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10 2000

Cultur and Crime

Hito Steyerl

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Ich bin an Einsamkeit gewöhnt. Ist Einsamkeit meine Kultur?

Vor zwei Tagen sitze ich im Bahnhofslokal. In der Zeitung wird über
Bombenanschläge gegen Synagogen berichtet. Ein Mann kommt her. Er lallt:
Bomben. Bomben. Mehr Bomben. Dann schreit er mir ins Gesicht: Und für dich brauchen wir Napalm.

Ist Napalm seine Kultur?

Zeitgleich wird ein 50jähriger Deutscher aus China von vier Jugendlichen angegriffen. Sie brüllen: "Du Ausländerschwein" und schlagen ihn, bis er blutet. Ich frage mich: Welche Kultur hat der Geschlagene? Oder aber umgekehrt: welche Kultur hat ihn geschlagen? Wenn er als Angehöriger von Kulturen beschrieben wird, wieso nicht seine Peiniger? Und was für eine Kultur ist eigentlich Rassismus?

Kultur ist ein weitläufiger Begriff. In seinem Land sei der Krieg zur Kultur geworden, schreibt ein Filmemacher aus dem Tschad. Kultur sei ein Vehikel von Zivilisation, Demokratisierung und Fortschritt, meinen wiederum andere, vor allem im globalen Norden. Was die einen als Möglichkeit der Befreiung empfinden, nehmen die anderen als Gewaltverhältnis wahr. Die einen nennen es Kultur, die anderen Verbrechen. Was mit Kultur gemeint ist, ereignet sich zwischen diesen beiden Polen. Es nützt nichts zu versuchen, den Begriff der Kultur per Dekret auf sein progressives Potential einzuschränken. Will man einen essenzialistischen Kulturbegriff vermeiden, so ist Kultur all das, was mit diesem Begriff vermittelt wird. Gewalt gehört dazu.

Ich habe einmal einen Film gedreht namens Homo Viator, der von Wallfahrtskirchen handelte. Es stellte sich heraus, dass in den meisten Fällen das Ritual der Wallfahrt auf dem Schauplatz eines Verbrechens vollzogen wurde. Frühe Pilger wurden an diesen Orten erschlagen, weil sie Fremde waren. Sie wurden verbrannt, zu Tode geprügelt, erwürgt, oder fielen auf andere Weise dem Lynchmob zum Opfer. Diese Morde schufen eine kohärente Gemeinschaft der Mörder, ebenso wie ein Netzwerk von Orten, wo diese Verbrechen vergötzt wurden. Auf diese Weise wird ein Rahmen geographischer und kultureller Orientierung hergestellt. Das österreichische Nationalheiligtum in Melk ist ebenfalls auf diese Weise entstanden. Kultur basiert hier direkt auf Verbrechen.

Tatsächlich stehen beide in engem Zusammenhang. Kultur entsteht im Spannungsfeld von Distinktion und Diskriminierung. Eine Kulturgemeinschaft wird dadurch geschaffen, dass die Grenzen der Übereinkunft abgesteckt werden. Man brüllt etwa: "Du Ausländerschwein!" Was wir Kulturgüter nennen, seien die Beutestücke, die im Triumphzug der Sieger mitgeschleift würden, schreibt Walter Benjamin. "Was er (der historische Materialist) an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann. (...) Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein."[1]

Kultur ist ritualisierte Gewalt. Dies wird evident, wenn der Horizont der Debatte über den westlichen Tellerrand hinaus erweitert wird. Feministische Theoretikerinnen aus dem globalen Süden etwa beschreiben kulturelle Formationen oftmals als Gewaltverhältnisse, gerade gegenüber Frauen. Brutale Verletzungen körperlicher Integrität wie genitale Verstümmelung, Witwenverbrennung, Brautkauf oder häusliche Gewalt werden vermittels kultureller Erklärungen als Traditionen und Gebräuche gesellschaftlich akzeptabel gemacht. Das Verbrechen wird somit als Kultur normalisiert. Das ist nicht nur im globalen Süden so: schließlich basiert auch der europäische Gründungsmythos der Entführung Europas auf der Geschichte einer Verschleppung und Vergewaltigung. Was wir somit für europäische Kultur halten, ereignet sich vor dem Hintergrund dieser Gewalttat.

