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06 2020

Es ist nicht meine Revolution, wenn wir keinen Çay zusammen trinken können

Skizzen einer Politik antirassistischer Freund*innenschaft und der Kampf um das Gemeinsame unter Ungleichen

Newroz Duman / Niki Kubaczek

 

»Solidarität ist nicht, einen Aufruf zusammen verfassen. Solidarität bedeutet, sich kennenzulernen und Zeit miteinander zu verbringen.« Vor dem Hintergrund dieser Devise schleppte We’ll come United große Sitzkissen und Semawer (Çaykocher) an, um inmitten der Hitze unter einem Gartenzelt einen Ort im Schatten zu schaffen, wo die kommende Revolution erträumt und geplant werden konnte.

Dieser Schattenplatz war einer der wenigen Zufluchtsorte vor der brütenden Hitze, die sich unter einer Handvoll Zirkuszelte auf dem Gelände der besetzten ZAD – der Zone à Defendre – aufspannte. Hier, in der Nähe von Nantes, fand vom 10. bis 13. Juli 2019 das Transborder Camp statt, das mehrere hundert antirassistische Aktivist*innen aus Afrika und Europa anzog. Die ZAD wurde von sehr unterschiedlichen Leuten besetzt, die der Wunsch einte, dass die Wiesen und Wälder nicht zu Gunsten eines riesigen Flughafenprojekts plattgewalzt werden. Unter den Unterstützer*innen der ZAD sind Anarchist*innen, die nicht weniger als die Zerschlagung des globalen Kapitalismus im Sinn haben, sowie Ärzt*innen, die keine Lust drauf haben, dass ihnen der Flugverkehr die Einfamilienhausidylle und den Grundstückswert ruiniert. »Ein gemeinsamer Feind hilft ungemein. Aber als es darum ging, eine diverse Gemeinschaft Aufzubauen, sind viele abgehauen«, erzählt ein Besetzer den Transborder-Gästen während der Willkommensrunde. "Es hat sich also immer wieder die Frage gestellt, was gegen das Fraktionieren getan werden kann. Schließlich geht es ja um unterschiedlichste Kämpfe hier... Unser Ziel war und ist ganz klar immer autonomer zu werden. Das bedeutet etwa eine Mediationsgruppe zu haben, die jeden Monat wechselt. Sinn und Zweck dieser Gruppe ist es, nicht auf die Polizei angewiesen zu sein, wenn es zu Konflikten kommt. Trotz allem gab es immer wieder Probleme, die wir nicht lösen konnten, wo wir scheiterten ..."


City Plaza ist überall

Mit unterschiedlichen Hintergründen, Vordergründen und ganz anderen Gründen kamen auch die Aktivist*innen für das Transborder Camp von sehr unterschiedlichen Orten aus Afrika und Europa nach Nordfrankreich, um sich über antirassistische Strategien die Köpfe zu zerbrechen, möglichst ohne sie sich dabei einzuschlagen. So kamen hier Menschen mit und ohne Rassismuserfahrung zusammen, Aktivist_innen mit und ohne der Erfahrung der Illegalisierung, mit mehr oder weniger Geld, sogenannte Frauen und sogenannte Männern sowie andere Geschlechter, Leute mit mehr oder mit weniger Erfahrung in aktivistischer Selbstorganisation. Mit all diesen unterschiedlichen Erfahrungen hatten sie zumindest eins gemeinsam: dem Rassismus etwas entgegensetzen und für Bewegungsfreiheit zu kämpfen und nicht die Augen verschließen zu wollen gegenüber der Brutalität rassistischer Gewalt.

