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01 2012

Zur Unwahrnehmbarkeit der Erinnerung

Brigitta Kuster

„Die Erzählungen führen also eine Arbeit aus, die unaufhörlich Orte in Räume und Räume in Orte verwandelt.“[1]


Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist der Lebensalltag in einer Begegnung in Deutschland Anfangs des 21. Jahrhunderts. – Hier tauchte der Hinweis auf einen bereits seit langem verstorbenen Toten auf, der zum einen bis heute unbegraben ist und zum anderen von „dem Weißen“ / „den Deutschen“ im Zuge des kolonialen Projektes im heutigen Kamerun Ende des 19. Jahrhunderts verschleppt, gefoltert und grausam hingerichtet wurde. Die Spur dieser nicht besonders spektakulären und vermutlich ganz und gar nicht einzigartigen Geschichte aufzunehmen, bedeutet zu fragen: Was ist geschehen? – Eine Frage, die es zugleich erforderlich macht, den Ort, von dem aus sie gestellt wird und den Ort, an den sie sich richtet, zu verhandeln. Um etwas über die Umstände des gewaltsamen Todes von Bisselé Akaba in Erfahrung zu bringen, sind deshalb nicht nur Archivkonsultationen und Gespräche mit „Expert_innen“ hilfreich, sondern auch die Iteration der Begegnung, die Moise Merlin Mabouna und mich an diese Geschichte heran geführt hat.[2] Das Verhältnis zum kolonialen Faktum ist dabei fragmentarischer und latenter Art, keine abgeschlossene Historie, sondern eine stellenweise vielleicht lebendige Geschichte, welche Gegenwart prägt und formt. Diese explizite Kontingenz verlangt nach einem situierten Wissen, welches das vergangene Geschehen bearbeitet und dabei nicht nur den Inhalt berücksichtigt, sondern auch die Produktion kolonialer Quellen und die Rolle, welche diese Quellen für historiographische Operationen oder für Vorgänge der Erinnerung spielen. Auf diesen Weg begibt sich dieser Text. Bisselé Akaba, chef supérieur du canton Elip ist der Urgroßvater von Moise Merlin Mabouna. – Inwiefern geht „mich“ die Geschichte dieses Toten etwas an und was steht dabei auf dem Spiel?

Michel de Certeau hat das Unterfangen „Geschichte“ als eine Neuverteilung im Raum beschrieben, als einen Akt, etwas in etwas anderes abzuändern.[3] Die Erzeugung eines Raumes wiederum, den er als „Resultat von Aktivitäten fasst, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren“, „scheint immer durch eine Bewegung bedingt zu sein, die ihn mit einer Geschichte verbindet“.[4] Die Historiker_in ist nicht jemand, die Geschichte macht, sie ist nicht Subjekt der Aktion, sondern diejenige, die sich mit dem Machen von Geschichte beschäftigt.[5]


„Mehrere Leute sind weggelaufen, mehrere sind unterwegs liegen geblieben und vier oder fünf sind von den Eingeborenen ermordet worden.“ (Hans Ramsay, 1892)


Erste Bewegung: Schwund und Zuwachs

Im Frühjahr 1892 führte der deutsche Offizier Hans Ramsay im Auftrag der Kolonialabteilung im so genannten Hinterland von Kamerun eine 84 Tage andauernde Expedition an, deren Ziel im Zurückdrängen des Zwischenhandels und in der territorialen Expansion bestand. Wie jeder „Führer“ einer Expedition war er dazu angehalten, einen Reisebericht mit Beobachtungen von politischer, wissenschaftlicher, militärischer und wirtschaftlicher Relevanz niederzuschreiben und als Rapport beim „Kaiserlichen Gouverneur“ abzuliefern. Sein Bericht, am 28. Mai 1892 in „Kamerun“[6] von Hand niedergeschrieben, wurde als Abschrift an die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin, zuhanden des damaligen Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten Georg Leo Graf von Caprivi, überstellt und findet sich in dieser Fassung als Akte mit der Ziffer R1001/3286 im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde und als Original im Nationalarchiv in Yaoundé.

Eine Expedition ist zunächst einmal eine Bewegung durch den Raum. Eine der damit verbundenen Anforderungen bezieht sich auf die Beherrschung der Komponenten Zeit und Personal. Darüber berichtet der Bericht. Die in seiner Struktur diesbezüglich angelegte „Mathematisierung“ lässt sich zwar nachvollziehen, allerdings treten dabei erstaunliche Abweichungen zwischen der Berechnung, dem Prozess des quantifizierenden Wissens und seinem Resultat zu Tage. Richtet man den Blick auf dieses Flimmern der Bilanz, nimmt sie eine soziale Gestalt an. Die Ungereimtheit der produzierten und überlieferten Fakten verlangt nach einer Geschichte. Sie ist die Geschichte der Leute. – „Leute“ nennt der Bericht jene, auf die sich seine überwachende und kategorisierende Aufmerksamkeit richtet und deren Spur sich dabei doch immer wieder verliert.

