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01 2007

Extradisziplinäre Forschungen. Für eine neue Institutionenkritik

Brian Holmes

Übersetzt von Thomas Waibel

Was ist die Logik, die Notwendigkeit oder das Begehren, das immer mehr KünstlerInnen dazu bringt, außerhalb der Grenzen ihrer eigenen Disziplin zu arbeiten, die durch die Begriffe der freien Reflexivität und der reinen Ästhetik definiert, in der Verbindung Galerie-Zeitschrift-Museum-Sammlung verkörpert sind und die von der Erinnerung an die normativen Genres der Malerei und Bildhauerei heimgesucht werden?

Pop-Art, Concept-Art, Body-Art, Performance und Video markierten schon in den 1960 und 1970ern einen Bruch mit dem disziplinären Rahmen. Man könnte argumentieren, dass diese dramatisierten Ausbrüche lediglich die Themen, Medien oder expressiven Techniken in das importierten, was Ives Klein die "spezialisierte" Umgebung von Galerie und Museum genannt hat, die vom Vorrang des Ästhetischen gekennzeichnet ist und von Kunstfunktionären verwaltet wird. Genau diese Argumente hat Robert Smithson 1972 in seinem Text über die „Kulturbeschränkung“ eingesetzt und dann Brian O'Doherty in seinen Thesen zur Ideologie des weißen Kubus[1] wieder aufgenommen. Sie besitzen noch immer sehr viel Gültigkeit. Gerade jetzt sind wir mit einer neuen Serie von Ausbrüchen unter solchen Namen konfrontiert wie Net.art, Bio-Art, Visual Geography, Space-Art und Database-Art – zu denen man die Archi-Art, oder die Kunst der Architektur, die überraschenderweise nie so getauft wurde, ebenso zählen könnte wie die Machine-Art, die bis zum Konstruktivismus der 1920er zurück reicht, oder sogar die „Finance-Art“, deren Geburt in der Casa Encendida von Madrid im vergangenen Sommer angekündigt wurde.

Der heterogene Charakter dieser Aufzählung deutet ihre Anwendung in allen Bereichen an, in denen sich Theorie und Praxis treffen. In den künstlerischen Formen, die daraus hervorgehen, wird man immer Überreste des alten modernistischen Tropismus entdecken, durch den die Kunst sich vor allem selbst bezeichnet und die Aufmerksamkeit zurück auf ihre eigenen Operationen von Ausdruck, Repräsentation, Metaphorisierung oder Dekonstruktion lenkt. Unabhängig davon, um welches „Sujet“ immer es sich handelt, tendiert die Kunst dazu, aus ihrer Selbstreflexion ein unterscheidendes oder identifizierendes Merkmal und sogar ihr raison d’être zu machen, in einer Geste, deren philosophische Legitimität von Kant etabliert wurde. Aber in der Art von Arbeit, die ich besprechen will, steht noch etwas mehr auf dem Spiel.

Wir können uns ihr mit dem Begriff annähern, mit dem das Nettime-Projekt seine kollektiven Absichten zu definieren pflegte. Für die Künstler, Theoretiker, Medienaktivisten und Programmierer, die diese Mailing-list – einer der wichtigsten Vektoren von net.art in den späten 1990ern – bewohnten, ging es darum, eine „immanente Kritik“ des Internet, d.h. der technowissenschaftlichen Infrastruktur, die sich damals in Konstruktion befand, zu formulieren. Diese Kritik wurde innerhalb des Netzwerks selbst ausgetragen, indem dessen Sprachen und technische Werkzeuge benutzt und auf seine charakteristischen Objekte mit der Absicht bezogen wurden, seine Entwicklung zu beeinflussen oder sogar direkt zu gestalten – ohne aber die Verbreitungsmöglichkeiten außerhalb dieser Verbindungen abzulehnen.[2] Es wurde eine Bewegung in zwei Richtungen entworfen, die darin besteht, ein Feld zu besetzen, das das Potenzial hat, die Gesellschaft aufzurütteln (Telematik) und dann aus diesem spezialisierten Bereich mit der explizit formulierten Absicht hinauszustrahlen, eine Veränderung sowohl in der Disziplin der Kunst auszulösen (die für zu formalistisch und narzisstisch gehalten wird, um aus ihrem eigenen bezaubernden Zirkel auszubrechen), als auch in der Disziplin der Kulturkritik (die für zu akademisch und historizistisch gehalten wird, um den gegenwärtigen Veränderungen zu begegnen) und sogar in der „Disziplin“ – wenn man sie so nennen kann – des linken Aktivismus (der für zu doktrinär, zu ideologisch gehalten wird, um die Ereignisse der Gegenwart zu begreifen).

