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08 2024

Toni Negri und das revolutionäre Vermögen

Mini-Review von Roberto Nigro, "Antonio Negri zur Einführung"

Gerald Raunig

Heute wäre Antonio Negri 91 Jahre geworden. Die Trauer um ihn nach seinem Tod am 16. Dezember des letzten Jahres klingt nach und sie wird uns noch lange begleiten. Zu gewichtig war Tonis Rolle in Praxis und Theorie der sozialen Bewegungen der letzten 60 Jahre, zu unvergessen bleibt seine Kraft, seine Energie und seine Potenz der Affirmation selbst im hohen Alter.

Im deutschsprachigen Raum sind Toni Negris Bestseller mit Michael Hardt von Empire bis Assembly bei Campus erschienen und breit diskutiert, viele Aspekte seines Lebens und seiner politisch-theoretischen Arbeiten blieben aber in weiten Teilen unbearbeitet. So stehen etwa Übersetzungen wie das wichtigste Buch seiner politischen Philosophie Il potere costituente. Saggio sulle alternative del moderno (1992) oder die drei Bände seiner Autobiografie (Storia di un Comunista 1-3, 2015-2020) aus. Umso erfreulicher ist es, dass nun eine erste Einführung in deutscher Sprache erschienen ist, noch erfreulicher, dass sie von einem philosophischen Experten stammt, der keine Schwierigkeiten hat, mit spinozistischen, marxistischen, (post-)operaistischen und poststrukturalen Theorien ebenso zu jonglieren wie mit den italienischen und französischen Umfeldern Negris und deren Übertragung in den deutschsprachigen Raum: Roberto Nigro war als Student in Süditalien Aktivist in der postoperaistischen Tradition, arbeitete später in den Archiven zu Foucault und Guattari in Paris und ist heute Professor für Philosophie an der Universität Lüneburg.

Das soeben in der Junius-Reihe „zur Einführung“ erschienene Buch beschreibt in vier konzis gegliederten Kapiteln die frühen Arbeiten Toni Negris und deren Grundlagen im italienische operaismo und den sozialen Kämpfen bis 1968, die heißen 1970er und die darauffolgenden Winterjahre in Italien und Frankreich, die theoretischen Aufbrüche der 1990er, unter anderem in der von Negri in Paris mitgegründeten Zeitschrift Futur Anterieur, und schließlich die Horizonte neuer revolutionärer Zyklen im 21. Jahrhundert, von der Alter-Globalisierung bis zu Occupy. In all diesen sehr unterschiedlichen Phasen von Toni Negris Leben und Bewegungszyklen bleibt der Focus von Roberto Nigros Analyse immer ein doppelter: auf die Transformationen der Produktions- und Subjektivierungsweisen hin zu Postfordismus, kognitivem Kapitalismus und neoliberaler Gouvernementalität, parallel dazu und immer überlappend auf die sozialen Bewegungen und Kämpfe, die in der spinozistischen Begrifflichkeit Negris zum Gemeinsamen und zur Multitude tendieren.

Die reichhaltigen Referenzen speisen sich nicht nur aus Negris Primärtexten von Marx oltre Marx (1979) bis Da Genova a domani (2020), sondern greifen auf die vielen politischen und theoretischen Ansätze aus Italien zurück, Virno, Lazzarato, Bifo, Balestrini, Federici, Tronti, Dalla Costa, De Feo, Bologna, Marazzi, u.a., auf die zeitgenössischen französischen Philosophien, mit denen Negris Arbeiten in Resonanz und Austausch standen, Foucault, Althusser, Balibar, Nancy, Ranciére, Deleuze und Guattari, aber auch auf sehr unterschiedliche aktivistische und philosophische Positionen aus dem deutschsprachigen Raum wie Karl-Heinz Roth, Martin Saar, Katja Diefenbach und Isabell Lorey.

Bei aller Komplexität bleibt das Buch durchgehend gut lesbar und hält die Balance der Diskurse zwischen politischer Geschichte und politischer Philosophie. Für die Gegenwart besonders hilfreich sind die Ausführungen zu den Ausgangsfragen des zweiten und dritten Kapitels. Ohne zu starke Analogien einzuführen, geht es wohl wie in den 1980ern auch heute vermehrt darum: Wie orientiert man sich in Winterjahren, wie kann man sich gerade in solchen Zeiten zunehmender sozialer De- und Repression an neuen Formen des Widerstands beteiligen, in Negris und Nigros Begriffen: Wie kommt die Multitude zu ihrer politischen Organisierung?


Roberto Nigro, Antonio Negri zur Einführung, Hamburg: Junius 2024