Stellt man den markanten und offenbar nur schwer zu kontrollierenden Schwund und Zuwachs unterschiedlicher und offenbar nicht immer so eindeutig klassifizierbarer „Leute“ in Rechnung, lässt sich in Zweifel geraten über den geordneten Vorstoß, der als Bild der kolonialen Eroberung nicht nur dem populären Gedächtnis, sondern auch mancher wissenschaftlicher Arbeit innewohnt. Als Konstruktion ist dieses Bild allerdings bereits damals zeitgenössisch. Es ist dem inventarisierenden Gestus von Expeditionsberichten implizit und findet sich in der Übersicht suggerierenden Darstellungskonvention der Marschkolonne, wie sie frühe Fotografien abbildeten.[7]

In der Perspektive des nachträglichen Auszählens zeichnen sich jedoch andere Konturen ab: „Der Weiße“[8] erscheint weder notwendigerweise als hauptsächlicher Akteur noch als derjenige, der die unwidersprochene Autorität oder Definitionsmacht über das Geschehen Inne hat. Angesichts der Fluktuation der „Leute“ erscheint er vielmehr akzentuiert in der Minderzahl und als ein von der Vielheit der ihn umgebenden Aktionen, Interessen oder Begehrlichkeiten abgelenkter, de-zentrierter, vielleicht verwirrter oder an der Nase herum geführter Berichte-Schreiber. Die Akte R1001/3286 zur „Süd Kamerun Hinterland Expedition Nr. 10“ handelt somit weniger vom Geschehen bei einer Expedition – von dem an- und abschwellenden Germurmel und dem Aufruhr einer Menge – als vielmehr vom Versuch, deren Erfahrung zu kontrollieren. Johannes Fabian spricht hierbei von einer „Zügelung“ als als Form der Wissensproduktion, die zu einer vorhersehbaren und in ihren Schlussfolgerungen unausweichlichen Kenntnis über die Geschichte kolonialer Begegnungen führt.[9] Seine Überlegung impliziert, dass eine Kritik am Geschichtswissen über koloniale Expansionen, die auf Wissensformen wie dem Dokument R1001/3286 basiert, die Anerkennung des Erfolgs solcher Expansionen letztlich voraussetzt. Aus diesem Grund haben Historiker_innen damit begonnen, nach dem „Widerstand“ zu fahnden. An dem konzeptuellen Rahmen der kolonialen Quellenorganisation, die es vielfach gerade erschwert, „Widerstand“ überhaupt konzipieren und erkennen zu können, änderte sich dabei allerdings wenig. Zudem stellt sich die Frage, was es einbringt, nach Spuren zu suchen, die zeigen, dass der Imperialismus schwächer war als das Bild, das er gerne von sich entwarf; dass die koloniale Expansion „wilder“, weniger organisiert, weniger rational und auch weniger kontinuierlich und erfolgreich territorialisierend vor sich ging als gängige Vorstellungen es suggerieren. Was besagt eine solche Erkenntnis? – Dass die Kolonisierten überlebten, weitermachten? Fabian meint: „Selbst wenn wir auf Täuschung, Fehlrepräsentation und vielleicht Blindheit bei diesen Begegnungen von Erforschung, Eroberung und Ausbeutung verweisen können, wird das den Glauben an die fundamentale Rationalität und daher Notwendigkeit der westlichen Expansion wahrscheinlich nicht grundsätzlich erschüttern. Eine wirklich radikale Kritik muss sich auf den Begriff der Rationalität selbst richten, insbesondere auf die eingebaute Tendenz dieses Begriffs, sich als außerhalb von historischen Kontexten und als über ihnen stehend darzustellen.“[10] Folgen wir diesem Gedanken, dann gälte es, innerhalb jener re-territorialisierenden Bewegungen, mittels derer „der Weiße“ die Verbindungen zwischen Begehren, Imaginieren, Beobachten und Durchdringen – und somit auch „Verstehen“ realisierte, die Richtung der Deterritorialisierungslinien aufzunehmen. Hans Ramsays Signifikationspraxis ist „außer sich“: Er verrechnete sich dauernd, aufgerieben von der permanenten Berichtigung der eigenen Bestandsaufnahme. Oder anders: Es geht darum, seinen Bericht als eine Äußerung im Raum und im Hinblick darauf zu lesen, wie das, was offenbar der Rationalisierung und Eingrenzung bedurfte, seine Bewegungen ablenkte und wohin ihn das, was erzählt, berichtet, gezählt, benannt, kartografiert, erfasst und vor allem sorgsam voneinander geschieden gehörte, trieb.