Hier sind ein neuer Tropismus und eine neue Art von Reflexivität am Werk, die KünstlerInnen ebenso wie TheoretikerInnen und AktivistInnen an einem Übergang jenseits der Grenzen beteiligt, die ihren Praktiken traditionellerweise zugeschrieben werden. Das Wort Tropismus drückt den Wunsch oder die Notwendigkeit aus, sich etwas anderem zuzuwenden, einem externen Feld oder einer externen Disziplin; während der Begriff von Reflexivität jetzt eine kritische Rückkehr zum Ausgangpunkt anzeigt, um die ursprüngliche Disziplin zu verändern, ihre Isolierung zu beenden und neue Möglichkeiten von Ausdruck, Analyse, Kooperation und Verbindlichkeit zu eröffnen. Diese vor und zurück Bewegung, oder besser diese transformierende Spirale ist das Bewegungsprinzip dessen, das ich extradisziplinäre Forschungen nennen werde.

Der Begriff wurde im Versuch geschmiedet, über eine Art von doppelter Ziellosigkeit hinauszugehen, die sich auf die gegenwärtige Deutungspraxis auswirkt, einen durchaus doppelten Dérive, doch ohne die revolutionären Qualitäten, nach denen die Situationisten gesucht hatten. Ich denke dabei erstens an die Inflation von interdisziplinären Diskursen in den akademischen und kulturellen Kreisen: ein virtuoses System der Kombinatorik füttert die symbolische Mühle des kognitiven Kapitals, indem es als eine Art von Zusatz zu den endlosen Windrädern der Finanzierung selbst agiert (der Kurator Hans-Ulrich Obrist ist ein Spezialist dieser Kombinatorik). Zweitens gibt es einen Zustand von Disziplinlosigkeit, der ein unerforschter Effekt der anti-autoritären Revolten der 1960er Jahre ist, in der sich das Subjekt einfach den ästhetischen Forderungen des Marktes hingibt (in der Neopop-Strömung bedeutet Disziplinlosigkeit die endlose Wiederholung und Vermischung im Fluss vorgefertigter kommerzieller Bilder). Obwohl sie nicht dasselbe bedeuten, sind Interdisziplinarität und Disziplinlosigkeit die beiden meist gebrauchten Entschuldigungen für die Neutralisierung bedeutender Untersuchungen geworden.[3] Doch es gibt keinen Grund sie anzuerkennen.