Die Kategorien des Kulturellen klingen in all jenen fundamentalen Distinktionen an, die Unterdrückung und Gewalt ermöglichen. Gut. Böse. Normal. Anormal. Ehre. Schande. Reinheit. Unreinheit. Im Namen bestimmter Kulturen werden Frauen in der gewalttätigen Dunkelheit der Domestizierung verwahrt. Im Namen der Kultur werden sie ausgebeutet, verschleppt, verstümmelt und zum Schweigen gebracht. Kultur ist somit die normalisierte Gewalt eines Lebensstils. Oder auch: Gewalt als Gewohnheit.

Der Raum des Privaten

Kultur als Verbrechen ereignet sich unter spezifischen Bedingungen. Eine davon ist eine bestimmte Auffassung von Raumzeit. Sie ist bestimmt durch die ewige Wiederkehr bestimmter kultureller Gewohnheiten und begründet einen rechtlosen Raum von Privatheit und Willkür. Dieser Raum des Privaten ist von Ritual und Gewalt geprägt und politischer Argumentation und öffentlicher Kontrolle unzugänglich. Hannah Arendt grenzt diese Sphäre aufs schärfste von der des Politischen ab. Wo Privatheit zum Prinzip wird, herrschen Sklaverei und Willkür. Dieses Gewaltverhältnis wird als natürliche Ordnung verherrlicht. Dies ist das Grundprinzip der Ökonomie, die sich durch naturalisierte Bedürfnisse legitimiert.

Arendt insistiert darauf, dass sich die raumzeitliche Organisation der Privatsphäre in diesem Register des Ökonomischen und des mit ihm verbundenen ewigen Kreislaufs von Produktion und Konsumption bewegt. Es ist jene ewige Wiederkehr, die jede Möglichkeit eines Wandels durch die Form der Zeit selbst unterbindet. Sie wird als unveränderliche Ordnung der Dinge naturalisiert. Das Private ist der Ort, an dem die Zeit gewaltsam zum Teufelskreis gekrümmt wird, und wo die Natur durch Ritual, Wiederholung und Reproduktion regiert. Eine zyklische Wiederholung, die in der Form jener industriellen Produktion widerhallt, die an den Rändern spätkapitalistischer Produktion den Alltag bestimmt: als Re-Produktion. Hausarbeit, Heimarbeit. Reproduktion wird somit zum Begriff, der sich auf die Reproduktion von Machtbeziehungen als natürliche bezieht.

Mit der globalen Durchsetzung kapitalistischer Produktionsformen haben sich die Zonen der Privatisierung drastisch vermehrt. Der Raum des Privaten ist überall dort, wo die Sphäre des Politischen beseitigt wurde und Rechtlosigkeit herrscht: in Krieg und Bürgerkrieg ebenso wie im Gewaltverhältnis globaler Hyperexploitation in halbprivatisierten Freihandelszonen, Halb-Kolonien und Protektoraten. Am Schauplatz von Gewalt in der Familie. In der "national befreiten Zone" ebenso wie im Schubhaftgefängnis. Das Private herrscht dort, wo Politik nicht mehr hinreicht und das Gesetz von Sippe und Racket regiert.

Das Private bedeutet somit, der Möglichkeit der Veränderung beraubt und aus der Sphäre des Politischen ausgeschlossen zu sein. Das ist auch die ursprüngliche Bedeutung der Privatio: beraubt zu sein, und einen Verlust zu erleiden, in diesem Falle den Verlust jeglicher Alternative.

Domestication of desire

Genau das ist umgekehrt der Grund, wieso das schwarze Loch zwischen Kultur, Privatheit und Verbrechen im europäischen Westen als Territorium bürgerlicher Freiheit und Selbstverwirklichung besetzt wurde. Das Begehren nach einer Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse wurde in diesen domestizierten Raum verbannt. Die Sphäre des Privaten wurde individuell internalisiert: als bürgerliche Seele und somit als Reservat des Guten, Edlen und Schönen. Diese Eigenschaften sollten in der domestizierten Welt der Seele ausgebildet werden, nicht jedoch in der Außenwelt politischer und ökonomischer Verhältnisse. Sie wurden somit privatisiert.

Der Schauplatz gewohnheitsmäßigen Verbrechens wurde in das Heiligtum idealer Werte verwandelt, und somit in einen Ort, an dem die progressive Utopie des Liberalismus mit dem unaufhörlichen Kreislauf des Terrors von Konsum und Reproduktion in eins fiel.