Trotz der Intensivierung des Rassismus, des Nationalismus und des Faschismus in ganz Europa und darüber hinaus gibt es nach wie vor unzählige selbstorganisierte Netzwerke, die für das Recht auf Bewegungsfreiheit und das Ankommen kämpfen. Diese Netzwerke der Solidarität zu stärken und auszubauen war das erklärte Ziel des Transborder Camps. Die kämpferische Sorge und das sorgende Kämpfen besteht immer auch in Tätigkeiten, die auf den ersten Blick wenig kämpferisch anmuten: Unterkunft checken, Geld organisieren, Dokumente auftreiben, füreinander da sein und einander zuhören. Orte und Infrastruktur, die die Sorge umeinander inmitten der Illegalisierung ermöglichen, wie die Unterkunft in Rabat oder das City Plaza Hotel in Athen, das schließen musste, während das Transborder Camp stattfand, sind von wesentlicher Bedeutung im Kampf gegen Illegalisierung und das rassistische Grenzregime.

 

 

Antirassistische Arbeit, die Selbstorganisierung und die Unterstützung von Geflüchteten sind damit immer auch eine soziale Beziehung. Diese Beziehungen, die oft unsichtbar bleiben, sind die Bedingung dafür, dass eine andere Gesellschaft aufgebaut werden kann; dafür, dass Zusammensein nicht länger heißen muss, den gleichen Pass, die gleiche Haarfarbe oder die gleiche Muttersprache zu besitzen. Die Betonung der Wichtigkeit von sozialen Beziehungen unter Ungleichen ist viel mehr als nur Hippie-Scheiß, denn »wenn wir keine Beziehungen aufbauen, können wir auch nicht der Repression begegnen«, wie eine Aktivistin am ersten Tag des Camps es auf den Punkt brachte.


Kämpfe ums Zusammensein und um das Gemeinsame unter Ungleichen

Wie also die Beziehungen aufbauen? Eines ist klar: Beziehungen gibt es nur, wo wir einander zuhören, miteinander großzügig sind, wo wir einander Zeit geben und Vertrauen vorschießen. Dort, wo es soziale Beziehungen und eine Form der Freund*innenschaft gibt, betrifft zum Beispiel die Abschiebung nicht mehr nur die eine abgeschobene Person, sondern auch alle Freund*innen, weil diese ja ihre Freund*in verlieren. Natürlich ist es ein wesentlicher Unterschied, ob ich von der Polizei verschleppt werde, an einen Ort, von dem ich mit sehr viel Kraft und mit dem Einsatz aller verfügbarer Mittel, vielleicht sogar unter Lebensgefahr, abgehauen bin – oder ob ich meine abgeschobene Freund*in vermisse, ohne je selbst von der Polizei in ein anderes Land verschleppt werden zu können. Aber es macht eben einen Unterschied, ob jemand abgeschoben wird und niemand es mitkriegt, oder ob jemandem die Abschiebung droht und das ein Netzwerk dazu bewegt, nach Möglichkeiten zu suchen, sie zu verhindern.

Manchmal kann eine solche Mobilisierung die Abschiebung verhindern, oft findet sie leider trotzdem statt. Aber das Misstrauen bzw. der Hass gegenüber der Migrationspolitik und dem Rassismus, das in diesem Widerstand entsteht, ist die Bedingung für eine viel bessere Zukunft, in der alle den Anspruch auf Rechte, aufs Bleiben und auf ein gutes Leben haben.

Diese Zukunft sieht sich einer Gegenwart gegenüber, in der Rassist_innen immer mehr die Stimmung bestimmen; in den Medien sowie in der Nachbarschaft. Diese Stimmung zu brechen, einander den Rücken zu stärken und diese Verbindungen auch sichtbar zu machen war und ist das explizite Ziel unter anderem von We'll Come United. So nahmen sich auf der We'll come United Parade in Hamburg am 29. September 2018 30.000 Menschen die Strasse, um den Antirasssismus abzufeiern. Es geht dabei also nicht primäre um eine spezifische Kampagne oder ein punktuelles Zusammenkommen von Netzwerken von Geflüchteten, migrantischen und solidarischen Gruppen, sondern es geht darum, einen gemeinsamen Prozess zu starten, der die Schwierigkeiten wie die Möglichkeiten des Zusammenkommens und der Augenhöhe unter teilweise extrem unterschiedlichen Bioghraphien, Erfahrungen, Wünschen und Vorstellungen ausverhandelt. Es geht darum, die Position zu verlassen, die sich ausschließlich über die Verteidigung definiert, auch wenn wir unter Beschuss stehen: Es gilt, sich darüber zu unterhalten, wie wir gemeinsam Leben wollen - und das geht nur, indem wir einander kennen lernen. »Natürlich braucht es teilweise getrennte Räume, in denen Menschen die ähnliche Erfahrungen gemacht haben – etwa die der illegalisierten Migration – sich darüber austauschen können. Aber mindestens so wichtig sind Räume, in denen wir zusammenkommen und uns auf Augenhöhe begegnen. Dafür müssen wir den Willen mitbringen, das Gemeinsame aufzubauen, auch wenn das manchmal kompliziert sein oder lange dauern kann«, betont eine Aktivistin.