Das extradisziplinäre Bestreben besteht darin, rigorose Forschungen auf Gebieten durchzuführen, die so weit von der Kunst entfernt sind wie Finanz, Biotechnologie, Geographie, Urbanismus, Psychiatrie, das elektromagnetische Spektrum, etc., um auf diesen Gebieten das „freie Spiel der Möglichkeiten“ und das intersubjektive Experiment zu ermöglichen, die für die moderne Kunst charakteristisch sind. Es besteht aber auch im Versuch, innerhalb derselben Bereiche den spektakulären oder instrumentellen Gebrauch auszumachen, der so oft von der subversiven Freiheit des ästhetischen Spiels gemacht wird – wie es der Architekt Eyal Weizman auf exemplarische Weise tut, wenn er die Vereinnahmung untersucht, die das israelische und amerikanische Militär von etwas macht, das anfänglich als subversive architektonische Strategie entworfen worden war. Weizman fordert mit seinen Karten der Sicherheitsinfrastruktur in Israel die Militärs auf ihrem eigenen Gebiet heraus; aber was er davon zurückbringt, sind Elemente für eine kritische Überprüfung dessen, was seine exklusive Disziplin gewesen war.[4] Diese komplexe Bewegung, die die Existenz der verschiedenen Disziplinen nie vernachlässigt, sich aber auch nie von ihnen einfangen lässt,  kann einen neuen Ausgangspunkt für das bieten, was Institutionskritik genannt worden ist.

 

Geschichten in der Gegenwart

Was retrospektiv als „erste Generation“ der Institutionenkritik etabliert worden ist, schließt Personen wie Michael Asher, Robert Smithson, Daniel Buren, Hans Haacke und Marcel Broodthaers ein. Sie haben die Konditionierung ihrer eigenen Aktivität im ideologischen und ökonomischen Rahmen des Museums untersucht, und zwar mit dem Ziel, aus ihm auszubrechen. Sie hatten zu den anti-institutionellen Revolten der 1960er und 1970er Jahre und zur begleitenden philosophischen Kritik eine starke Beziehung.[5] Der beste Weg, ihren besonderen Blickwinkel auf das Museum zu begreifen, ist ihn nicht als selbst verordnete Grenze oder als Fetischisierung der Institution zu verstehen, sondern als Teil einer materialistischen Praxis, die sich ihres Kontexts deutlich bewusst ist, aber darüber hinausgehende transformatorische Absichten hegt. Wie auch immer, um herauszufinden wo ihre Geschichte hinführt, müssen wir die Schriften von Benjamin Buchloh betrachten und uns ansehen, wie er die Entstehung der Institutionskritik entwirft.

In einem Text, der „Conceptual Art 1962-1969“ betitelt ist, führt Buchloh zwei entscheidende Entwürfe von Lawrence Weiner an. Der erste ist „Ein Viereck, von einem gebrauchten Teppich abgetrennt“ und der zweite „Eine 36’’ x 36’’ Entnahme einer Lattenverschalung oder einer Stützmauer aus Gips oder einer Sperrholzwand“ (beide 1968)*. Bei beiden geht es darum, die möglichst am meisten selbstbezügliche und tautologische Form zu nehmen – das Quadrat, bei dem jede Seite die anderen vervielfältigt und wiederholt – und in eine Umgebung einzufügen, die von den Determinierungen der sozialen Welt bestimmt ist. Buchloh schreibt: „Beide Interventionen schreiben sich – während sie ihre strukturellen und morphologischen Verbindungen mit den formalen Traditionen durch den Respekt vor der klassischen Geometrie beibehalten... – selbst in die tragenden Oberflächen der Institutionen u/o in die Heimat ein, die diese Tradition immer verleugnete.... Auf der einen Seite wird die Erwartung zerstreut, den Kunstwerken nur in einer ‚spezialisierten’ und ‚qualifizierten’ Umgebung zu begegnen... Auf der anderen Seite könnte keine dieser Oberflächen je unabhängig von ihrer institutionellen Verortung begriffen werden, denn die physische Einschreibung in jede besondere Oberfläche bringt unvermeidlich kontextuelle Lesarten hervor...“[6]

