Cookies disclaimer

Our site saves small pieces of text information (cookies) on your device in order to keep sessions open and for statistical purposes. These statistics aren't shared with any third-party company. You can disable the usage of cookies by changing the settings of your browser. By browsing our website without changing the browser settings you grant us permission to store that information on your device.

I agree

01 2007

Experiences Without Me, oder: Das verstörende Grinsen der Prekarität

Brigitta Kuster / Vassilis Tsianos

I.

Wir beginnen mit einer Geschichte, die in der Weise vielen bereits einmal selbst widerfahren sein dürfte. Sie betrifft die soziale Bedeutungsproduktion durch Adressierung. Eine Person bewirbt sich als Freelancer_in um einen Job als Korrektor_in für eine Publikation. Die Auftraggeber sind ihr nicht bekannt, der Job wurde netzwerkartig über verschiedene persönliche Kontakte weitergegeben, und unsere Person tätigt nun den Anruf, bei dem sie ihre Arbeitskraft einer, wie sie annimmt, nicht in letzter Instanz entscheidungsbefugten Vertreter_in des Redaktionsteams einer Publikation zu einem akademischen Kongress anbietet. Sie stellt sich vor und spricht diese Vertreter_in per „du“ an. Die Antwort darauf von der anderen Seite stockt, hält inne und ihre Adressierung wird per „Sie“ zurückgeworfen. Es entsteht das Moment einer kurzen Vermittlungskrise in der Kommunikation, aber unsere Bewerber_in fasst sich schnell und wechselt – selbstverständlich ohne Problematisierung – ebenso zum „Sie“ über. Sie unterwirft sich damit ihrer Gesprächspartner_in, die ihre Adressierung distanziert hat. Das Angebot dieser Freelancer_in auf ein „du“ antizipierte, wie sich sagen ließe, jene Vertrauensressource, jenen Anteil an der Informalität der Arbeit, um die sie sich bewarb, die ihrer Erfahrung gemäß bei solchen Jobs eine gängige Anforderung darstellt. Was sie abliefern soll, ist ein nicht standardisierbares Endprodukt, denn niemand wird nachkontrollieren können, ob sie die Korrektur gut gemacht hat. Was sie dagegen ‚als gute Arbeitskraft’ auszeichnet – und das wird sich höchstens durch ein zukünftiges, reaktualisiertes Arbeitsverhältnis erweisen können – ist, dass sie den Job in einer Weise erledigt, die sich aus der Sicht ihrer Auftraggeber_in als vertrauenswürdige und kompetente Selbstverantwortlichkeit beschreiben ließe. Der Anspruch auf Egalität mit einer potenziellen Arbeitgeber_in, den diese Arbeitnehmer_in durch ihre Adressierung aktualisierte, stellt geradezu eine unabdingbare Voraussetzung dar für die Art und Weise, in der die Arbeit einzelner innerhalb der Projektzusammenhänge, in denen die meisten Wissens- und Kulturarbeiter_innen tätig sind, produktiv wird. Mehr noch, die Arbeitsbedingungen in diesen Bereichen setzen ein lockereres Verhältnis zwischen nicht-zweckgebundener Produktion und standardisierten Formen der Verwertung als ‚normal’ voraus: Die Personen sind in den Bereichen kundig und tätig, in denen ihre Arbeitskraft punktuell verwertet wird.

Die krisenhafte Verhandlung zwischen dem „du“ und dem „Sie“ in dieser Geschichte schien uns interessant. Denn sie verweist auf die Instabilität, die Beweglichkeit, die Umarbeitbarkeit, aber auch auf das Risiko einer ‚falschen’, einer unangemessenen oder möglicherweise ineffektiven Adressierung, vor der es scheinbar kein Entkommen gibt: Und zwar deshalb, weil sie immer gleichzeitig sowohl auf die Intaktheit der durch diese Adressierungen angebotenen sozialen Plätze und Verhältnisse verweist, als auch darauf, dass allein mit ihnen bei diesen Arbeitsanforderungen nicht mehr operiert werden kann: Ein „du“ unter Gleichen oder aber ein „du“, das sich nach oben richtet und eine Kampfansage markiert – dagegen stehend ein „Sie“ als eine Anrede in einer bestimmten oder unbestimmten sozialen Situation, die eine radikale Differenz von Gleichen ermöglicht. – Jemand kann mich nämlich siezen und gerade darüber markieren, wie sehr er mein Chef ist.