Demgegenüber warnt die Historikerin Ann Laura Stoler davor, insbesondere die kolonialen Archive voreilig bloß extrahierend oder „rückwärts“ lesen zu wollen, ohne sie in ihrem Verlauf zu entziffern. Koloniale Archive sind Orte der rechtskräftigen Verwahrung von Wissen und offizielle Speicher politischer Richtlinien. Berichte wie R1001/3286 schreiben neue räumliche Bezüge ein und machen somit eminent Geschichte. Stoler fordert dazu auf, das Archiv mittels ethnographischer Methoden als ein „paper empire“ in den Blick zu nehmen: „Wenn der Begriff einer kolonialen Ethnographie von der Prämisse ausgeht, dass die Produktion von Archiven selbst sowohl ein Verfahren als auch eine machtvolle Regierungstechnologie ist, dann können wir das Archiv nicht nur gegen die darin einbehaltenen Kategorien lesen.Wir müssen es in seinen Gesetzmäßigkeiten entziffern, in seiner Erinnerungslogik, in seinen Dichten und Verbreitungen, in der Beschaffenheit seiner Desinformationen, seiner Unterlassungen und Fehler - also in seiner Linie […] Das koloniale Archiv bloß gegen den Strich zu lesen, führt an der Macht, die in der Produktion des Archivs selbst liegt, vorbei.“[11] Stoler plädiert dafür, sich intensiver bei den Konventionen des imperialen Archivs aufzuhalten, bei den Praktiken, die seine unausgesprochene Ordnung ausmachen, bei seinen Rubriken und Organisationsprinzipien sowie bei seinen räumlichen Anordnungen und Referenzen, die sie zudem allesamt als „vielsagendes Vorbild für den postmodernen Staat, der auf der globalen Herrschaft von Information basiert“, interpretiert.[12]


Zweite Bewegung: Fortschreiten in der Nachträglichkeit

Hinterher, anhand des Archivs als einem zeitlich abgeschlossenen Korpus, ermöglicht es die Geschichtsschreibung, drei Linien der kolonialen Territorialisierung wahrzunehmen. Weil wir bereits „woanders“ sind, lassen sich deren Gestalten in der Rückschau sowohl als Antworten auf die Flucht „der Leute“ wie auch auf Formen der Verflüchtigungen des Archivierbaren nachzeichnen und umreißen so den Prozess der Formierung kolonialer Staatlichkeit: 1. Militarisierung des Territoriums nach innen (z.B. die Institutionalisierung einer so genannten Schutztruppe, welche projektbezogen angeworbene Kolonialsoldaten ergänzt)[13], 2. Ethnisierung der lokalen Machtverhältnisse und 3. ökonomische Einbindung in das koloniale Projekt der ansässigen Bevölkerungen (z.B. Monetarisierung / Arbeitsverhältnisse). Achille Mbembe nennt dieses Konglomerat eine „Terrorformation“, die mit Biomacht, dem Ausnahmezustand und dem Belagerungszustand verknüpft sei. „Insgesamt sind Kolonien Zonen, in denen Krieg und Unordnung (...) dicht beieinander liegen oder sich miteinander abwechseln.“[14] Die Kolonie sei eine Zone, in der die Gewalt des Ausnahmezustandes als Einsatz im Dienste der „Zivilisation“ erachtet werde, so Mbembe, der fortfährt: „Dass Kolonien in vollkommener Gesetzlosigkeit regiert werden könnten, ist eine Vorstellung, die von der rassischen Verleugnung jeglicher alltäglicher Bindung zwischen dem Eroberer und dem Autochthonen herrührt.“[15] Das Intervall, das zwischen diesen beiden Sätze aufklafft, entspricht den Echolauten, welche Bias und Willkür der Kolonisierung in jenen Raum werfen, von dem nicht nur die Kolonie „vor Ort“ betroffen ist, sondern auch die Metropole und folglich insbesondere das komplexe und produktive Wechselspiel zwischen Kolonie und Metropole.