Weiners Aussagen sind offensichtlich eine Variante von immanenter Kritik, und sie funktionieren auf gleicher Ebene mit den diskursiven und materiellen Strukturen der Kunstinstitutionen; aber sie fungieren als rein logische Deduktion von minimalistischen und konzeptionellen Voraussetzungen. Sie nehmen die symbolischen Aktivitäten von Gordon Matta-Clarks „Anarchitecture“-Werken ebenso deutlich vorweg, wie ‚Zertrümmerung’ (1973) oder ‚Fensterbruch’* (1976), die den Galerieraum mit urbaner Ungleichheit und rassistischer Diskriminierung konfrontiert hatten. Von diesem Ausgangspunkt aus hätte eine Geschichte der künstlerischen Kritik über die Künstlermobilisierung rund um die AIDS-Epidemie in den späten 1980ern zu den gegenwärtigen Formen von Aktivismus und technopolitischer Forschung führen können. Aber die am weitesten verbreiteten Lesarten der Kulturgeschichte der 1960er und 1970er Jahre haben diese Wendung nie gemacht. Dem Untertitel von Buchlohs bekanntem Text zufolge nahm die teleologische Bewegung der spät-modernistischen Kunst in den 1970ern ihren Kurs „von der Ästhetik der Verwaltung zur institutionellen Kritik“. Das käme einer strikt Frankfurterischen Vision vom Museum als einer idealisierten Aufklärungsinstitution gleich, die vom bürokratischen Staat und vom Marktspektakel verdorben wurde.

Es könnten auch andere Geschichten geschrieben werden. Auf dem Spiel steht der gespannte Double-bind zwischen dem Wunsch, die spezialisierte „Zelle“ (wie Brian O’Doherty die modernistische Galerie beschrieb) in ein bewegliches Potenzial von lebendigem Wissen zu verwandeln, das in die Welt hinausreicht und die Gegen-Bewusstwerdung, nach der alles, was diesen spezialisierten ästhetischen Raum betrifft, eine Falle ist und als eine Art Einschluss institutionalisiert wurde. Diese Spannung hat die prägnanten Interventionen von Michal Asher hervorgebracht, die Presslufthammerangriffe von Hans Haacke, die paradoxen Verschiebungen von Robert Smithson oder den melancholischen Humor und die poetische Phantasie von Marcel Broodthaers, dessen versteckte Triebfeder ein jugendliches Engagement mit revolutionärem Surrealismus war. Es ist entscheidend, die Vielfalt und Komplexität von KünstlerInnen nicht zu reduzieren, die sich nie freiwillig zu einer Bewegung zusammengeschlossen haben. Eine andere Reduktion kommt vom besessenen Blickwinkel auf einen besonderen Ort der Präsentation, das Museum, das entweder als ein verschwindendes Relikt der „bourgeoisen öffentlichen Sphäre“ beklagt, oder in einem fetischisierenden Diskurs von „site specificity“ verherrlicht wird. Diese beiden Fallen werden im Diskurs der Institutionskritik aufgestellt, der in den späten 1980ern und 90ern in den Vereinigten Staaten deutliche Form annimmt.

Das war die Periode der so genannten „zweiten Generation“. Unter den meist zitierten Namen finden sich Renee Green, Christian Philipp Müller, Fred Wilson oder Andrea Fraser. Sie verfolgten die systematische Erforschung der musealen Repräsentation, indem sie deren Verbindung zur ökonomischen Macht untersuchten und deren epistemologische Wurzeln in einer kolonialen Wissenschaft, die die Anderen als Objekte behandelt, um sie in einer Vitrine auszustellen. Aber sie fügten dem eine subjektivierende Wendung hinzu, die ohne den Einfluss des Feminismus und der postkolonialen Geschichtsschreibung unvorstellbar ist und die es ihnen erlaubte, äußerliche Machthierarchien als Zwiespältigkeiten innerhalb des Selbst zu entwerfen und damit eine konfliktive Sensibilität für die Koexistenz vielfältiger Formen und Vektoren der Repräsentation zu eröffnen. Es gibt dabei insbesondere im Werk von Renee Green eine fesselnde Auseinandersetzung zwischen spezialisierter Diskursanalyse und verkörpertem Experimentieren mit menschlichen Sinnen. Doch die meisten dieser Arbeiten wurden in Form von Metareflexionen über die Grenzen der künstlerischen Praktiken selbst durchgeführt (Museumsbildschirmattrappen oder verschriftete Video Performances) und sie wurden in Institutionen aufgeführt, die immer unverhohlener ökonomisiert waren – bis zu dem Punkt, an dem es zunehmend schwerer wurde, die kritische Forschung von ihren eigenen Vorwürfen und ihren oft verheerenden Schlussfolgerungen abzuschirmen