"Wir haben bei education sans frontieres eine Kooperation mit dem CGT [zweitgrößte französische Gewerkschaft]. Wenn es darum geht, Abschiebungen zu verhindern, dann braucht es diese gemeinsame Arbeit.", erklärt Ousmane Diarra von der Malischen Assoziation der Abgeschobenen AME. "Wir müssen gemeinsam reflektieren, wie dieses Zusammenkommen aussehen kann. Diese Frage müssen wir aus der Dunkelheit hervorholen." Auch Pierre von der Assoziation der abgewiesenen Migrant_innen ARACEM (L'Association des Refoulés d'Afrique Centrale au Mali) betont: "Die Europäer müssen verstehen, warum wir hierhergekommen sind. Viele von denen, die etwa nach Dakar abgeschoben wurden sind verrückt geworden wegen dem was sie erlebt haben. Die IOM [International Organisation of Migration] möchte den Migrant_innen Angst einjagen. Man kann aber Leuten, die den Tod in Kauf nehmen, nicht Angst einjagen. Wenn du einmal soweit bist, lebst du irgendwie nicht mehr wirklich." Das Grenzregime macht Menschen kaputt, so wie es der Kolonialismus tat und tut; das betrifft im Übrigen nicht nur die Kolonisierten, sondern nicht minder die Kolonisator_innen, wenn auch auf ganz andere Weise[1]. Europa spricht gern über den Menschen und die Menschlichkeit und metzelt ihn gleichzeitig nieder, überall, wo es ihn trifft, so hat es Frantz Fanon bereits 1961 auf den Punkt gebracht. Was also tun, inmitten rassistischer, entrechtender und ausbeutender Gewalt? »Allein zu gehen, da ist man schneller, aber gemeinsam, da geht man weiter«, ist sich Pierre sicher. Die Frage nach dem Gemeinsamen stellt sich also nicht trotz der mannigfaltigen rassistischen Gewalt, sondern wegen ihr: um ihr besser begegnen zu können.

Das Gemeinsame ist somit nicht die Form des Zusammenkommens, die stattfindet, wenn wir die Gewalt vergessen, mit der einige von uns konfrontiert sind und von der andere vielleicht keine Ahnung haben. Das Gemeinsame wird im Gegenteil nur durch das Aushandeln und Lernen über die Unterschiede - hinsichtlich des unterschiedlichen Ausmaßes, in dem wir Gewalt, Ausbeutung und Unterwerfung ausgesetzt sind - untereinander möglich. Es ist dieses Lernen, Verlernen und Zuhören, durch das Differenz nicht länger den Widerspruch zum Gemeinsamen darstellt, sondern vielmehr seine Voraussetzung ist.


