibt sie, diese Dichotomie, aber nie in dieser Reinform, sie ist nie vollständig.


(BK) Sie ist nie vollständig so, genau. Was machen wir, wenn wir uns auf der guten Seite wähnen, dann jedoch bemerken, dass wir in einer Art und Weise handeln, die dazu beiträgt, Menschen zu unterdrücken? Wie gehen wir damit um? In den meisten Fällen gehen wir damit um, in dem wir nichts dazu sagen und einfach wegschauen, oder uns freikaufen, wenn ich jetzt etwa an Klimapolitik denke. Aber wir können nicht länger wegschauen, wir müssen uns das anschauen. Diese Unterscheidung, die du angesprochen hast, die ist natürlich wichtig als Orientierungshilfe, mit der wir auf die Welt schauen. Können wir diese Unterscheidung verwenden und uns gleichzeitig trotzdem durch die Welt bewegen im Wissen darum, dass diese Unterscheidung nur ein Hilfskonstrukt ist und keine Anleitung dafür, wie auf alle Ewigkeit Urteile zu fällen und Positionen einzunehmen sind?


(NK) Ich habe das Gefühl, dass es an dieser Stelle hilfreich sein könnte, über Freund:innenschaft nachzudenken. Wenn du die Frage stellst, was wir tun, wenn die, auf deren Seite wir stehen, sich unkorrekt oder sogar gewalttätig verhalten und wir es beide in unterschiedlichen Kontexten miterlebt haben, was wir hier immer wieder tun: nämlich die Klappe halten, dann glaube ich, dass es nicht nur mit Faulheit zu tun hat. Es hat einerseits etwas mit Denkfaulheit zu tun, ja, aber ich glaube, es hat auch noch mit etwas „Unschuldigerem“, wenn man so will, mit etwas Grundsätzlicherem und dadurch vielleicht auch noch Gefährlicherem zu tun: Wenn wir eine enge Freund*in haben, eine, die uns wirklich wichtig ist, und sie oder er verhält sich ungut – und wir als Freund*innen wissen über die Gründe für dieses ungute Verhalten Bescheid, wissen etwa, dass es ihr oder ihm gerade schlecht geht – dann ruft uns die Freund*innenschaft dazu auf, diese*n Freund*in eben nicht sofort für ihr oder für sein Verhalten zu kritisieren, sondern womöglich erstmal den Mund zu halten, auch wenn wir das bei wem anderen nicht tun würden. Freund*innenschaft heißt nicht, d’accord zu sein mit gewissen Handlungen; aber und genau dann hinter der Freund*in oder dem Freund zu stehen, weil wir wissen: das sind die Situationen, in denen wir die Freund*innen am aller dringendsten brauchen. Diese Beständigkeit, Insistenz, und Loyalität, das Für-die-Freund*in-da-sein, ist vielleicht eine der schönsten Erfahrungen überhaupt; und es ist eines der wesentlichsten Gefühle der Solidarität: dass du nicht allein bist; selbst und genau dann nicht, wenn das Bei-Stehen etwas Unangenehmes ist. Gleichzeitig ist diese Loyalität, die wir in der Freund*innenschaft wie in der Solidarität finden, der Grund für das Verfallen ins Lagerdenken, aus dem wir hier ja ausbrechen wollen...


(BK) Ich glaube, wir dürfen die Rolle des Bestrafens in diesem Kontext nicht unterschätzen: Ausschluss aus deiner Community, das ist die Strafe des Gecancelt-Werdens. Du bist gecancelt, mit dir wollen wir nichts mehr zu tun haben. Das bedeutet umgekehrt: Ich bin bei dir, solange du alles so machst, wie ich es auch sehe; aber wenn du abweichst, dann bin ich weg. Ich glaube, wir haben uns in vielen Bereichen über die letzten Jahre und Jahrzehnte sehr emanzipiert und weiterentwickelt, aber was die Rolle des Strafens angeht, ist noch einiges zu tun.