Dieser Zustand von einem kritischen Prozess, der sich selbst zum Objekt nimmt, brachte Andrea Fraser neuerdings dazu, die künstlerische Institution als unüberschreitbaren, alles definierenden Rahmen zu beschreiben, der durch seine eigene nach innen gerichtete Kritik aufrechterhalten wird.[7] Bourdieus deterministische Analyse von der Geschlossenheit der sozio-professionellen Bereiche, vermischt mit einer gründlichen Verwechslung von Webers eisernem Käfig mit Foucaults Wunsch „frei von sich selbst zu werden“, ist hier verinnerlicht in eine Verwaltbarkeit des Versagens, in der das Subjekt nicht mehr tun kann, als sein eigenes psychisches Gefängnis entschädigt durch einige wenige ästhetische Luxusgüter zu betrachten.[8] Unglücklicherweise fügt das Broodthaers hellsichtigem Testament, das 1975 auf einer einzigen Seite formuliert wurde, sehr wenig hinzu.[9] Für Broodthaers war die einzige Alternative zu einem schuldigen Gewissen die selbstverordnete Blindheit – nicht gerade eine Lösung! Doch Fraser akzeptiert sie, indem sie ihr Argument als einen Versuch darstellt, „die ganze Institution für das zu verteidigen, was die Institution der Avantgarde-‚Selbstkritik’ als Potenzial geschaffen hatte: die Institution der Kritik.“ Ohne irgendeine antagonistische oder agonistische Beziehung zum Status Quo, und vor allem ohne irgendeine Absicht, diesen zu verändern, wird das Verteidigte zu wenig mehr als einer masochistischen Variante der sich selbst bedienenden „institutionellen Kunsttheorie“, die von Danto, Dickie und deren Nachfolger vorangetrieben worden ist (eine Theorie von gegenseitiger und zirkulärer Anerkennung unter den Mitgliedern eines objektorientierten Milieus, das irreführenderweise eine „Welt“ genannt wird). Die Schleife ist geschlungen, und was ein großformatiges, komplexes, nachforschendes und transformierendes Projekt der 1960er- und 70er-Jahre-Kunst war, scheint eine Sackgasse erreicht zu haben mit den institutionellen Konsequenzen von Selbstgefälligkeit, Bewegungslosigkeit, Autonomieverlust und Kapitulation vor den verschiedenen Formen der Instrumentalisierung...

 

Phasenverschiebung

Das Ende scheint logisch, aber manche wollen noch viel weitergehen. Zunächst sind die Mittel, Wege und Ziele einer möglichen dritten Phase der Institutionskritik neu zu definieren. Der Begriff der Transversalität, der von den PraktikerInnen der institutionellen Analyse entwickelt worden ist, hilft, um die Montage zu theoretisieren, die Akteure und Ressourcen der Kunstbereiche mit Projekten und Experimenten verbindet, die sich nicht innerhalb dieser Bereiche erschöpfen, sondern sich vielmehr anderswo ausbreiten.[10] Diese Projekte können nicht mehr länger unzweideutig als Kunst definiert werden. Sie sind im Gegenteil auf einem Austausch zwischen den Disziplinen gegründet und beziehen meist das wirklich kritische Reservoir von marginalen oder gegenkulturellen Positionen mit ein – soziale Bewegungen, politische Vereinigungen, Besetzungen, autonome Universitäten – die nicht auf eine allumfassende Institution reduziert werden können.