Die Zurückweisung dessen, dass ein Chef sie siezt und stattdessen der Versuch, ein „du“ als eine Adressabilität unter Gleichen zu verallgemeinern, den unsere Freelancer_in kennzeichnet, ließe sich in einem erweiterten Narrationskontext der Geschichte von Adressierungen bei der Arbeit als eine Kritik an den starren Hierarchien des Fordismus und der von ihnen angebotenen Plätze in Institutionen der so genannten Normalarbeits- und Lebensverhältnisse fassen. Das „du“ als eine Umgangsform, die die Produktionsbedingungen betrifft, ist inzwischen insbesondere in der Kultur- oder Wissensproduktion weitestgehend etabliert. Seltsam unberührt davon scheinen hingegen die dortigen Institutionen selbst zu bleiben. Sogar die Antwort per „Sie“ der Vertreter_in des Redaktionsteams am Telefon, die mit der Stimme eines institutionellen Platzes sprach, besetzte diesen Platz – was ihre Autorität, etwa einen Arbeits- oder Honorarvertrag zu unterzeichnen betraf – faktisch gar nicht. Das „du“, so unsere These, bezeichnet ein neues Produktivitätsparadigma, das aber andererseits auch nicht in einem externen Verhältnis zu den Institutionen steht: Die Anforderung an die Fertigkeiten und Fähigkeiten der Subjekte sind unmittelbar und gleich; sie sind „du“ und stellen insofern auch ‚mehr’ dar als die Anforderungen an ein „Sie“.

In gewisser Weise beinhaltet das performative „du“ unserer Freelancer_in Aspekte dessen, was man als eine instituierende Praxis bezeichnen könnte, bei der die Ebene der Anerkennung nicht aus einem in Aussicht gestellten Platz (in einer Institution) besteht, sondern eine Anerkennung ‚als gleich’ durch Produktivitätssteigerung und Aktivierung der eingesetzten Fähigkeiten ist, indem die Freelancer_in etwa wieder angerufen oder anderswohin weiterempfohlen wird und so im Netz der Aufträge als jederzeit aktualisierbare Potenzialität zirkuliert. An dieser Potenzialität setzt auch die implizite Drohung an, die in der Vermittlungskrise zwischen „du“ und „Sie“ bzw. in dem distanzierenden „Sie“ mitschwingt: Sie artikuliert bereits die Möglichkeit eines Ausschlusses – und zwar auf der Ebene des Nicht-Mehr-Vorgekommen-Seins als „du“ – einer zukünftigen Vergangenheit, die das Präsens bestimmt. Die instituierende Praxis unserer Freelancer_in trägt also nicht bloß Züge von Produktivität, Vermögen und Versprechen, sondern auch die Sorgenfalten einer Furcht, die von ihrer Suche nach einer schützenden Nähe im „du“ herrührt.

Wenn wir also mit dieser Geschichte die These auslegen, dass sich innerhalb der intakten und gleichzeitigen Anrufungen als „du“ und/oder „Sie“ eine Art Formel des Krisenhaften der Subjektivierung in der Prekarität zeigt, dann kann die Frage nach dem Ort der instituierenden Praxen nicht zwischen der Selbst-Prekarisierung oder Selbst-Ausbeutung auf der einen Seite und möglichen widerständigen oder aber auch affirmativen Formen der Selbst-Instituierungen auf der anderen Seite entscheiden, sondern sie muss genau das Arrangement adressieren, welches das „du“ und das „Sie“ gleichermaßen erfasst und eine zwanghaft begehrliche Subjektivierung in der Prekarisierung ermöglicht.

