01 2006
Instituierende Praxen
Fliehen, Instituieren, Transformieren
Wenn wir in unserem Projekt transform die provisorische These aufstellen, dass nach den zwei Phasen der Institutionskritik in den 1970er und 1990er Jahren eine neue Phase entstehen würde[1], dann fußt diese These weniger auf empirischem Befund als auf politischer wie theoretischer Notwendigkeit, die an einem Blick auf die Einsätze der Institutionskritik selbst deutlich wird. Beide Stränge der inzwischen kanonisierten Praxis der Institutionskritik hatten ihre kontextbedingten Strategien und Methoden, waren einander zugleich ähnlich (ähnlicher, als es die Abgrenzungen des kunsthistorischen und kunstkritischen Kanons nahe legen) und unterschiedlich je nach gesellschaftlichen und politischen Umständen. Vor allem jene Umstände haben sich massiv verändert, seitdem Michael Asher, Robert Smithson, Daniel Buren, Hans Haacke, Marcel Broodthaers und andere die erste Welle der später so genannten Institutionskritik eingeleitet haben, die fast nahtlos in die vielfach verästelten, unter demselben Namen firmierenden künstlerischen Projekte der späten 1980er und der 1990er übergingen. So Institutionskritik nicht als im Kunstfeld etablierte und in dessen Regeln eingeschlossene fest- und stillgestellt werden soll, muss sie sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen weiter entwickeln, vor allem auch Anschluss finden an andere Kritikformen innerhalb und außerhalb des Kunstfelds, wie sie gegen die jeweiligen Verhältnisse oder auch vor deren Ausformung[2] entstehen. Vor dem Hintergrund eines solchen transversalen Austausches von Kritikformen, aber auch jenseits der Imagination von herrschafts- und institutionsfreien Räumen wäre Institutionskritik zugleich als kritische Haltung und als instituierende Praxis zu reformulieren.
Michel Foucault beschrieb 1978 in seinem Vortrag mit dem Titel "Qu’est-ce que la critique?" die Ausbreitung und Vervielfältigung der Gouvernementalität im Westeuropa des 16. Jahrhunderts und meinte, dass sich mit dieser Gouvernmentalisierung aller möglichen Lebensbereiche, und schließlich des Selbst, auch die Kritik entwickelt hat: als Kunst, nicht derartig regiert zu werden. Ohne hier auf die Kontinuitäten und Brüche zwischen den historischen Formen sich entwickelnder liberaler Gouvernementalität und den aktuellen Formen neoliberaler Gouvernementalität näher eingehen zu können[3], lässt sich doch sagen, dass das Verhältnis von Regierung und nicht derartig regiert zu werden auch heute noch eine Voraussetzung zur Reflexion des zeitgenössischen Verhältnisses von Institution und Kritik ist. Mit Foucault "[…] kann von dieser Regierungsentfaltung, die mir für die Gesellschaften des europäischen Abendlandes im 16. Jahrhundert charakteristisch erscheint, die Frage, 'wie man denn nicht regiert wird', nicht getrennt werden. Damit will ich nicht sagen, dass sich der Regierungsintensivierung direkt die konträre Behauptung entgegengesetzt hätte: 'Wir wollen nicht regiert werden und wir wollen rein gar nicht regiert werden!' Ich will sagen, dass sich in jener großen Unruhe um die Regierung und die Regierungsweisen auch die ständige Frage feststellen lässt: 'Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?'"[4] Worauf also Foucault hier besteht, ist die Verschiebung von einer fundamentalen Negation von Regierung hin zu einem Ausweichmanöver aus derartigem Dualismus: vom überhaupt nicht regiert werden zum nicht derartig regiert werden, vom Phantomkampf um ein großes Außen zu einem ständigen Kampf auf der Immanenzebene, der sich – wie ich hinzufügen würde – nicht (allein) als Fundamentalkritik an Institutionen aktualisiert, sondern vielmehr als permanenter Prozess der Instituierung.