Die Projekte tendieren zur Kollektivität, auch wenn sie dabei die Tendenz zeigen, den Schwierigkeiten, die die Kollektivität mit sich bringt, zu entfliehen, indem sie als Netzwerke agieren. Ihre ErfinderInnen, die im Zeitalter des Universums des kognitiven Kapitalismus erwachsen geworden sind, beziehen sich auf komplexe soziale Funktionen, die sie in all ihren technischen Details im vollen Bewusstsein dessen begreifen, dass die zweite Natur der Welt heute von Technologie und organisatorischer Form geprägt ist. In beinahe jedem Fall ist es politisches Engagement, das in ihnen den Wunsch weckt, ihren anspruchsvollen Forschungen jenseits der Grenzen einer künstlerischen oder akademischen Disziplin nachzugehen. Doch die analytischen Prozesse sind gleichzeitig auch expressiv, und darum ist jede komplexe Maschine überschwemmt von Affekt und Subjektivität. Wenn diese subjektiven und analytischen Seiten in den neuen produktiven und politischen Kontexten der Kommunikationsarbeit eng ineinander greifen (und nicht nur in den Metareflexionen, die einzig fürs Museum inszeniert werden), dann kann man von einer „dritten Phase“ der institutionellen Kritik sprechen – oder besser von einer „Phasenverschiebung“ in das, was früher als öffentliche Sphäre bekannt war, ein Wechsel, der die Zusammenhänge und Formen der kulturellen und intellektuellen Produktion im 21. Jahrhundert weitgehend transformiert hat.

Eine Ausgabe von Multitudes, die vom Web-Journal transversal mit herausgegeben wurde, gibt Beispiele von dieser Vorgangsweise.[11] Das Ziel besteht darin, das problematische Feld einer erkundenden Praxis zu entwerfen, die nicht neu ist, aber zweifellos einer Dringlichkeit entspringt. Anstatt ein kuratorisches Rezept anzubieten, wollen wir neues Licht auf die alten Probleme vom Einschluss in spezialisierte Disziplinen werfen, auf die davon verursachte intellektuelle und affektive Lähmung und die  Entfremdung von jeder demokratischen Entscheidungsfindungsmöglichkeit, die insbesondere in hochkomplexen technologischen Gesellschaften unvermeidlich darauf folgt. Ausdrucksformen, öffentliche Intervention und kritische Reflexivität, die als Antwort auf diese Verhältnisse entwickelt worden sind, können als extradisziplinär charakterisiert werden – ohne jedoch den Begriff auf Kosten des Horizonts zu fetischisieren, den er zu markieren versucht.

Wenn man die Arbeiten und besonders die Artikel betrachtet, die von technopolitischen Themen handeln, werden sich manche vielleicht fragen, ob es nicht interessant gewesen wäre, den Namen Bruno Latour anzurufen. Sein Anliegen ist es „Dinge öffentlich zu machen,“ oder genauer, die besondere Begegnung von komplexen technischen Objekten mit spezifischen Prozessen der Entscheidungsfindung zu erläutern (seien diese de jure oder de facto politisch). Dafür, sagt er, muss man in der Form von „Beweisen“ verfahren, die so rigoros wie möglich gesetzt werden, aber zur gleichen Zeit notwendigerweise so „durcheinander“ sind wie die Dinge der Welt selbst.[12]