Von Wünschen und Erfahrungen

Die teilweise radikal unterschiedlichen Erfahrungen nicht zu vergessen ist wesentlich dafür, zusammenkommen zu können. Denn ohne das Wissen voneinander ist Freund*innenschaft nicht mehr als eine angebliche Freund*innenschaft, betont Achille Mbembe in seinem Buch »Kritik der schwarzen Vernunft«. Das fehlende Wissen voneinander führt immer wieder dazu, dass wir uns enttäuschen und verletzen, auch wenn wir das gar nicht wollen. Deshalb wurde in den letzten Jahren vor allem Selbstkritik von jenen Aktivist*innen gefordert, die nicht selbst täglich Rassismus erfahren. Das war sehr wichtig, hat es doch in vielen antirassistischen Zusammenhängen das Bewusstsein dafür geschärft, dass es eine Differenz gibt zwischen der Absicht, dem Rassismus entgegenzutreten, und einem tatsächlich antirassistischen Handeln. Anders gesagt: Nur weil jemand es gut meint, ist es noch nicht automatisch gut, richtig oder hilfreich. Intention bzw. Wunsch und Realität sind nicht das gleiche.

Als Pat Parker, schwarze lesbische feministische Aktivistin, Dichterin und enge Freundin von Audre Lorde, 1980 auf dem feministischen antiimperialistischen Kongress BASTA in Oakland/ USA vor einem Publikum mit und ohne eigene Rassismuserfahrung sprach, erklärte sie: »We must also define our friends and enemies based on their stance on imperialism.« (Pat Parker (1983[1981], S.239) So wichtig die Aufmerksamkeit für den Unterschied zwischen den Erfahrungen ist, der Unterschied zwischen den Orten, die uns in der Gesellschaft zugewiesen wurden, so wichtig ist die Frage, was für eine politische Haltung und Praxis wir leben und welchen Wünschen wir in unseren Kämpfen folgen. So wie also der Wunsch nicht mit der Realität zusammenfällt, so fallen auch Erfahrung und Wunsch nicht zusammen.

Parker bedankte sich bei allen Anwesenden dafür, dass sie gekommen waren, um gemeinsam gegen Imperialismus und für den Feminismus zu kämpfen. Eines hob sie jedoch hervor: »"[I]t is critically important to me that you who are here, that your commitment to revolution is based on the fact that you want revolution for yourself.« (ebda. S. 240) Freund*innen und Genoss*innen sind für Parker also nicht primär jene, mit denen sie ähnliche Erfahrungen teilt, sondern jene, die ähnliche Haltungen und Wünsche gegenüber dem Imperialismus, dem Rassismus und dem Feminismus haben. Die Revolution, ist Parker überzeugt, kann nur gelingen, wenn wir sie nicht aus Großzügigkeit oder Mitleid für den oder die andere machen. Stattdessen ist die Bedingung der Revolution der Wunsch nach ihr, und dieser Wunsch kann nur als gemeinsamer, jeweils eigener, also geteilter Wunsch verstanden werden. Ohne Vernetzung auf Augenhöhe weder Revolution noch Revolte oder Aufstand.

»Trotz all der Gewalt sind die Menschen im Sudan dabei geblieben – und das ohne Anführer«, betont eine Aktivist aus dem Sudan. »Das hat nur funktioniert, weil sie sich über Instagram und Facebook vernetzt hatten. Aber auch die Nachbarschaftskomitees außerhalb von Khartum waren wichtig. Sie waren die Orte, an denen die Proteste Ende 2018 entbrannten.« Ein Aktivist aus Frankreich setzt fort: »Jeder Kreisverkehr ist anders. Im Elsass gibt es viele Faschisten unter den Gilets Jaunes. In Toulouse ist das anders. Der Streit zwischen den Faschisten und der Antifa in der Bewegung ist genau der gleiche wie im restlichen Frankreich. Man könnte auch die Haltung einnehmen, dass wir den Kampf verloren haben in Bezug auf Rassismus, auf Homophobie … Das halten wir aber für falsch. Diese Kämpfe innerhalb der Bewegung haben dazu geführt, dass jetzt viel mehr Leute unterscheiden können zwischen Antifa und Faschos. Du musst in die Diskussion gehen, dich einmischen! Das ist die einzige Möglichkeit, einen gemeinsamen Grund zu finden.«