Schaut man im Archiv nach Expeditionsberichten, so umgibt etwa die Folgepraxen der  zahlreich verbürgten, so genannten Gefangennahmen ein beredtes Schweigen – nicht selten wohl eine Fluchtlinie des Tötens oder „Niedermachens“ in den Worten Hans Ramsays. Besonders bedeutsam scheint mir zudem die Behandlung der Kolonialsoldatenfrauen: Zahlenmäßig ungefähr so stark vertreten wie die männlichen Träger / Kolonialsoldaten / mercenaires, besteht ihre Funktion in für die Expedition so überlebenswichtigen Praktiken wie dem Ausschwärmen zur Kontaktaufnahme und zur Informations- wie Nahrungsbeschaffung. In den allermeisten Berichten sind die raren Textstellen, die Kolonialsoldatenfrauen und die Fähigkeiten ihrer sozialen Performance – Trickserei, Übersetzung, Charme, Diebstahl, Handel, Händel und nicht selten auch Plünderungen – überhaupt erwähnen, bei der Aufbereitung als Publikation der Zensur zum Opfer gefallen. Dies gilt auch für die Überarbeitung von Ramsays Manuskript zur Veröffentlichung in der Zeitschrift Mitteilungen von Forschungsreisenden und Gelehrten aus den deutschen Schutzgebieten[16] und betrifft dort insbesondere die Fassung der für uns relevanten Ereignisse des 20. und 21. März 1892. Solches Geschehen wie jenes, das für diese Tage festgehalten bzw. gestrichen ist, wurde bis in die jüngste Zeit als „Aufstand“ gekennzeichnet, und manchmal ist dieser Begriff sogar weiterhin in Verwendung. Umarbeitungen dieser Art haben ihre Spur in der Kolonialgeschichtsschreibung hinterlassen: Nicht bloß, dass der Diskurs des Archivs die Legitimität (oder zumindest eine Intelligibilität) so genannter „Strafexpeditionen“ steigerte oder steigern sollte; – „Aufstände“ setzen jene Durchsetzung von Herrschaft voraus, gegen die sich hier zur Wehr gesetzt wird. Ganz der kolonialen Gründungsidee gemäß sind in dieser Beschreibung „die Leute“ bereits kolonisiert bevor sie kolonisiert werden. Demgegenüber impliziert der Begriff Krieg oder kolonialer Krieg[17] die Gleichwertigkeit einer – wenngleich meist hoch asymmetrisch ausgeformten – Gegnerschaft. Mit dem Terminus kolonialer Krieg lässt sich die Praxis militärischer Operationen als Mittel der kolonialen Politik adressieren und im Kontext der kolonialen Dynamik von Differenzierung und Terrorformation situieren. Der koloniale Krieg ist dabei keinerlei rechtlicher und institutioneller Regel unterworfen – und kann deswegen vollständig vor einem kodifizierten Eintritt ins Archiv bewahrt und in der Folge ganz aus der westlichen Geschichtsschreibung gestrichen werden.[18] Ein kolonialer Krieg ist mit Fantasien von Wildheit, Tod und einer entfesselten Barbarei der Anderen verbunden. Friede ist nicht notwendigerweise sein Ergebnis. Vielmehr ist die Unterscheidung zwischen Krieg und Frieden hinfällig, wie Mbembe herausstellt, da der „Friede“ in der Kolonie dazu tendiere, „das Antlitz eines 'Krieges ohne Ende' zu tragen.“[19] Deswegen ist der koloniale Krieg eine Sauvagerie.

Diese Beobachtungen gereichen nicht gerade zu einer Vereinfachung unserer Frage nach dem, was geschehen ist. Auch wenn wir R1001/3286 in einer doppelten Perspektive auf das Archiv – sowohl in seinem Verlauf als auch gegen die Richtung seiner Produktion – lesen, so wirft die Dynamik, in der hier die Barbarei der anderen aufgegriffen, artikuliert und zum Schweigen gebracht wird, im besten Falle ihre Schatten auf die Subjektivierung des Erzählers und seiner Lektor_innen. Der koloniale Krieg bleibt in eine Episteme eingebunden, bei der es wenig erstaunt, dass die – irreguläre – Hinrichtung des Anführers einer militärischen Gegenwehr nicht aufscheint. Oder wie es V.Y. Mudimbe über die – wie er betont – mit anderen Geschichten vergleichbare Illusion einer Gesamtrekonstitution des deformierten und unzusammenhängenden Wissens über Afrika prosaisch formuliert: Sie leite sich von der Tatsache ab, dass die Dokumente, die uns mit Antworten versorgen, uns auch die Fragen diktieren.[20]


Dritte Bewegung: Die Produktion eines Ortes als Palimpsest

Nun ist aber die Provenienz der Frage, die uns anleitet, nicht das koloniale Archiv.

Daher ist sie auch keine Frage, die das Dokument R1001/3286 nicht vorsieht und über die es wenig Auskunft zu geben vermag, sondern eine Frage, die uns ins koloniale Archiv führte und dort in Aufruhr versetzte: Der Bericht von Ramsay nennt als Gegenüber für seine Aktionen im Frühjahr 1892 die „Wintschoba-Leute“ und als Verbündete die „Yambassa-Leute“; er enthält weder den Toten, nach dem wir suchen, noch die Balamba, die diesen Toten aufrufen und mit Namen identifizieren, Bisselé Akaba. Die „Wintschoba-Leute“ sind nicht die Balamba, und dennoch handelt es sich auch nicht einfach um deren Nachbarn oder um einen Irrtum. Es gibt eine Verwicklung zwischen den beiden. Eine Möglichkeit, die Frage nach dem Geschehen – dem Ereignis, dem Sachverhalt – neu zu formulieren, ist, nach dieser signifikanten Differenz zu fragen.