"Die Kultur meint nicht so sehr eine bessere wie eine edlere Welt: eine Welt, die nicht durch einen Umsturz der materiellen Lebensordnung, sondern durch ein Geschehen in der Seele des Individuums herbeigeführt werden soll."[2]

Das Begehren nach einem besseren Leben wurde damit als Dekorationsstück bürgerlicher Innerlichkeit verdinglicht, nämlich als Kulturgegenstand, als Schmuckstück der Gelehrsamkeit. Diese Domestizierung des Begehrens fand statt, weil es in der Sphäre des Privaten völlig wirkungslos blieb, was die Veränderung ökonomischer und politischer Strukturen betraf. Abweichende Standpunkte wurden geduldet, sofern sie auf die Innerlichkeit des Geschmacks, des Gewissens bzw. der Privatmeinung beschränkt blieben: nicht jedoch als Insurgenz oder Unbotmäßigkeit gegenüber der Obrigkeit. Kant, der die französische Revolution intellektuell außerordentlich bewunderte, befand dennoch, dass die praktische Umsetzung jeglicher Revolution unter keinen Umständen legitim sei. Das Denken des Gelehrten und die private Meinung sollten zwar nicht eingeschränkt werden - wohl aber das politische Handeln.

Differenz statt Opposition

Vor diesem Hintergrund mag es paradox erscheinen, dass ausgerechnet die Sphäre des Privaten im Gefolge der neuen sozialen Bewegungen als Bereich der Emanzipation und der Befreiung ausgerufen wurde. Der Slogan der 70er, dass das Private politisch sei, klingt in diesem Kontext wie eine bedrohliche Voraussage. Sie erfüllte sich nicht durch die Politisierung des Privaten, sondern umgekehrt - durch die Privatisierung des Politischen. In diesem Kontext sind die kulturalistischen Praxen individueller Identitätspolitiken mit anderen Privatisierungsoffensiven zu vergleichen, etwa der massiven Privatisierung öffentlicher Räume, der Medien, der sozialen Aufgaben, oder ganzer Staaten und Landstriche. Es scheint, als habe sich der Raum des Privaten mitsamt der ihm innewohnenden naturalisierten ökonomischen Gewaltverhältnisse massiv ausgedehnt.

Im globalen Norden beherbergt diese Sphäre des Privaten eine Vielzahl verschiedener Lebensstilangebote. Diese suggererieren die Freiheit beliebiger Konstruierbarkeit der Verhältnisse - insofern sie private und auf die Anerkennung individuell kulturalisierter Identitäten beschränkt bleiben. Differenz wird somit innerhalb des Systems kultureller Domestizierung geduldet - nicht aber als Opposition gegenüber dem System selbst. Sie wird integriert, sofern sie eine kulturelle ist - gleichzeitig jedoch als politische negiert. Es ist gerade diese stetige Internalisierung und Integration in die Sphäre von Ökonomie und Privatheit, die das Verfahren kultureller Domestizierung charakterisiert. Politische Opposition wird somit durch kulturelle Differenz ersetzt. Wer für diese kulturelle Identität optiert, wird in der Differenz ihres/seines privaten Lebensstils anerkannt - indem sie/er gleichzeitig einwilligt, deren politischen Bedingungen gegenüber indifferent zu bleiben. Die Differenz im Kulturellen übersetzt sich also in die Indifferenz gegenüber dem Politischen.

Das Gesetz der "ungleichmäßigen Entwicklung"

Was im Diskurs kultureller Differenz somit notwendig aus dem Blick gerät, sind ihre politschen Bedingungen: Im Kontext internationaler Arbeitsteilung sind nur wenige in der Lage, Kultur als Werkzeug auch nur der privaten Veränderung zu verwenden. Eine weiße Mittelklassenexistenz des Nordens, egal ob weiblich oder männlich, hetero- oder homosexuell, wird nur durch die gleichzeitige Ausbeutung vor allem von Frauen aus dem Süden ermöglicht. Die Konstruktion der einen erfolgt auf Kosten der anderen, und so ist selbst die privateste Identitätspolitik in die Produktionsweisen des globalen Kapitalismus verstrickt. Die kulturelle Differenzierung der Privilegierten basiert somit hauptsächlich auf der Reproduktion von politischer und sozialer Ungleichheit. Was die einen kulturelle Differenz nennen, bedeutet für die anderen soziale und politische Diskriminierung. Die stetige Reproduktion von Ungleichheit bildet das Gesetz der "ungleichmäßigen Entwicklung" des globalen Kapitalismus. Diese "ungleichmässige Entwicklung", das Gesetz ökonomischer Apartheid, ist die Ursache globaler Polarisierung, Diskriminierung und Ausbeutung.