Wie gehen wir mit Menschen um, bei denen wir das Gefühl haben, ja, die haben Scheiße gebaut; was machen wir da? Werden die ausgegrenzt? Das ist der Normalfall. Je mehr ich zu abolition lese, desto mehr komme ich zum Punkt, dass es nicht nur um Justiz und die Polizei geht, sondern einfach wirklich um unser ... Naja, wie wir miteinander tun. Wenn ich das hier sage, dann meine ich damit nicht, dass mir das immer leichtfällt. Ich glaube, es ist wirklich nicht leicht. Aber wenn wir den Anspruch haben, etwas wirklich anders zu machen, dann müssen wir uns etwa mit der Angst auseinandersetzen, etwas Falsches zu sagen; dann müssen wir Räume schaffen, wo es die Möglichkeit gibt, Dinge auszuprobieren. Ich glaube, ich kann es aushalten, wenn eine Person etwas ausprobiert, wenn wir in einer kleinen Runde sind, die ein commitment teilt. Deshalb meine ich, dass das schon eine kleinteilige Arbeit ist: das commitment dazu, dass das, was ich hier ausspreche, nicht vordergründig dafür da ist, um dich zu diskriminieren oder runterzumachen, sondern dass manche Leute vielleicht auch im Sprechen denken. Selbst wenn alle versuchen, mit größter Vorsicht zu formulieren, werden immer quasi „Fehler“ gemacht werden. Was ich mir wünsche, sind Räume, in denen das passieren kann, ohne dass es dafür sofort eine soziale Ächtung gibt. Das ist jetzt für mich kein Freifahrtschein für rassistisches oder sexistisches Sprechen oder sonstiges diskriminierendes Verhalten, sondern eher im Gegenteil. Wie ich schon einmal meinte: Es geht hier um Arbeit und wie bei jeder Arbeit passieren natürlich auch Fehler. Deshalb müssen wir einen Umgang damit finden, der bis jetzt fehlt. Ich nehme mich da gar nicht aus; aber ich glaube, dass wir in den letzten Jahren wirklich falsch abgebogen sind: viel zu sehr in Richtung Straf- und Ausgrenzungslogik.

Nehmen wir mal die Idee des safe spaces, das war und ist für mich eine wichtige Vorstellung bzw. ein wichtiges Konzept, aber heute würde ich auch hier das Prozessuale mehr betonen wollen. Als Christina Sharpe zum Beispiel das erste Mal nach Wien gekommen ist, habe ich ein Treffen organisiert, bei dem nur Schwarze Frauen* eingeladen waren. Ich fand das damals notwendig, weil ich dachte, dass das eine Möglichkeit sein kann, Fragen zu stellen, die wir dann vielleicht am Abend in einer größeren Runde nicht stellen können – du weißt, wie diese Diskussionen nach Vorträgen oft funktionieren, wer immer die ersten sind, die aufzeigen und so weiter ... – aber auch, um in einem Rahmen zu sprechen, in dem es hoffentlich eine gewisse Sensibilität über die Folgen kolonialer Gewalt gibt.

Für mich hat das aber nie bedeutet, dass wir dann in diesem Raum immer einer Meinung wären, oder dass wir davon ausgehen können, dass hier nichts Unangenehmes passiert. Das halte ich für eine ziemlich bizarre Vorstellung. Es gibt so viele Schwarze Menschen, von denen ich politisch diametral entfernt bin; und das meine ich in aller Zugewandtheit. Ich kann mich nicht automatisch sicher fühlen, weil ich jetzt in einem Kreis mit ausschließlich Schwarzen Frauen* sitze. Gleichzeitig kann ich auch nicht leugnen, dass ich mich beim Betreten eines solchen Raumes zuerst einmal sicherer fühlen würde als in einem anderen Raum. Ich weiß aber auch, dass mir im Gespräch sehr schnell klarwerden würde, wo unsere Unterschiede liegen. Die Alienation, die Entfremdung, die ich hier empfinden würde, wäre eine andere Alienation, als jene, die ich aus einem weißen Umfeld kenne. Ich frage gerne meine Studierenden, was sie sich vom Seminar wünschen; und oft kommt hier: einen safe space. Nein, sorry den gibt es nicht. Ich kann mich sehr wohl bemühen, dass es safer ist; wenn wir bei diesem Wort bleiben wollen. Aber ich kann es nicht garantieren.