Hans Ramsay fertigte ein Itinerar an, das den Weg seiner Expedition detailliert aufnahm.[21] Es bringt die Abdrücke seines Fortschreitens in der Landschaft zum Vorschein und zeugt von der inhärenten Gewalt der Territorialisierung: die Aneignung des Raumes und seine Gleichsetzung mit einer Oberfläche. Ramsays Eintragungen sind Überschreibungen, die nicht bloß als symbolische Akte von souveräner Inbesitznahme und Kontrolle funktionieren, denn „Entdecken“ wird erst dann „real“, wenn der Reisende „nach Hause“ kommt und seine Trophäen auf Karten einzeichnen und mittels des Archivs beglaubigen und festsetzen lässt. Um 1913 taucht auf der ersten Karte Kameruns, der berühmten Moisel-Karte, an der Stelle von „Wintschoba“ der Dorfname “Batscheba“ auf; in Klammern ist der Name des dortigen Chefs, „Bisĕle“ dazugeschrieben.[22] Er ist der Großvater von Moise Merlin Mabouna; das Kartenblatt liegt in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Unter den Linden in Berlin. Dieser diskursive Prozess, der von Routenskizzen zu Karten führt, ist letztlich gleichbedeutend mit der materiellen Produktion von Grenzen und Hierarchien, Zonen und Enklaven; dem Unterlaufen bestehender Besitzverhältnisse; der Klassifikation von Leuten nach bestimmten Kategorien; der Ausbeutung von Ressourcen; und schließlich der Anfertigung eines beträchtlichen Reservoirs kultureller Imaginarien, zu denen etwa „Wintschoba“ gehört. Interessanterweise markiert Ramsay mit „Wintschoba“ nicht den transparenten Bezugspunkt einer Gebärde, die auf das hinweist, was er dort auf seinem Durchmarsch produziert hat, nämlich eine vollständige Zerstörung durch Feuer und nicht gezählte Tote, sondern einen Ort, den er als „in einem Palmenwald gelegen, stark bevölkert“ charakterisiert. In der lokalen Genealogie heißen dieses ehemalige Dorf und der bis heute unbebaut gebliebene Ort des Krieges Mamba. Mamba liegt mitten im heutigen Balamba, das mehrere Dörfer und ausgezeichnete Orte umfasst, die in der Sprache der Balamba Erinnerungen an vergangene Ereignisse einbehalten. So etwa Abenga-tschoba, der Ort, an dem niemand das Weinen hört – eine Stelle, an der sich kaum noch gewusst bis in die Postkolonie hinein verschüttete minoritär gewordene Geschichtsschreibungen und Aneignungsprozesse weiter getragen haben dürften. Auf diesen Gedanken brachte Moise und mich in unserer Recherche nach zahlreichen nichtssagenden Anschauungen kolonialer Karten eine plötzliche Evidenz: Es gibt eine stupende klangliche Ähnlichkeit zwischen dem Dorf „Mdjiba / Mshiba“, das Curt von Morgen als erster Weißer am 30./31. Dezember 1889 durchschritten und an der Stelle des Ramsay'schen „Wintschoba“ in sein Itinerar eingetragen hat, und dem Ausdruck Ndjiba in Balamba, der so viel bedeutet wie: „Ich bin nicht da, ich bin nicht zuständig.“ – Bewahrte diese Rede, im kolonialen Archiv zum Eigennamen geformt, möglicherweise sorgsam verborgen eine Geschichte „der Leute“ auf? Könnte es sich um eine Geschichte handeln, die vom Ringen um die Geographie erzählt und über Bewegungen, welche die koloniale Konzeption des Raumes unterwandert oder angefochten haben? Auf jeden Fall ist Ndjiba keine Heimsuchung, die sich letztlich mit der kolonialen Dominanz versöhnt, sondern eine produktive Weise des Entkommens, eine Spur, die uns auf die Differenz zwischen Dominanz und Hegemonie setzt, welche neuere Ansätze der kolonialen und postkolonialen Geschichtsschreibung mit dem Begriff „kolonialer Moment“ einzufangen versuchen.[23]

„Wintschoba“ / Abenga-tschoba / „Mdjiba / Mshiba“ / Balamba / Mamba ist ein koloniales Palimpsest. Nicht neben- oder übereinander Gestelltes, sondern ineinander abgelagerte Schichten, die sich gegenseitig beleben, belauschen, löschen und zusammen diesen „kolonialen Moment“ bewirken – und zwar in einer Weise, die undurchsichtig, unleserlich geworden ist, ohne jedoch aus den heutigen Praxen und Sprachen ganz zu verschwinden. Wenn sich Ndjiba aus dem kolonialen Archiv heraus nun plötzlich als eine Differenz des Namens äußert, dann handelt es sich um eine Aktualisierung jenes Virtuellen, das zentral mit dem Prinzip der Identität bricht. Es ist nicht das, was war, sondern das, was zustande kommen muss, um nicht zur Legende oder zur Ideologie zu werden. Es ist das, was meint und dabei der Zukunft einen Platz einräumt, dem Unbestimmten seinen Körper bietet - Emergenz.