Es gibt etwas Interessantes in Latours Erprobungsmaschine (auch wenn sie unmissverständlich zur akademischen Produktivität von „Interdisziplinarität“ neigt). Die Sorge darum, wie Dinge in der Gegenwart gestaltet werden und der Wunsch nach einem konstruktiven Eingriff in die Prozesse und Entscheidungsfindungen, die sie bestimmen, ist charakteristisch für diejenigen, die nicht mehr länger von einem absoluten Außen und einer totalen Revolution des Jahres Null träumen. Wie auch immer, es genügt, die KünstlerInnen zu betrachten, die wir zur Multitudes-Ausgabe eingeladen haben, um die Unterschiede zu erkennen. So sehr man sich auch bemühen mag, die 1750 km der Baku-Tiblisi-Ceyhan-Pipeline können nicht auf den „Beweis“ von irgendetwas verkürzt werden, auch wenn Ursula Biemann sie in die zehn bestimmten Bereiche der Schwarzmeerdateien verdichtet hat.[13] Indem sie Aserbaidschan, Georgien und die Türkei durchquert, bevor sie ins Mittelmeer mündet, stellt die Pipeline das Objekt politischer Entscheidungen dar, auch wenn sie sich jenseits von Vernunft und Vorstellung erstreckt und den ganzen Planeten mit der geopolitischen und ökologischen Ungewissheit der Gegenwart verknüpft.

Auf ähnliche Weise entstand der paneuropäische Transport- und Kommunikationskorridor, der durch das ehemalige Jugoslawien, Griechenland und die Türkei geht, aus einem der komplexesten Infrastrukturplanungsprozesse unserer Epoche, die auf transnationaler und transkontinentaler Ebene durchgeführt worden sind. Er ist von den Teilnehmern der Timescapes-Gruppe, gegründet von Angela Melitopoulos, gefilmt worden. Die präzis gestalteten ökonomischen Projekte sind von der konfliktiven Erinnerung an ihre historischen Präzedenzfälle unabtrennbar und dabei der Vielheit von Verwendungsweisen unmittelbar ausgeliefert, einschließlich der Inszenierung von massiven selbstorganisierten Protesten im bewussten Widerstand gegen die Manipulation des täglichen Lebens durch den Planungsprozess des Korridors. Menschliche Wesen wollen nicht zwangsläufig den lebendigen „Beweis“ von ökonomischen Thesen abgeben, die von oben herab mit machtvollen und raffinierten Apparaten durchgeführt werden – inklusive medialer Maßnahmen, die ihre Bilder und innersten Affekte verzerren. Das eindrückliche Schild eines anonymen Protestierenden, das während der Demonstrationen, die das EU-Treffen in Thessaloniki 2003 umgaben, vor den Fernsehkameras geschwenkt wurde, drückt all das aus: JEDE ÄHNLICHKEIT MIT GEGENWÄRTIGEN PERSONEN ODER EREIGNISSEN IST UNBEABSICHTIGT.[14]

Die Kunstgeschichte ist in die Gegenwart getreten, und die Kritik der Repräsentationsbedingungen ist auf die Straßen hinaus geströmt. Doch in derselben Bewegung haben die Straßen ihren Platz in unseren Kritiken eingenommen. In den philosophischen Essays, die wir ins Multitudes-Projekt aufgenommen haben, reimt sich Institution und Konstitution immer auf Destitution.[15] Der besondere Blick auf extradisziplinäre künstlerische Praktiken bedeutet nicht, dass auf radikale Politik vergessen wurde, ganz im Gegenteil. Heute mehr als je zuvor, muss jede konstruktive Forschung die Widerstandsniveaus potenzieren.



[1] Robert Smithson, „Cultural Confinement“ (1972), in Jack Flam (Hg.), Robert Smithson: The Collected Writings, Berkeley, U.C. Press, 1996, deutsche Übersetzung: Kulturbeschränkung, in Christian Kravagna (Hg.), Das Museum als Arena. Institutionskritische Texte von KünstlerInnen, Köln, König, 2001, 17f.; Brian O’Doherty, Inside the White Cube: The Ideology of the Gallery Space (erweiterte Edition), Berkeley, U.C. Press, 1976/1986.

[2] Vgl. die Einführung zur Anthologie: ReadMe!, New York, Autonomedia, 1999. Eines der besten Beispiele von immanenter Kritik ist das Projekt „Name Space“ von Paul Garrin, das dazu beitrug das Domain Name System (DNS) neu zu bearbeiten, das das Netz zu einem navigierbaren Raum macht; S. 224-29.