Auch wenn mittlerweile alle vom safer space sprechen, begleitet uns diese Vorstellung des safe space als konfliktfreier Raum; und ich glaube, dass diese Vorstellung, diese Erwartungshaltung der Grund dafür ist, dass Konflikte in diesen Räumen zu derart argen Verletzungen führen. Das hat in nicht zu unterschätzendem Maße mit der romantischen Vorstellung zu tun, dass das hier alles konfliktfrei ist; und dann platzt die Bombe. Das ist natürlich eine viel härtere Verletzung, als wenn ich in einem Raum bin, in dem ich annehme, dass jedes fünfte Wort diskriminierend ist. Ganz anders, in einem Raum, wo ich davon ausgehe, dass er safe ist und in den ich dadurch mit einer großen Offenheit hineingehe, sodass es, wenn es mich dann erwischt, mich einfach scheiße erwischt. Fix ist: Einen safer space haben wir nicht einfach, weil wir in einem bestimmten Raum sind; wir müssen das schon in irgendeiner Form miteinander erarbeiten. Diese Vorstellung, dass wir hier alle gleich ticken würden, die macht ja auch noch etwas anderes: „Wir hier in unserem safe space und die da draußen.“ Das wird natürlich gespiegelt. Wir hier, die dort; und es geht schon los.


(NK) Was läuft falsch in der Linken; und was wäre wichtig, anders zu machen? Das ist schon eine Frage, die ich mir über die letzten Jahre immer häufiger gestellt habe. Am Ausbuchstabieren möglicher Antworten scheitere ich immer und immer wieder von Neuem. Ich sehe das schon sehr ähnlich wie du: dass eines der Probleme, die wir als Linke haben, mit diesem Wunsch nach einem safe space zu tun hat. Gleichzeitig frage ich mich dann immer wieder: Wo unterscheidet sich jetzt meine Kritik von der rechten Kritik an political correctness ?


(BK) Ja, total, das ist so schlimm. Ich höre mir manchmal selbst beim Sprechen zu – wie du auch gerade meintest – und dann erwische ich mich und klinge wie die ewiggleichen, „objektiven“ Positionen in der österreichischen Medienlandschaft. Nicht selten hör ich bei der Kritik an der Vorstellung des safe space, diese Kritik sei nur Ausdruck meiner privilegierten Position.


(NK) Vielleicht weist uns dieses unangenehme Gefühl, dass wir scheinbar beide kennen, auf die Notwendigkeit hin, die Arbeit des Ausbuchstabierens zu machen: Was ist das, was uns hier Unbehagen bereitet? Was mir Unbehagen bereitet in der Kritik an political correctness, oder wenn ich Kritik an der Vorstellung eines safe space‘ formuliere, ist, dass das dann als Argument verstanden werden kann, antirassistische, queere oder feministische Kämpfe in die Tonne zu kicken; was alles andere als meine politisch Überzeugungen ist. Was mir auch Unbehagen bereitet, ist die Angst, dass ich in der Kritik eine Simplifizierung betreibe, die die Errungenschaften und die Wichtigkeit, die in diesen beiden Begriffen – political correctness oder safe space – steckt, zu wenig beachte. Meine Angst ist hier, statt einer Anerkennung der Aberkennung von Verletzungen durch strukturelle Gewalt zuzuarbeiten; ganz wie die Rechten eben, die den Marginalisierten sagen: jetzt stellt euch halt nicht so an. Ich glaube diese Gefahr, als rechts missverstanden zu werden oder Argumente zu liefen, die von Rechten missbraucht werden können, die werden wir aber auch nie ganz loswerden. Insofern ist diese Arbeit des Ausbuchstabieren so wichtig, um dem Missbrauch wie dem Missverständnis so gut es geht entgegenzuarbeiten.


(BK) Es wäre schon viel damit getan, wenn wir verstehen würden, dass die Werte und Absichten, die wir immer wieder proklamieren, nicht in Stein gemeißelt sind, sondern dass sie Ergebnisse von Prozessen sind, die fortlaufend verfeinert und weiterentwickelt werden müssen. Ich mache mich nicht über den Wunsch nach einem safe space lustig. Es ist wichtig, an diesem Wunsch festzuhalten und sich für ihn einzusetzen; nur glaube ich, dass es mindestens so wichtig ist, klar vor Augen zu haben, dass dieser safe space nicht einfach darüber hergestellt werden kann, dass wir Leute in einen Raum bringen, die gleich ausschauen oder das Gleiche denken wie wir. Es muss darüber hinaus etwas Geteiltes geben in so einem Raum.

 

Der Text erschien erstmals in dem Sammelband Erinnern in Zukunft. Aufrufe für plurales Erinnern, der von Michael Podgorac und Anne Wiederhold-Daryanavard  herausgegeben wurde und im März 2025 bei Mandelbaum erschienen ist.