Vierte Bewegung: Connaissance

Ndjiba kann als Hinweis auf die Besonderheit des Palimpsestes „Wintschoba“ / Abenga-tschoba / „Mdjiba / Mshiba“ / Balamba / Mamba aufgegriffen werden, insofern es zweideutige Artikulation einer Präsenz von etwas ist, das bereits woanders wäre; etwas, das sich im Inneren für sein Anderes geöffnet hat. Ndjiba entzieht sich dem, was Geschichten bergen könnte, um der Geschichte zu entgehen; es lagert in einer Schicht, in der Erinnerung unwahrnehmbar wird – „wie Gras (...), um zwischen die Dinge zu gleiten, inmitten der Dinge zu wachsen.“[24] – und dort als ein Rückruf von Vergessenem wirkt, der die Fähigkeit von Körpern zu agieren oder behandelt zu werden affiziert und transformiert. Diesem Ruf folgend begeben wir uns in eine vierte Bewegung, die unterhalb der Ebene der Perzeption operiert und den Gegensatz zwischen einem Subjekt (das weiß) und einem Objekt (das gewusst wird) aussetzt. Dort, in der co-naissance (wörtlich Zusammen-Geburt) wird Wissen generiert, das wie jedes Wissen kontextgebunden ist, aber mit dem Gemeinsamen, dem Alltäglichen und Bekannten rechnet, das seiner Generierung vorausgeht und zugleich durch dieses hervorgebracht wird. Die Unwahrnehmbarkeit der Erinnerung meint nicht Erinnerungen, die nicht sichtbar sind, sondern eine Zone des Gewöhnlichen, die imstande sein könnte, eine neue Sprache, ein neues Wissen für eine neue gesellschaftliche Kraft zu erreichen, die man Postkolonialität nennen könnte.[25] Diese Sprache liegt jenseits einer Sprache der Entschädigung, zu der die Sprache von Orten und fehlenden Gräbern gehört. Die Unwahrnehmbarkeit der Erinnerung leitet sich gerade aus der Unmöglichkeit her, der Vergangenheit mit Vergangenheitspolitik zu begegnen. Sie agiert weder hier noch quelque part ailleurs, sondern im räumlichen Experiment: Hier ist nicht das Gegenteil von dort, hier ist nicht hier, eins ist nicht eins, eins und eins ist nicht zwei, eins ist viele. Zu den Effekten ihrer Aktualisierung gehören immer auch Scheidungen und aktuelle Konfrontationen, denn das Experimentieren mit der Unwahrnehmbarkeit der Erinnerung ist weder unschuldig noch unbestimmt, sondern basiert auf der Analyse von Darstellungen, ohne vom Prinzip der Wahrheit abzusehen.[26] Nicht Handels- und Verwaltungszentren, sondern „das Kaff“ / le bled / la brousse sind der connaissance dabei als ebenso hinterwäldlerische wie transnationale Palimpseste handlungsanleitend.

Im Herbst 2005 habe ich unsere Kamera in Balamba aufgebaut und durch den Sucher geschaut; Moise eröffnete das Gespräch mit einer Frage, die er aus Deutschland zurück brachte; die jungen Leute aus dem Dorf waren um uns herum versammelt und Jean-Pierre Mabouna Bisselé, der Vater von Moise, begann seinen Bericht über den kolonialen Krieg von 1892, wie er ihm von Augenzeugen übermittelt worden ist, mit den Worten:

„Es war nicht – man kann das nicht mit einer Angelegenheit von Rassismus vergleichen, nein. Verstehst du ein bisschen? Es ist sehr schwierig, zu kämpfen, wenn du jemanden bekämpfen willst, der über Feuerwaffen verfügt, während du selbst nur kleine Pfeile hast. Naja, sobald der deutsche Offizier das Feuer angeordnet hatte, gab es mehrere Tote gleichzeitig auf Bisselés Seite...“

 



[1] Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin: Merve 1988, 220

[2] In der Folge unserer ersten gemeinsamen Videoarbeit Rien ne vaut que la vie, mais la vie même ne vaut rien, 25 min., DV Farbe, 2002/03, die zugleich Anlass wie Realisierung unserer Begegnung und Koautor_innenschaft war, verfolgen wir unter dem Titel Choix d'un passé. traits d'union eine dokumentarisch-experimentelle Film-Forschung zu kolonialer Geschichte, Erinnerung und Kontinuität, an deren Ausgangspunkt der Tod Bisselé Akabas steht. Dabei geht es uns weniger um die Rekonstruktion einer historischen Wahrheit, als vielmehr um jene 'strenge Objektivität', die das, was es über diesen Tod zu erfahren gibt, als einen gegenwärtigen Produktionsvorgang versteht, dem zahlreiche Akteure zusetzen und durch den raum/zeitliche Verhältnisse neu zur Disposition gestellt werden können.