Nachbarschaftskomitees spielen nicht nur in den Vororten von Khartum eine wichtige Rolle, sondern auch in Rojava. »In den Nachbarschaftszirkeln setzen wir uns zusammen, und alle können etwas sagen. Aber es ist auch der Ort, wo alle Verantwortung übernehmen«, erzählt eine kurdische Genossin. »Es geht um nichts geringeres als das Patriarchat zu überwinden, antihierarchisch und antinational zu leben und eine solidarische Ökonomie aufzubauen.«

"The other illusion is that revolution is neat. It's not neat or pretty or quick. It is a long dirty process. We will be faced with decisions that are not easy" wusste Parker schon vor 40 Jahren. Wenn wir nicht den gleichen Zugang zu Ressourcen haben dann braucht es einen Prozess der den gleichen Zugang ermöglicht. Dieser Prozess eine Herausforderung und er braucht Zeit sowie Geduld miteinander. Aber wenn wir einander und uns selbst Zeit geben, einander zuhören und uns nicht kaputt machen wegen Privilegien, die wir haben, sondern sie stattdessen teilen und nutzen, dann stehen die Chance nicht so schlecht, dass das früher oder später was wird. Der Prozess, in dem das Gemeinsame aufgebaut wird, findet somit als ständige Auseinandersetzung mit der Frage statt, wie die Möglichkeit dieses Gemeinsamen der Unmöglichkeit abgerungen werden kann.


Über Rassismus und Paternalismus (hinaus)

Neben vielen anderen Workshops fand im Transborder Camp ein Workshop zum Thema Paternalismus statt. Er sollte einen Raum bieten, um die Schwierigkeiten zu diskutieren, die entstehen, wenn Menschen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Zugängen in einem Projekt zusammen arbeiten oder leben. Es war nicht klar, ob es eine von Misstrauen und peinlicher Stille oder von Vertrauensvorschuss und Augenhöhe geprägte Debatte werden würde. Entsprechend zögerlich war die Atmosphäre zu Beginn.

Ein Genosse, der in Reims lebt, erzählt: »Ich wohne in einem Squat, in dem viele Franzosen mit Papieren leben. Einmal, als ich Teller ausgegeben habe, hat ein weißer Supporter gesagt, dass ich das nicht tun soll, weil er das tun will. Ich bin in mein Zimmer gegangen, ich war extrem genervt von dieser Aussage. Als ich ihn wieder gesehen habe, hab ich ihm gesagt, dass das nicht nett ist und dass, wenn wir in Solidarität miteinander sein wollen, wir respektvoll miteinander umgehen müssen, egal welche Papiere wir haben.« »Ich denke es gibt zwei Arten von Rassismus«, holt eine andere französische Aktivistin aus. »Einmal wenn Personen Geflüchtete ›meine Kinder‹ nennen. Und andererseits gibt es Aktivist*innen, die glauben, alles was Geflüchtete sagen, sei richtig. Das führte einmal dazu, dass eine Aktivistin, die von einem Übergriff durch einen Geflüchteten betroffen war, nicht zur Polizei ging, um kein schlechtes Bild von den Geflüchteten abzugeben. Ich halte das wirklich für ein Problem.«

»Gestern war ich in einem Workshop zum Thema Selbstorganisation«, berichtet eine Aktivistin aus Reims. »Die Menschen haben über alles mögliche gesprochen, nur nicht über Selbstorganisation. Niemand hat sie unterbrochen – das ist auch Paternalismus, Menschen, nur weil sie von Rassismus betroffen sind oder geflüchtet sind, einfach über irgendwas reden zu lassen, worum es überhaupt nicht geht. Es ist sehr wichtig, dass wir Dinge ansprechen – so wie gestern im Plenum jemand gesagt hat, dass hier im Camp fast nur Frauen in der Küche sind und dass das nicht geht. Und siehe da: Jetzt hat es sich geändert.« Paternalismus kann also bedeuten, das Gegenüber zu verniedlichen; Paternalismus ist aber auch, wenn wir das Gegenüber überhöhen und vor Kritik abschirmen.