Foucault fährt fort: "Wenn man die Bewegung der Regierbarmachung der Gesellschaft und der Individuen historisch angemessen einschätzt und einordnet, dann kann man ihr, glaube ich, das zur Seite stellen, was ich die kritische Haltung nenne. Als Gegenstück zu den Regierungskünsten, gleichzeitig ihre Partnerin und ihre Widersacherin, als Weise ihnen zu misstrauen, sie abzulehnen, sie zu begrenzen und sie auf ihr Maß zurückzuführen, sie zu transformieren, ihnen zu entwischen oder sie immerhin zu verschieben zu suchen […]"[5] Diese letzten Kategorien sind es, um die es mir hier in Abwandlung und Weiterentwicklung der Frage nach zeitgenössischen Formen der Institutionskritik geht: Transformationen als Weisen, "den Regierungskünsten zu entwischen", Fluchtlinien, die, auch wenn sie nicht mehr vom ganz anderen Außen träumen lassen, jedoch keineswegs als harmlos oder individualistisch oder eskapistisch-esoterisch zu verstehen sind. "Nichts Aktiveres als eine Flucht!", wie Gilles Deleuze und Claire Parnet schreiben[6] und wie es Paolo Virno fast wörtlich wiederholt: "Nichts ist weniger passiv als eine Flucht, ein Exodus."[7]
Wenn "Regierungskünste" eine Verschränkung von Regieren und Regiertwerden, von Regierung und Selbstregierung meint, dann besteht eine Transformation dieser Regierungskünste nicht im allgemeinsten Sinn einfach in irgendwelchen Transformationsprozessen, denn Transformationen sind eine essenzielle Qualität des gouvernementalen Settings. Es geht hier vielmehr – und darin ist auch ein zentraler Aspekt der alten Institutionskritik aufgehoben – um spezifisch emanzipatorische Transformationen, die durch ihren emanzipatorischen Charakter auch transversale Qualität annehmen, d.h. über partikulare Beschränkungen einzelner Felder hinaus wirksam werden.
Gegen solche emanzipatorisch-transversalen Transformationen der "Regierungskünste" steht nun ein wiederkehrendes Problem des Kunstdiskurses: das Reduzieren und Einschließen allgemeiner Fragen auf/in das eigene Feld. Werden (Selbst-)Kanonisierungen, Auf- und Abwertungen im Kunstfeld – auch in der Debatte um institutionskritische Praxen – gern mit eklektischer, disparater, widersprüchlicher Auswahl an Theorie-Importen geschmückt, so hat dieser Import oft die einzige Funktion, die Abschottung von einzelnen Kunstpositionen oder des Kunstfelds als solchen zu betreiben. Eine aktuelle Variante dieser Funktionalisierung besteht in der Vermischung von poststrukturalistischen Immanenz-Theorien mit Simplifizierungen Bourdieu’scher Feldtheorie. Die Thesen gegen ein Außen im Sinne einer etwa christlichen oder sozialistischen Transzendenz einerseits und von der relativen Autonomie des Kunstfelds andererseits verschwimmen hier zur defaitistischen Aussage: "We are trapped in our field" (Andrea Fraser). Selbst die kritischen AkteurInnen der "zweiten Generation" der Institutionskritik scheinen also nicht ausgenommen von derartigen Verschließungsphantasmen. Fraser betreibt etwa im Artforum-Artikel "From the Critique of Institutions to an Institution of Critique" (September 2005) mithilfe einer kurzen Begriffsgeschichte offensive Selbsthistorisierung und beschränkt schließlich alle möglichen Formen der Institutionskritik auf eine Kritik der "Institution Kunst" (Peter Bürger) und ihrer Institutionen. Sie schreibt unter Berufung auf Bourdieu: "[…] just