Choix d'un passé. traits d'union umfasst bislang die beiden Videos À travers l'encoche d'un voyage dans la bibliothèque coloniale. Notes pittoresques, 25 min., DV Farbe, 2009 und 2006-1892 = 114 ans/jahre, 7 min., DV Farbe, Loop, 2006 (alle Videos im Verleih von arsenal experimental, Berlin), vier Karten auf Leinwand, je 101,09 x 176 cm, 2009, zur 'Süd Kamerun Hinterland Expedition Nr. 10' von 1892 mit den Titeln "LINIEN DER TERRITORIALISIERUNG I: RETERRITORIALISIERUNG / TERRITORIALISIERUNG, Daten des kolonialen Archivs: Es sind die Darstellungsformen, welche den von der 'Süd Kamerun Hinterland Expedition Nr. 10' durchquerten Raum erschließen"; "LINIEN DER DETERRITORIALISIERUNG I: Schwund und Zuwachs des Expeditionsbestandes: Rekonstruktion anhand des Berichts von Ramsay"; "LINIEN DER DETERRITORIALISIERUNG II: Gequälte Sprache (torture de langue) und verdrehte Landschaft"; "LINIEN DER TERRITORIALISIERUNG II: Die Einrichtung der kolonialen Station in Balinga" sowie die Aufsätze: Kuster (i.E.): "L'avenir est un long passé", in: Andrei Siclodi (Hg.), Private Investigations: Forschung, Wissensaneignung und -verarbeitung in zeitgenössischen Kunstpraktiken, Innsbruck: büchs'n'books - Art and Knowledge Production in Context; Kuster im Gespräch mit Stefan Nowotny: „'J'y étais'. Über das Weitersprechen von Zeugen des Jahres 1892", in: Boris Buden/Stefan Nowotny, Übersetzung: Das Versprechen eines Begriffs, Wien: Turia und Kant und Kuster (2008), "Note d'intention zu 2006-1892=114 ans/jahre", in: Beyond Culture: The Politics of Translation, auf: http://translate.eipcp.net/strands/03/kuster-strands01de.

[3] Michel de Certeau, L'écriture de l'histoire, Paris: Édition Gallimard, 2007 (1975), 103.

[4] Michel de Certeau, Kunst des Handelns. Berlin: Merve Verlag, 1988, 218-219.

[5] Michel de Certeau, L'écriture de l'histoire, 21, 49-50.

[6] Das damalige „Kamerun“ entspricht dem heutigen Douala.

[7] Technische Gründe – erforderliche lange Belichtungszeiten und damit verbunden das Posieren und das Aufstellen eines Stativs etc. – müssen bei der Herstellung dieser Sehkonvention mitbedacht werden. Die meisten der überlieferten Fotografien von Expeditionen, etwa im Bildarchiv der Deutschen Kolonialgesellschaft, sind wohl beim Aufbrechen aufgenommen und keineswegs Schnappschüsse vom Unterwegs-Sein.

[8] Mit dem „Expeditionsführer“ Hans Ramsay sind maximal vier weitere deutsche weiße Männer unterweg – ein Arzt und drei Offiziere.

[9] Johannes Fabian, Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas, München, 2001,18.

[10] Ebd., 19.

[11] Ann Laura Stoler, „Colonial Archives and the Arts of Governance“, in: Archival Science 2, 98, 100-101, ÜdA.

[12] Ebd., 87-109, 97, ÜdA.

[13] „Nach außen“ wird die Formation kolonialer Staatlichkeit durch Grenzverträge mit anderen europäischen Kolonialmächten abgesichert.

[14] Achille Mbembe, „Nekropolitik“, in: Pieper/Karakayali/Tsianos, Biopolitik in der Debatte, Verlag der Sozialwissenschaften 2011, 63-96, hier 74-75.

[15] Ebd.

[16] „Bericht des Leiters der Südkamerun-Hinterlandsexpedition H. Ramsay über seine Reise von den Ediäfällen nach dem Dibamba (Lungasi)“, in: Mitteilungen von Forschungsreisenden und Gelehrten aus den deutschen Schutzgebieten 6 (1893), 281-286. Eine kürzere Zusammenfassung über Ziele und Ergebnisse der Expedition ist unter dem Titel „Expedition in das südliche Hinterland“ bereits 1892 im Deutschen Kolonialblatt veröffentlicht worden.

[17] Zu den Terminologien im Kontext der deutschen kolonialen Okkupation von Kamerun siehe etwa: Florian Hoffmann, Okkupation und Militärverwaltung in Kamerun. Etablierung und Institutionalisierung des kolonialen Gewaltmonopols 1891-1914. 1. Band, Göttingen 2007, 9-14.

[18] Eine Auszählung der Personalpronomen im Bericht Ramsay ergibt: „Sie“ – und das sind immer bestimmte oder unbestimmte „Leute“ – schießen zwölfmal; „er“ gibt dreimal einige Salven ab; „ich“ ist kein einziges Mal aktiv mit einer Waffe zu Gange.

[19] Achille Mbembe, „Nekropolitik“, 74.

[20] V.Y. Mudimbe, The Invention of Africa, Gnosis, Philosophy, and the Order of Knowledge 1988, 187.

[21] Das Itinerar findet sich in der Zeitschrift Mitteilungen von Forschungsreisenden und Gelehrten aus den deutschen Schutzgebieten.

[22] Die so genannte Moisel-Karte (1909/10) besteht aus einer Folge mehrerer Blätter, die im Maßstab 1:300 000 erstmals ein umfassendes „Kamerun“ vorstellen. Die Karte bildet bis heute die Grundlage der Kartographie des kamerunischen Staates.