»Überall wirst du Rassismus erleben«, ergänzt ein spanischer Genosse. »Wenn in der U-Bahn die Rede ist von Taschendieben und alle schauen auf mich. Oder eine Person dreht sich um, sieht eine schwarze Person wie mich hinter sich und hat Angst. Das ist sehr verletzend, darüber müssen wir mehr sprechen.« »In der Straßenbahn wurde ich nicht nach meinem Ticket gefragt, sondern nach meinen Papieren«, setzt die Aktivistin aus Reimes fort. »Dann musste ich wieder einmal zur Behörde – da haben sie meine Papiere einfach nicht entgegengenommen. Dann bin ich mit einer weißen Person hingegangen, und sie haben die Papiere entgegengenommen. Ich war so wütend, dass die Beamtin sich nicht mehr getraut hat mich anzusehen. Ein anderes Mal wurde ich von einer Rassistin beschimpft, da hab ich der Weißen dann kurzerhand eine reingehauen. Wir müssen auch lernen, uns zu wehren und uns nicht den Tag kaputt machen zu lassen. Wir müssen uns nicht schlecht fühlen, wenn wir dominant sind.«

Eine kurdische Genossin aus Deutschland wirft ein: »Ich glaube, wir sind schon viel weiter als noch vor ein paar Jahren. Wir wissen, dass es Paternalismus gibt – aber wir müssen auch zulassen, dass wir Freunde werden. Das bedeutet, dass nicht meine Fluchtgeschichte im Vordergrund steht, sondern unsere gemeinsame Geschichte. Ich habe mich in einem besetzten Haus organisiert und dachte am Anfang immer: Igitt, wo bin ich nur gelandet. Aber die Menschen im Squat waren sehr gut informiert und haben mich gut beraten. Es war sicher keine Gleichberechtigung, das geht auch zu Beginn nicht. Aber es war ein Miteinander, es war Solidarität, aus der Freundschaft wurde. Wenn wir das nicht als Hobby verstehen, sondern die Politik in den Alltag tragen, dann werden wir auch auf Augenhöhe sprechen können. Es ist kein befristetes Projekt, es ist unser Leben. Wir sind eine Bewegung in Bewegung. Es kommen immer neue Leute dazu. Das heißt auch die Erfahrungen müssen immer wieder erzählt werden. Diese Probleme, die wir hier diskutieren, die werden wir nicht einfach los. Manche von uns mussten um ihr Leben kämpfen, andere haben keine Ahnung von so etwas. Das als Stärke zu begreifen, bringt uns weiter als uns immer nur zu kritisieren. Natürlich braucht es die kritische Reflexion, aber vor allem braucht es Aufmerksamkeit für dieses Gemeinsame.«

»Wir sprechen hier über Tabuthemen«, unterstreicht Riadh von Afrique Europe Interact. »Als ich die linksradikale Szene kennengelernt habe, war ich sehr schockiert; so wie die alle aussahen ... Einmal kamen die Aktivist*innen von No Lager und haben einen Film gezeigt. In dem Film waren zwei Männer, die sich geküsst haben – wir waren schockiert. Es ist schwierig, als Migrant mit Studis und Aktivist*innen dranzubleiben, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Aber Aktivismus kann auch eine Therapie gegen Depression sein, weil er eine Möglichkeit zum Sprechen ist und somit die Isolation und die Depression durchbricht. Es braucht diese Begegnung – dabei geht es nicht darum, dass du mich akzeptierst, sondern darum, dass wir uns akzeptieren. Wir müssen uns gegenseitig ernstnehmen, aber bitte kein positiver Rassismus; das ist ein sehr schlimmer Rassismus.
Wir müssen erstmal Vertrauen ineinander bekommen, und dafür braucht es viel Geduld - von allen.«


