03 2023
Unser aller Leben ist in der Schwebe
Übersetzung: Sofia Bempeza, durchgesehen von Brigitta Kuster
Loukia Kotronaki ist Dozentin und Postdoktorandin an der Fakultät für Politikwissenschaft und Geschichte der Panteion Universität. Sie untersucht kollektives Handeln und soziale Bewegungen auf der ganzen Welt, ausgehend von der Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung in Griechenland in den Jahren 2000-2006. Wir sprechen mit ihr über die aktuelle Protestwelle, die das Land nach dem Verbrechen von Tempi erfasst hat.
Studenten:innen und Schüler:innen stehen an der Spitze der Mobilisierungen. Liegt es nur an der Tatsache, dass viele der Toten auch junge Menschen waren, oder sehen Sie hinter der Wut auch Forderungen?
Das Tempi-Verbrechen wurde landesweit als ein umgreifender und multipler, klassen- und generationenübergreifender Schock erlebt, weil es die "minimalen Gewissheiten" und Routinen des täglichen Lebens zutiefst erschüttert hat: in diesem Fall das sichere Zugfahren. Es musste dazu kommen, dass die gewaltsame und massenhafte Vergegenwärtigung unseres Lebens als Eintagsfliege (mias meras zois), den die rücksichtslosen Machthaber für uns bereithalten, eine Kettenreaktion der sozialen Wut auslösen würde, wobei junge Menschen den Ton angeben. Und das nicht nur, weil sich auf der Liste der Opfer auch 20-jährige Menschen stehen, sondern vor allem, weil jüngere Menschen noch nicht endgültig mit dem politischen Imperativ des Todes versöhnt sind. In diesem Sinne handelt es sich um das Aufbegehren einer breiten neuen politischen Generation, die in der Post-Covid Ära selbstbewusst auftritt und die universelle und unveräußerliche Forderung nach Leben artikuliert. Zudem: Was bei den Forderungen und den skandierten Sprüchen auf den Demos dominiert, ist die Semantik des Lebens und keinesfalls die der Jugend.
Entsteht hier vielleicht eine neue Bewegung?
Die vom Staat abhängigen Medien haben gezielt das Narrativ neuer E-Menschen erschaffen, Insassen einer imaginären digitalen Gemeinschaft der Instagram-Ästhetik, in der kohärente Interpretationsschemata der sozialen Realität und jeglicher kollektive Versuch diese zu überwinden, obsolet geworden sind. Nun haben die Bürger:innen jedoch über ihre vermeintlich digitale "Identität" hinaus auch eine materielle Existenz, und sie erleben die Folgen der hochstaplerischen und zutiefst undemokratischen Praktiken der neoliberalen Doktrin in ihrem täglichen Leben. Das geschieht manchmal in der Form von Projekten des individuellen Überlebens, die sich aber als unerreichbar erweisen, und manchmal geschieht es als soziale Erschütterung. Ob das gegenwärtige massenhafte Aufbegehren gegen das Totenschiff, das deadship des Neoliberalismus zur Entstehung einer neuen kritischen Bewegung zu führen vermag, hängt von zahlreichen Faktoren ab, wobei der entscheidende Faktor im Schmieden eines gemeinsamen und normativ bindenden Codes besteht, der konsistent sein soll und fähig, das neoliberale Übel sowie die daraus resultierenden sozialen Eruptionen zu entschlüsseln und abzufangen.
Die Proteste – mit dem 8. März als emblematischem Moment – vereinen eine Reihe von ermutigenden Elementen im Hinblick auf die Perspektive einer Neuzusammensetzung der Bewegung: die Bereitschaft zur Beharrlichkeit (eine Woche auf der Straße trotz polizeilicher Repression), das kollektive Imaginäre und die poetische und dramaturgische Artikulationsform der Forderungen, die Koordinierung der Aktionen zwischen bisher unverbundenen Kollektiven (Gewerkschaften, Studierendenvereinigungen, Studierendenausschüsse, zivilgesellschaftliche und politische Organisationen usw.), die landesweite Mobilisierung. Und das alles vor dem Hintergrund eines Streiks im ganzen Land, der außerhalb des erbärmlichen institutionellen Rahmens des GSEE [homolog zum nationalen Gewerkschaftsbund, Anm. d. R.] stattfand, der zeitgleich eine Gewerkschaftsgala in Kavouri feierte. Das ist eine gute Nachricht.
Junge Menschen sind in den letzten Jahren immer wieder auf die Straße gegangen. Gibt es einen roten Faden, der ihre Mobilisierungen verbindet?
Es ist das "nackte Leben". Also das verallgemeinerte Gefühl, dass "prekäres Leben" und "Leben in der Schwebe" nicht nur das Leben "vulnerabler" oder "stigmatisierter" sozialer Gruppen ist, sondern unser aller Leben. Dieses Gefühl der konstitutiven Schutzlosigkeit, des ungeschützten Lebens wurde während der Quarantäne und in ihrer Folge in gewisser Weise zu einem Common Sense. Es gab nicht nur die psychische Gewalt einer willkürlichen Todesdrohung und die physische Gewalt der Staatsapparate, die den Körper an ungeahnten Orten und zu ungeahnten Zeiten erwischte. Sondern es gab auch eine schrankenlose institutionelle Erpressung, die im Namen der Selbst-Responsibilisierung und der Verhängung exemplarischer Strafen in eine nahezu groteske Situation staatlicher Verantwortungslosigkeit, Straflosigkeit und Autoritarismus mündete. Hierbei begann das Versprechen der Funktionsfähigkeit des digitalen Staates harmonisch mit den archaischsten Formen der Reproduktion von Patronage, Herrschaft und sozialer Ungerechtigkeit zu koexistieren: die vierte industrielle Revolution zusammen mit dem super-verantwortlichen Bahnhofsvorsteher (der von der Regierungspartei eigesetzt wurde), die Predator-Abhörsoftware mit dem Neffen des Premierministers an der Spitze, usw. – In der Tat ist es möglicherweise an der Zeit, individuell Verantwortung zu übernehmen, indem wir kollektiv mehr als nur das nackte Leben fordern.
Der Artikel wurde am 12.3.2023 veröffentlicht in: Efimerida ton Syntakton
https://www.efsyn.gr/themata/thema-tis-efsyn/381603_mia-genia-sto-idio-bagoni
Interview: Dialekti Aggeli, Ntina Daskalopoulou
Mit herzlichem Dank an Loukia Kotronaki