as art cannot exist outside the field of art, we cannot exist outside the field of art, at least not as artists, critics, curators, etc. And what we do outside the field, to the extent that it remains outside, can have no effect within it. So if there is no outside for us, it is not because the institution is perfectly closed, or exists as an apparatus in a 'totally administered society', or has grown all-encompassing in size and scope. It is because the institution is inside of us, and we can’t get outside of ourselves." [8] Hier scheint zwar Foucaults Konzept der Selbstregierung anzuklingen, jedoch ohne jeden Hinweis auf Formen des Entwischens, Verschiebens, Transformierens. Erscheint bei Foucault die kritische Haltung zugleich als "Partnerin" und "Widersacherin" der Regierungskünste, verschwindet der zweite Teil dieser spezifischen Ambivalenz in Andrea Frasers Darstellung zugunsten einer diskursiven Selbstbeschränkung, die gerade noch die Reflexion der eigenen Eingeschlossenheit zulässt. Gegen alle Evidenzen der vielschichtigen Effektivität nicht nur kritischer Kunstpraxen im gesamten 20. Jahrhundert spielt sie eine sehr alte Platte ab: Kunst ist und bleibt autonom, ihre Funktion beschränkt auf das Kunstfeld. "With each attempt to evade the limits of institutional determination, to embrace an outside, […] we expand our frame and bring more of the world into it. But we never escape it."[9]
Genau darum würde es aber auch gehen in Foucaults Konzept der Kritik, der kritischen Haltung: Statt die Schließung des Felds theoretisch herbeizuargumentieren und praktisch zu befördern, damit die Kunst des Regierens zu betreiben, wäre zugleich auch jene Kunst zu forcieren, bei der es darauf ankommt, den Regierungskünsten zu entwischen. Und nicht nur Foucault hat diese neuen, nicht-eskapistischen escape-Begrifflichkeiten eingeführt. Figuren der Flucht, des Abfallens, des Verrats, der Desertion, des Exodus, das sind jene Figuren, die – vor allem auch gegen zynische oder konservative Beschwörungen des Einschlusses und der Ausweglosigkeit – als poststrukturalistisch-nichtdialektische Formen von Widerstand von mehreren AutorInnen vorgeschlagen worden sind. Gilles Deleuze, Paolo Virno und einige andere PhilosophInnen versuchen mit derartigen Begriffen auch neue Modelle nicht-repräsentationistischer Politik vorzuschlagen, die gleichermaßen gegen leninistische Konzepte von Revolution als Staatsübernahme und gegen radikalanarchistische Positionen, die ein absolutes Außen von Institutionen imaginieren, gewandt sind, und ebenso gegen Transformations- und Transitionskonzepte im Sinn einer sukzessiven Homogenisierung in Richtung neoliberaler Globalisierung. Was ihren neuen Widerstandsbegriff betrifft, geht es um die Durchkreuzung einer dialektischen Vorstellung von Macht und Widerstand: um eine positive Form des Abfallens, eine Flucht, die gleichzeitig instituierende Praxis ist. Anstatt Herrschaftsverhältnisse als unverrückbaren Horizont vorauszusetzen und dennoch gegen sie anzukämpfen, verändert diese Flucht die Bedingungen, unter denen die Voraussetzung stattfindet. Wie Paolo Virno in der Grammatik der Multitude schreibt, verwandelt der Exodus "den Zusammenhang, in dem ein Problem aufgetaucht ist, anstatt das Problem über eine Entscheidung zwischen vorgegebenen Alternativen zu behandeln"[10].