[23] Vgl. hierzu etwa Achille Mbembe, Jean-François Bayart und Comi Toulabor, Le politique par le bas en Afrique noire, Paris: Karthala 2008; Jean-François Bayart, “Les études postcoloniales, une invention politique de la tradition?“, in: Sociétés politiques comparées, Revue Européenne d'analyse des sociétés politiques, Nr. 14, April 2009. – Zunächst als eine Provokation wahrgenommen, sollte der “koloniale Moment“ das Sprechen über die „koloniale Situation“ ablösen und (in Anlehnung an die Subaltern Studies) eine De-Totalisierung des Kolonialismus als eines geschlossenen sozialen Phänomens vornehmen. Erst diese De-Totalisierung ermöglicht es, die Spur der Autonomie autochthoner Denk- und Handlungsbereiche aufzugreifen, welche die Periode der kolonialen Besetzung überdauert haben und sich nicht auf ein reaktives Muster der (kollaborativen oder konfliktuellen) Interaktion der Kolonisierten mit dem kolonialen Projekt reduzieren lassen. Dabei geht es ausdrücklich nicht um etwas, das in der westlichen Epistemologie als „Tradition“ auftaucht. Vielmehr setzt das Verständnis des kolonialen Moments voraus, „dass die Analyse mehr als zuvor jene unterschiedlichen Praktiken der Verhandlung in den Blick nimmt, die unterschiedlichen Typen des Wilderns – die ganze Logik von Blindgängern, Zweideutigkeiten oder Rutschpartien, die dazu führten, dass das koloniale Feld in Wirklichkeit eine sehr inkohärente Pluralität war.“ (Achille Mbembe, „Domaine de la Nuit et Autorité Onirique dans les Maquis du Sud-Cameroun 1955-1958“, in The Journal of African History, Vol. 32, Nr. 1, 1991, 97, ÜdA)

Wichtig scheint mir für unsere Frage nach dem Geschehen hierbei nicht nur, dass die Kohärenz des kolonialen Archivs nicht aus sich selbst heraus entsteht, sondern dass sich auch das, was sich als eine Geographie der Balamba in lokalen Genealogien erforschen lässt, komplexer gestaltet: Es besteht aus Verhältnissen, die von der Einführung der kolonialen Raumordnung verdeckt und zum Schweigen gebracht, weiterbestanden haben, aber nicht ungekerbt davon geblieben sind. Vieles davon wirkt bis heute im Untergrund und hat sich zudem mit der antikolonialen Zeit verbunden, d.h. der Zeit der Unabhängigkeiten und ihrem ebenfalls verschütteten, weil für eine lange Zeitdauer kriminalisierten Gedächtnis.

[24] Gille Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin: Merve Verlag 1992, 382.

[25] Zu einer „impercetible politics“, einer Politik der Unwahrnehmbarkeit, siehe die ausführlichen Überlegungen in: Dimitris Papadopoulos, Niamh Stephenson und Vassilis Tsianos, Escape Routes. Control and Subversion in the 21 Century, London: Pluto Press 2008, insbes. 55-82.

[26] Siehe Carlo Ginzburg, Der Richter und der Historiker. Überlegungen zum Fall Sofri, Berlin: Wagenbach 1991. „Für viele Historiker ist der Begriff des Beweises aus der Mode gekommen: ebenso wie der der Wahrheit, mit dem er durch eine sehr starke historische (also nicht notwendige) Bindung verquickt ist. Die Ursachen für die Entwertung sind zahlreich und nicht alle sind intellektueller Natur. Eine liegt sicher in dem übertriebenen Erfolg des Begriffs 'Repräsentation' diesseits und jenseits des Atlantiks, in Frankreich wie in den Vereinigten Staaten. Dessen häufiger Gebrauch führt in vielen Fällen dazu, um den Historiker herum eine unüberwindliche Mauer aufzurichten. Die historische Quelle neigt dazu, ausschließlich als Quelle ihrer selbst (der Art ihrer Erschaffung) untersucht zu werden und nicht als Quelle dessen, wovon sie spricht. Anders ausgedrückt werden die (schriftlichen, bildlichen usw.) Quellen als Zeugnisse sozialer 'Darstellungen' analysiert. Gleichzeitig aber wird die Möglichkeit zur Untersuchung der Beziehungen, die zwischen diesen Zeugnissen und den von ihnen bezeichneten oder dargestellten Realitäten bestehen, als unverzeihliche positivistische Naivität abgelehnt. Freilich, diese Beziehungen sind nie ganz offenkundig: Sie im Sinne einer Spiegelung zu definieren - das wäre naiv. Wir wissen wohl, dass jedes Zeugnis nach einem Kode aufgebaut ist; die historische Realität (oder die Realität) im Direktgang zu erfassen, ist an sich unmöglich. Daraus aber die Nicht-Erkennbarkeit der Wirklichkeit zu folgern, heißt in eine Form bequem radikaler Skepsis zu verfallen, die gleichermaßen aus existentieller Sicht unhaltbar und aus logischer Sicht widersprüchlich ist: bekanntlich unterliegt die Grundhaltung des Skeptikers nicht dem methodischen Zweifel, für den einzutreten er vorgibt.“ (29-30)