 
II.

Spinoza lässt sich verdächtigen als ein Vordenker der Prekarität, wenn er die Adressabilität des Subjekts als eine Affizierbarkeit denkt, die sich ebenso als eine Lust wie als eine Unlust erweisen kann; sie sind Affekte, die zum einen beide gleichermaßen unbestimmt sind und zum anderen an das Projekt gebunden, dem das Subjekt verhaftet ist. Mit Spinoza lässt sich die Gleichursprünglichkeit von Hoffnung und Furcht in der Prekarität als eine soziale Taktung des Verhältnisses zwischen Lust und Unlust denken: „Hoffnung ist nämlich nichts anderes als unbeständige Lust, entsprungen aus der Vorstellung eines zukünftigen oder vergangenen Dinges, über dessen Ausgang wir im Zweifel sind. Furcht dagegen ist unbeständige Unlust, ebenfalls entsprungen aus der Vorstellung eines zweifelhaften Dinges.“ (S. 297) Unsere Idee hier ist es, die Prekarisierung als eine infame Unbestimmtheit zu begreifen, d.h. als Schwanken der Affektion zwischen der Adressierung als „du“ einer möglichen Lust an der Zukunft und/oder Vergangenheit Gleicher und einer durch eben diese Vergangenheit oder antizipierte Zukunft immer schon eingeholten Unlust am „Sie“ als ein Moment der Furcht, die das „du“ ergreift. Dessen Lust ist jedoch längst in das Produktionsparadigma des Postfordismus eingeschrieben. Weniger beachtet hingegen ist seine Unlust und ihre produktive Einschreibung. Es lässt sich beobachten, dass sie sofort weg- oder rekodiert wird als eine Lust. Unlust ist der Zwang, die Lust artikulierbar zu machen, verwertbar und distinguierbar und sogar zu vermehren. Sie ist etwa zu vermerken, wenn mich der Zweifel über den guten Ausgang einer Sache befällt, die ich aber nicht mehr vermeiden kann; oder wenn das, was ich mit Lust mache, nicht angemessen honoriert wird und ich trotzdem so tue, als ob es angemessen honoriert wäre, weil ich keinen Nerv habe, den Konflikt zu artikulieren.

Auf eine geheimnisvolle Weise scheint die Unlust Produktionsabläufe der subjektivierten Arbeit offenbar anreizend zu begleiten. Das Schwankende, Unbestimmte der Prekarität ist, so meinen wir, mit einer Politik der Unlust, ja der Furcht verbunden, die sich als Debatte um die Sicherheit zeigt: Das Skandalöse an der Prekarisierung, so die meisten kritischen Diskurse, liege in der Entgarantierung von Plätzen. Diese Form der Kritik ist eine Vereindeutigung – du oder Sie –, weil sie die Unbestimmtheit reduziert. Wir plädieren ebenso für eine Bestimmung, eine Vereindeutigung, aber in exakt entgegen gesetzter Richtung der Skandalisierung. Sie betrifft weniger die Unlust, also die ängstliche Beschäftigung mit der Sicherheit, sondern vielmehr die Lust, die sich mit der Furcht einen unsicheren Weg bahnt. Denn wir glauben, dass das Fürchten, im Kontext der Sicherheit betrachtet, mehr Furcht erzeugt.

Nochmals Spinoza, der kein Melancholiker war und die Unbestimmtheit des Affekts, also der Lust und der Unlust, in Modalitäten der Zeit dachte. „Weil es nun aber häufig vorkommt, dass Menschen, die viele Erfahrungen gemacht haben, schwanken, solange sie ein Ding als zukünftig oder vergangen betrachten und über den Ausgang der Sache häufig in Zweifel sind“ – also etwa genau dort sind, wo unsere Erfahrung mit der Prekarisierung gegenwärtig steht –, „so kommt es, dass die Affekte, die aus solchen Vorstellungen der Dinge entstehen, nicht sehr anhaltend sind, sondern häufig von den Vorstellungen anderer Dinge verdunkelt werden“ – also etwa Vorstellungen einer Möblierung, die den unbestimmten Raum der Prekarisierung wohnlicher machten – „bis die Menschen über den Ausgang der Sache Gewissheit erlangt haben.“ (S. 297)

 
III.