Was also wie eine Koinzidenz in einem zu weitläufigen Kulturbegriff aussah, nämlich die Verbindung von Kultur und Verbrechen, erweist seine Gültigkeit vor dem Hintergrund der Produktionsweisen des globalen Kapitalismus. "Die postmoderne multikulturalistische Identitätspolitik", schreibt Zizek, "diese immer weiter wachsende Blüte von Gruppen und Untergruppen in ihren hybriden und flüssigen Identitäten, eine jede auf ihrem Recht, ihr spezifisches Leben führen zu dürfen und/oder ihre spezifische Kultur auszuleben beharrend - eine solche unablässige Diversifikation ist nur denkbar und möglich vor dem Hintergrund kapitalistischer Globalisierung."

Die Indifferenz des kulturellen Relativismus verschleiert diesen grundlegenden Unterschied: die massiven globalen Machtgefälle in Bezug auf Selbstbestimmung, Handlungsfähigkeit und die Sicherung der Grundbedürfnisse. Der Begriff der Kultur verwandelt die Hierarchien globaler Privilegien in eine horizontale Anordnung einander indifferenter Kulturen.[3] Er ersetzt den Begriff der Klasse - nicht aber ihre Herrschaft.

Negativer Universalismus

Die TheoretikerInnen der Domestizierung handeln demgegenüber nicht von Kultur, sondern vom Verbrechen, das in ihrem Namen zur Gewohnheit wird. Es sind jedoch gerade die mit Gewalt partikularisierten, diejenigen, die im Ausnahmezustand leben, die universalistisch argumentieren. Sie appellieren an die Menschenrechte, an Politik und Öffentlichkeit, an Ethik und Gerechtigkeit. Aber niemand hört zu. Diejenigen, an die sie appellieren, haben es vorgezogen, sich in kulturverzückte Stämme zu verwandeln, die im Privaten schwelgen. Die als kulturelle Differenz ausgedrückte globale Ungleichheit wird positiv gefasst und als Fetisch verdinglicht. Sie mutiert zur ahistorischen Essenz oder zur exotisch pikanten Ware. Der Universalismus hingegen, auf dem die Partikularisierten bestehen, wurde von seinen Verwaltern schon längst kulturell relativiert: als eurozentrische Ideologie des Westens. Nur wenn es gerade die Interessen westlicher Länder oder Konzerne betrifft, wird im Namen universalistischer Werte wie der Menschenrechte gehandelt. Der Universalismus des Westens ist ein ebenso kulturalisierter wie selektiver Universalismus. Daran gibt es nicht viel zu bestreiten. Wohl aber an der Konsequenz dieser Feststellung: der Indifferenz.

Soll dagegen der Begriff der Differenz gerettet werden, muss er im Negativen belassen werden, in seiner politischen Form als Ungleichheit. Diese bezieht sich auf die einzigen Universalien, die heutzutage weltweite Gültigkeit besitzen: auf Unterdrückung, Ausbeutung, auf Diskriminierung und Unterwerfung, mit einem Wort, auf die Positioniertheit im globalen Machtgefälle und auf die Differenzen, die sich in Bezug auf den Zugang zu Ressourcen wie Bildung, Arbeit, Gesundheit, Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung ergeben. Ein universalistischer Diskurs, der sich auf diese Unterschiede bezieht, ist somit ein negativer Universalismus, der sich nicht auf das relativierende Nebeneinander verschiedener Kulturen beschränkt. Dieser negative Universalismus ist selbst eine historische Kategorie. Er basiert nicht auf metaphysischen Naturgesetzen oder kulturellen Analogien, sondern geht von der Tatsache aus, dass die Produktionsweisen des globalen Kapitalismus derzeit fast jeden Menschen direkt betreffen: die einen als Kultur, die anderen als Verbrechen. Wenn der globale Kapitalismus also die einzige derzeit existierende Universalie darstellt, bleibt nur eine Form, die ihm innewohnende Dichotomie von Kultur und Verbrechen zu überwinden - ihn zu negieren und sich auf politischen Widerstand zu einigen.

 


 

[1] Walter Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, in: Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsaetze, FfM 1978, S. 83.

[2] Herbert Marcuse, Ueber den affirmativen Charakter der Kultur, in: Kultur und Gesellschaft 1, Ffm, 1973, S. 71.

[3] Siehe auch die derzeitigen Aufrufe der Konservativen an MigrantInnen in Deutschland, sich gefälligst der deutschen "Leitkultur" anzupassen.