Beim Import von Figuren der Flucht ins Kunstfeld entsteht nun des Öfteren das Missverständnis, dass es sich dabei um den persönlichen Rückzug des Subjekts aus dem Rauschen und dem Gerede der Welt handle. Die Protagonisten, bei Deleuze und Agamben etwa Herman Melvilles "Bartleby" oder bei Virno der "virtuose" Pianist Glenn Gould werden dabei als Personifizierungen des Individualwiderstands und – im Fall von Bartleby – des individuellen Rückzugs missverstanden. In einem konservativen Entwendungs- und Umdeutungsvorgang werden diese Figuren also im kunstkritischen Diskurs so weit von ihrem Ausgang entfernt, dass die Flucht nicht mehr wie bei Deleuze ein Fliehen impliziert, in dessen Verlauf zugleich eine Waffe gesucht wird. Im Gegenteil: Hier werden die alten Bilder des Rückzugs in die Künstlerklause wieder aufgewärmt, die in neokulturpessimistischen (Kunst‑)Kreisen nicht nur gegen partizipative und relationale Spektakelkunst, sondern auch gegen kollektive interventionistische, aktivistische oder andere experimentelle Strategien eingesetzt werden; etwa wenn Texte-zur-Kunst-Chefin Isabelle Graw sich dem "Modell des besessen im Atelier vor sich hin werkelnden Malers" zuwendet, "der sich weigert, irgendeine Erklärung abzugeben, der sich ostentativ nicht vernetzt, niemals verreist, sich kaum in der Öffentlichkeit zeigt", um so angeblich "dem Spektakelprinzip den direkten Zugriff auf seine geistigen und emotionalen Kompetenzen" zu verstellen.[11]
Auch wenn sich Graw unmittelbar vor der zitierten Passage auf Paolo Virno bezieht, weder Virnos Problematisierung der Kulturindustrie noch sein Begriff von Exodus läuft auf eine derartig bourgeoise Rettungserwartung durch das Künstlerindividuum hinaus. Mit dem Bild des einsamen Malers, der sich durch den trotzigen Entzug seiner Person der "neuen Tendenz im Kapitalismus, sich der ganzen Person zu bemächtigen"[12], entzieht, verbindet Graw eine zeitgemäße Analyse mit einer ultrakonservativen Konsequenz: Offenbar lässt sich auch nach unendlich vielen spektakulären Verwertungen dieses Abziehbilds dasselbe alte Künstlerbild – übrigens auch im Gegensatz zu Virnos Ausführungen über die Virtuosität – heute noch immer oder schon wieder fröhlich als anti-spektakulär feiern …
Bei den poststrukturalistischen Vorschlägen zum Abfallen und Ausfallen geht es allerdings um alles andere als um solchen Rückfall in die Feier des sich von der Gesellschaft abwendenden Individuums. Vielmehr geht es um die Durchkreuzung von Dichotomien wie jener von Individuum und Kollektiv, um die offensive Theoretisierung neuer Formen des Gemeinsamen, zugleich Singulären. Gerade Paolo Virno hat das in der Grammatik der Multitude luzide herausgearbeitet. In Anklang an den Begriff des General Intellect, den Karl Marx in seinen Grundrissen zur Kritik der politischen Ökonomie eingeführt hat, setzt Virno den Begriff des "öffentlichen Intellekts". Die Aufnahme des Marx’schen Begriffs verweist gerade darauf, dass "Intellekt" hier nicht als Kompetenz eines Individuums verstanden werden soll, sondern als gemeinsames Band und immer in Entwicklung begriffene Grundlage der Individuierung. Virno spielt damit also weder auf Medien-Intellektuelle in der Gesellschaft des Spektakels an, noch auf die Höhenflüge des autonomen Denkers oder Malers. Derart individuierte Öffentlichkeit entspricht eher Virnos negativem Begriff von "Öffentlichsein ohne Öffentlichkeit": "Wenn der General Intellect oder 'öffentliche Intellekt' nicht zur Republik, zur Öffentlichkeit, zur politischen Gemeinschaft wird, vervielfältigt er ungebremst Formen der Unterdrückung."[13]
Virno geht es dagegen um die soziale Qualität des Intellekts.[14] Während der entfremdete Denker (oder auch Maler) traditionellerweise als sich vom Gerede, vom Rauschen der Massen entfernendes Individuum gezeichnet wird, ist bei Virno gerade das Rauschen der Multitude auch Ort einer nicht-staatlichen, nicht-spektakulären, nicht-repräsentationistischen Öffentlichkeit. Diese nicht-staatliche Öffentlichkeit ist nicht als anarchischer Ort absoluter Freiheiten zu verstehen, als Gefilde jenseits der Institution. Flucht und Exodus sind hier nichts Negatives, Reaktion auf anderes, sondern verbunden und verschränkt mit konstituierender Macht, Neuorganisation, Neuerfindung und Instituierung. Die Bewegung der Flucht bewahrt diese instituierende Praxis von Anfang an auch gegen Strukturalisierung und Verschließung, davor, dass sie Institution im Sinne von konstituierter Macht wird.