Revolutionäre Gelassenheit

Transnationale Arbeit braucht also Geduld. Der Prozess, in dem die Verbindungen entstehen, ist sicher kein einfacher, und genau deshalb braucht er das Vertrauen ineinander, und er braucht den insistierenden Wunsch, die Kämpfe zusammenzuführen. Manchmal scheint es, als würde der Geist von Pat Parker 30 Jahre nach ihrem Tod die gedrängten Versammlungen im Schatten der brennenden Sonne heimsuchen, um die Frage nach dem Zusammenkommen wieder aus der Dunkelheit zu holen: »Another illusion that we suffer under in this country is that a single facet of the population can make a revolution. Black people alone cannot make a revolution in this country. Native American people alone cannot make revolution in this country. Chicanos alone cannot make revolution in this country. Asians alone cannot make revolution in this country. White people alone cannot make revolution in this country. Women alone cannot make revolution in this country. Gay people alone cannot make revolution in this country. And anyone who tries it will not be successful.«

Wenn die Revolution eines Tages gelingen soll, dann wird das also nur zusammen klappen. Dafür braucht es Räume wie das Transborder Camp, auf dem die vielen Gedanken, die Kämpfe, gescheiterten Versuche und Erfolge, die vielen Sprachen, vielen Gesichter und die vielen Geschichten der Solidarität sich versammeln können. Räume, die es inmitten von schwierigen Zeiten ermöglichen, Erfahrungen und Perspektiven auszutauschen, von einander zu lernen, Verbindungen über Grenzen hinaus zu schaffen und offen für neue Beziehungen zu sein. Räume, in denen sich die Alltagskämpfe, die heute transnational vernetzt sind, gegenseitig ermutigen und miteinander feiern können. Die Bedingung dieses Zusammenkommens sind die vielen transnationalen Linien die sich quer durch die Balkanroute ziehen, von Kurdistan bis in den Sudan, von Ljubljana über Tunis bis nach Bamako, von Chemnitz bis Izmir, von Ouagadougou nach Hanau bis nach Athen und Alexandria. Diese Linien der Solidarität und des gemeinsamen Kämpfens verweisen auf Mut und Hoffnung für neue Prozesse, auf Inspiration, Freund*innenschaften, Freude, Tränen, Liebe, Macken und Verrücktheiten, auf ein Füreinander und ein Miteinander, ohne die nie Geschichte geschrieben worden wäre.

Die Revolution zu ermöglichen, heißt somit die Gelassenheit und das gegenseitige Vertrauen zu erlernen inmitten einer brutalen und erschütternden Welt, in der es gar keine aber auch überhaupt keinen Grund zu Gelassenheit, Freund_innenschaftlichkeit und Geduld mit einander gibt. Gleichzeitig ist die Geduld miteinander und das Vertrauen ineinander die einzige Möglichkeit, in dieser Welt zu leben und eine bessere Zukunft zu erkämpfen. Die Rede ist hier von keiner Gelassenheit, die der Überzeugung geschuldet wäre, wir sollten aufhören über hässliche Dinge zu sprechen und dann wäre alles gut. Die Gelassenheit, um die es hier geht, ist vielmehr die der Genossin, die der Rassistin, die sie hasserfüllt beschimpft, die Faust entschlossen ins Gesicht schiebt, sich nicht den Tag vermasseln lässt und dann den Çay mit ihrer Freundin weiter schlürft.


Literatur:

Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt a.M. 1981 (1961).

Stefano Harney/ Fred Moten: The General Antagonism: An Interview with Stevphen Shukaitis. In: The Undercommons. Fugitive Planning & Black Study. Wivenhoe / New York / Port Watson: Minor Compositions 2013.

Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin 2017.

Pat Parker: Revolution: Itʼs Not Neat or Pretty or Quick. In: Hginnen Cherríe Moraga, Gloria Anzaldua: This Bridgle called my Back. Writings by radical Women of Color, New York 1983.

 

Vielen Dank an Jan Ole Arps für die gemeinsame Arbeit an der leicht gekürzten Erstfassung, welche in Analyse und Kritik #659 erschien.

 

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[1] "The coalition emerges out of your recognition that it’s fucked up for you, in the same way that we’ve already recognized that it’s fucked up for us. I don’t need your help. I just need you to recognize that this shit is killing you, too, however much more softly, you stupid motherfucker, you know?” (Harney/ Moten 2013, S. 140)