[3] Vgl.: Brian Holmes, „L’extradisciplinaire,“ in Hans-Ulrich Obrist u. Laurence Bossé (Hg.), Traversées, cat. Musée ‘art moderne de la Ville de Paris, 2001.

[4] Eyal Weizman, „Durch Wände gehen“, http://transform.eipcp.net/transversal/0507/weizman/de

[5] Vgl. Stefan Nowotny, „Anti-Kanonisierung. Das differenzielle Wissen der Institutionskritik“, http://transform.eipcp.net/transversal/0106/nowotny/de

* Die Titel der Werke im Original: ‚A Square Removed from a Rug in Use’ und ‚A 36”x 36” Removal to the Lathing or Support Wall of Plaster or Wallboard from a Wall’. (A.d.Ü.)

[6] Benjamin Buchloh, „Conceptual Art 1962-1969: From the Aesthetics of Administration to the Critique of Institutions,“ October 55 (Winter 1990). Eine gekürzte deutsche Version des Textes ist veröffentlicht als "Von der Ästhetik der Verwaltung zur institutionellen Kritik. Einige Aspekte der Konzeptkunst von 1962-1969", in Marie Luise Syring (Hg.),  Um 1968. Konkrete Utopien in Kunst und Gesellschaft, Köln, DuMont 1990, 86-99.

* Die Titel der Werke im Original: ‚Splitting’ und ‚Window Blow-Out’. (A.d.Ü.)

[7] „So wie die Kunst nicht außerhalb des Kunstbereichs existieren kann, können wir nicht außerhalb des Kunstbereichs existieren, zumindest nicht als Künstler, Kritiker, Kuratoren, etc... wenn es für uns kein Außen gibt, so nicht deswegen, weil die Institution perfekt geschlossen ist, oder als Apparat in einer ‚vollständig verwalteten Welt’ existiert, oder allumfassend in Größe und Reichweite gewachsen ist. Es ist, weil die Institution innerhalb von uns selbst ist und wir nicht aus uns heraus können.“ Andrea Fraser, „From the Critique of Institutions to the Institution of Critique,“ in John C. Welchman (ed.), Institutional Critique and After, Zürich, JRP/Ringier 2006.

[8] Vgl.: Gerald Raunig, „Instituierende Praxen. Fliehen, Instituieren, Transformieren“, http://transform.eipcp.net/transversal/0106/raunig/de

[9] Marcel Broodthaers, „To be pensant... or not to be. To be blind.“ (1975), in October 42, „Marcel Broodthaers: Writings, Interviews, Photographs“ (Fall 1987).

[10] Vgl. Félix Guattari, Psychanalyse et transversalité: Essais d’analyse institutionelle (1972), Paris, La Découverte, 2003.

[11] Vgl. „Extradisciplinaire,“ http://transform.eipcp.net/transversal/0507

[12] Bruno Latour, Peter Waibel (Hg.), Making Things Public: Atmospheres of Democracy, Karlsruhe, ZKM, 2005.

[13] Die Videoinstallation ‚Schwarzmeerdateien’ von Ursula Biemann, die im Kontext des Projekts ‚Transkulturelle Geographien’ hergestellt worden ist, wurde mit den anderen Arbeiten dieses Projekts in Kunst-Werke in Berlin vom 15. Dez. – 26. Feb. 2006 ausgestellt und danach in der Tapies Stiftung in Barcelona vom 9. März – 6. Mai 2006 und von Anselm Franke (Hg. u. Kurator) in B-Zone publiziert: Becoming Europe and Beyond, cat., Berlin, KW/Actar, 2005.

[14] Die Videoinstallation Corridor X von Angela Melitopoulos mit der Arbeit der anderen Mitglieder von Timescapes wurde in B-Zone publiziert und ausgestellt: Becoming Europe and Beyond, op. cit.