Was heißt das nun alles in Bezug auf die künstlerischen Praxen der Institutionskritik? Schematisch formuliert, ging es der "ersten Generation" der Institutionskritik um Distanz von der Institution, der "zweiten" um die unausweichliche Involviertheit in die Institution. Ich sage schematisch, denn natürlich verschwimmen derartige "Generationengefüge" in den entsprechenden Praxen, und es gibt etwa Versuche Andrea Frasers, die erste Welle als durch die zweite (also auch durch sie selbst) konstruiert zu beschreiben und auch der ersten Phase eine ähnliche Reflektiertheit der eigenen Institutionalität zuzuschreiben. Wie dem auch sei, man kann beiden "Generationen" eine wichtige und wirkungsmächtige Position im Kunstfeld der 1970er bis heute zuschreiben und in einzelnen Fällen Relevanz konstatieren, die über Feldgrenzen hinausgeht. Doch jene grundsätzlichen Fragen, die sich Foucault wohl schon gestellt hat, die jedenfalls Deleuze in seinem Foucault-Buch umtreiben, werden mit den Strategien der distanzierten und der dekonstruktiven Intervention in die Institution nicht gestellt: Führen die Problematisierungen Foucaults dazu, dass wir uns immer weiter in die Machtbeziehungen einschließen? Und vor allem: Welche Fluchtlinien führen heraus aus der Sackgasse dieses Einschlusses? Um Foucaults Bearbeitungen dieses Problems für die Frage nach neuen instituierenden Praxen fruchtbar zu machen, möchte ich zum Abschluss dieses Textes noch einmal einen Rekurs auf den späten Foucault machen, und zwar auf seine Berkeley-Vorlesungsreihe "Discourse and Truth" aus dem Herbst 1983 und den dort breit ausgeführten Begriff der parrhesia.[15]
parrhesia bedeutet im Altgriechischen die Freiheit, "alles zu sagen", frei zu reden, offen und öffentlich, ohne rhetorische Spielereien und ohne doppelte Böden, auch und vor allem wenn es riskant ist. Foucault beschreibt die Praxis der parrhesia anhand von zahlreichen Beispielen aus der antiken griechischen Literatur als Bewegung von einer politischen zu einer persönlichen Technik. Die ältere Form der parrhesia als politische Technik entspricht dem öffentlichen Wahrsprechen als institutionellem Recht. Der – je nach Staatsform verschiedene – Adressat der parrhesia ist die Versammlung in der demokratischen Agora, der Tyrann am monarchischen Hof.[16] Parrhesia versteht sich hier allenthalben als von unten kommend und nach oben gerichtet, sei es die Kritik des Philosophen am Tyrannen oder die des Staatsbürgers an der Mehrheit der Versammlung: Im eindeutigen Gefälle zwischen dem, der riskant alles äußert, und dem kritisierten Souverän liegt die spezifische Potenzialität der parrhesia.
Im Laufe der Zeit ereignet sich eine Veränderung des Wahrheitsspiels, "das in der klassischen griechischen Konzeption der parrhesia durch die Tatsache konstituiert wurde, dass jemand mutig genug ist, anderen Leuten die Wahrheit zu sagen. [...] es gibt eine Verschiebung dieser Art von parrhesiastischem Spiel hin zu einem anderen Wahrheitsspiel, das nun darin besteht, mutig genug zu sein, die Wahrheit über sich selbst zu enthüllen."[17] Dieser Prozess von öffentlicher Kritik zu persönlicher (Selbst-)Kritik entwickelt sich parallel zum Bedeutungsverlust der demokratischen Öffentlichkeit der Agora, zugleich taucht parrhesia immer stärker im Zusammenhang mit Erziehung und Bildung auf. Eines der diesbezüglichen Beispiele Foucaults ist Platons Dialog Laches, in dem die Frage nach dem besten Lehrer für die Söhne der Gesprächsteilnehmer Ausgangspunkt und Folie darstellt. Der Lehrer Sokrates übernimmt die Funktion des parrhesiastes nicht mehr in dem Sinn, die riskante Widerrede in politischem Sinn auszuüben, sondern dadurch, dass er seine Zuhörer dazu bringt, Rede zu stehen über sich selbst und sie zu einer Selbstbefragung zu führen, die nach der Beziehung zwischen ihren Aussagen (logos) und Lebensweisen (bios) fragt. Diese Technik dient allerdings nicht als autobiografisches Bekenntnis, als Gewissensprüfung und Beichte oder als Prototyp maoistischer Selbstkritik, sondern dazu, zwischen dem vernünftigen Diskurs und dem Lebensstil der Befragten bzw. sich selbst Hinterfragenden eine Beziehung herzustellen. Hier zeigt sich – gegen jede individualistische Interpretation vor allem der späteren Foucault-Texte (Unterstellung der "Rückkehr zur Subjektphilosophie" etc.) – parrhesia nicht als Kompetenz eines Subjekts, sondern als Bewegung zwischen derjenigen Position, die nach der Übereinstimmung von logos und bios fragt, und derjenigen Position, die angesichts dieser Befragung Selbstkritik übt.
Mir geht es nun
darum, im Sinne einer produktiven Interpretation für gegenwärtige
institutionskritische Praxen die bei Foucault als genealogische Entwicklung
beschriebenen zwei Begriffe der parrhesia
miteinander zu verknüpfen, die riskante Widerrede in ihrem Bezug zur
Selbstenthüllung zu verstehen. Kritik, und vor allem Institutionskritik, findet
heute weder in der Form der Anprangerung von Missständen noch im Rückzug auf
mehr oder weniger radikale Selbsthinterfragung ihr Auslangen. Auf das Kunstfeld
bezogen heißt das, dass weder die angriffigen Strategien der Institutionskritik
der 1970er Jahre noch jene späteren Praxen, die sich in den 1990er Jahren als
Funktion der Institution reflektierten, probate Eingriffe in die
Gouvernementalität der Gegenwart versprechen.
Hier und jetzt braucht es parrhesia
als doppelte Strategie: als Versuch der Involvierung und des Engagements in
einem Prozess der riskanten Widerrede, und
als Selbsthinterfragung. Es
braucht also Praxen, die radikale Gesellschaftskritik üben und die sich dennoch
nicht in der imaginierten absoluten Distanz zu den Institutionen gefallen;
zugleich Praxen, die selbstkritisch sind und sich dennoch nicht krampfhaft
klammern an ihre Verstricktheit, ihre Komplizität, ihr Gefangenendasein im
Kunstfeld, ihre Fixierung auf die Institutionen und die Institution, ihr
eigenes Institution-Sein. Instituierende Praxen, die die Vorteile beider "Generationen"
der Institutionskritik verbinden, damit also beide Formen der parrhesia ausüben, werden eine
Verknüpfung von Gesellschaftskritik, Institutionskritik und Selbstkritik
forcieren. Diese Verknüpfung wird sich vor allem in direkten und indirekten
Verkettungen mit politischen Praxen und sozialen Bewegungen entwickeln, aber
auch ohne Verzicht auf künstlerische Kompetenzen und Strategien, ohne Verzicht
auf die Ressourcen und Effekte im Kunstfeld. Exodus würde auch hier nicht
heißen, gleich in ein anderes Land oder in ein anderes Feld zu übersiedeln, sondern
durch den Akt der Flucht die Regeln des Spieles zu verraten: "die
Regierungskunst transformieren" nicht nur in Bezug auf die Institutionen
des Kunstfelds oder die Institution Kunst als Kunstfeld, sondern als Teilhabe
an Instituierungsprozessen und politischen Praxen, die die Felder, die
Strukturen, die Institutionen transversal durchqueren.
Dank an Isabell Lorey und Stefan Nowotny für
kritische Anmerkungen und Beratung.
Literatur:
Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992.
Gilles Deleuze/Claire Parnet, Dialoge, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980.
Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin: Merve 1992.
Michel Foucault, Diskurs und Wahrheit, Berlin: Merve 1996.
Andrea Fraser, "From the Critique of Institutions to an Institution of Critique", in: Artforum, September 2005, 278–283.
Isabelle Graw, "Jenseits der Institutionskritik. Ein Vortrag im Los Angeles County Museum of Art”, in: Texte zur Kunst September 2005, Heft 59, 40–53.
Isabell Lorey, "Governmentality and Self-Precarization: On the normalization of culture producers", in: Simon Sheikh (Hg.), CAPITAL (It Fails Us Now), Berlin: b_books 2006.
Gerald Raunig, "Die doppelte Kritik der parrhesia. Beantwortung der Frage 'Was ist eine progressive (Kunst-)Institution?'", http://eipcp.net/transversal/0504/raunig/de
Gerald Raunig, Kunst und Revolution, Wien: Turia + Kant 2005.
Paolo Virno, Grammatik der Multitude. Mit einem Anhang: Die Engel und der General Intellect, Wien: Turia + Kant 2005.[2] Vgl. zur zeitlichen wie ontologischen Vorgängigkeit von Kritik/Widerstand: Deleuze, Foucault, 125: „Das letzte Wort der Macht lautet, dass der Widerstand primär ist“, und dazu Raunig, Kunst und Revolution, 45–51 (Kapitel „Das Primat des Widerstands“).
[3] Vgl. Lorey, „Governmentality and Self-Precarization: On the normalization of culture producers“.
[4] Foucault, Was ist Kritik?, 11 f.
[5] Ebd., 12 f.
[6] Deleuze/Parnet, Dialoge, 45.
[7] Virno, Grammatik der Multitude, 97.
[8] Fraser, „From the Critique of Institutions to an Institution of Critique“, 282.
[9] Ebd.
[10] Virno, Grammatik der Multitude, 97.
[11] Graw, „Jenseits der Institutionskritik“, 46 f., vgl. auch die weitergehende Kritik an Graws Text und dem Texte zur Kunst-Schwerpunkt zur Institutionskritik von September 2005 in Stefan Nowotny, „Anti-Kanonisierung“
[12] Ebd., 47.
[13] Virno, Grammatik der Multitude, 51.
[14] Die Überlegungen zur sozialen Qualität des Intellekts habe ich gemeinsam mit Klaus Neundlinger in der Einleitung der deutschen Ausgabe der Grammatik der Multitude näher ausgeführt: Klaus Neundlinger/ Gerald Raunig, „Einleitung oder die Sprachen der Revolution“, in: Virno, Grammatik der Multitude, 9–21.
[15] Die folgenden Überlegungen habe ich im Jahr 2004 im Anschluss an die Wiener eipcp-Konferenz „Progressive Art Institutions in the Age of the Dissolving Welfare State“ entwickelt und erstmals unter dem Titel „Die doppelte Kritik der parrhesia. Beantwortung der Frage ‚Was ist eine progressive (Kunst-)Institution?‘“ auf der republicart-Website (http://eipcp.net/transversal/0504/raunig/de) veröffentlicht.
[16] Das bekannteste Beispiel der politischen parrhesia besteht in der Figur des Diogenes, der aus seiner Tonne heraus Alexander auffordert, ihm aus dem Licht zu gehen. Wie der Bürger, der im demokratischen Setting der Agora die Minderheitenmeinung äußert, praktiziert auch der kynische Philosoph dem Monarchen gegenüber eine Form der parrhesia in aller Öffentlichkeit.
[17] Foucault, Diskurs und Wahrheit, 150.