Im Rückgriff auf die Unterscheidungen zwischen Furcht und Angst bei Kant und Heidegger stellt Paolo Virno die These auf, dass gegenwärtig die von diesen Autoren aufgeworfene Differenz zwischen einer spezifischen, gesellschaftsimmanenten Furcht vor etwas und einer absoluten Angst, die mit dem In-der-Welt-Sein an sich verbunden sei, verschwindet, weil die Erfahrung im Postfordismus mit einer veränderten Dialektik von Furcht und Sicherheit einhergeht, wie Virno sagt. Als Indikatoren für diese Transformation ortet er das Ineinanderfließen von Furcht und Angst in einer Furcht, die „immer angsterfüllt (ist)“ (2005a, S. 19) und in einem „Leben, das viele Züge dessen (annimmt), was man einst den Schrecken zuschlug, die einen außerhalb der Mauern der Gemeinschaft erwarten“ (S. 20). – Ein geradezu mythisches Bild der Furcht wirft der Film „The village“ von M. Night Shyamalan auf. Er handelt von dem Dorf Covington in einer unbestimmt gehaltenen Zeit, die jedoch atmosphärisch an die frühe US-amerikanische Kolonialzeit erinnert. Mitten im Wald, abgeschnitten von möglichen anderen Dörfern oder bewohnten Zonen, lebt eine Gemeinschaft ein einfaches, autarkes Leben.

Anhand dieses Films möchten wir das Ineinanderfließen zwischen Furcht und Angst genauer in den Blick nehmen, nämlich als eine Differenzierung der Art und Weise, wie Furcht und Angst in verschiedenen Momenten der Transformation der Gesellschaftlichkeit dieses Dorfes sich widerstrebend fügen.

Die Reproduktion der Regeln im Dorf verläuft über die Angst vor den so genannten Unaussprechlichen, die den Wald bewohnen, der das Dorf umgibt. Sie sind das bedrohliche Außen der Gemeinschaft, mit dem ein Pakt geschlossen wurde: Solange kein_e Dorfbewohner_in den Wald betritt, greifen die Unaussprechlichen das Dorf nicht an. Das Dorf kennt soziale Formen der Sorge, Umgangsweisen mit der Furcht, aber auch Subjektivierungen des Muts, etwa wenn die jungen Männer mit dem Rücken gegen den Waldrand stehend ihre Arme öffnen. Die erste dramaturgische Wendung des Films besteht nun aus der Entstehung der Furchtlosigkeit: Sie erwächst aber nicht etwa einer Verletzung der Regeln, sondern durch deren subjektive Verkörperungen, die diese bloß leicht verfehlen.

Lucius Hunt ist ein Dorfmitglied, das die Regeln sogar übererfüllt: Er ist so sehr und so ernsthaft mit ihnen beschäftigt, dass daraus sein Wunsch aufkommt, aus dem Dorf wegzugehen, die Begrenztheit der Gemeinschaft zu überwinden. Das Argument, das er diesbezüglich gegenüber dem herrschenden Ältestenrat anführt, ist die Verletzbarkeit innerhalb der Community: Er gibt an, Medikamente zur Heilung eines anderen Dorfmitgliedes, Noah Percy, in der Stadt jenseits des Waldes besorgen zu wollen. Sein Wunsch qualifiziert die Grenze zum Wald als eine instabile. Lucius ist ihr gegenüber furchtlos, indem er glaubt, durch die Verkörperung gemeinschaftsimmanenter Regeln, der Furcht entgegenzuwirken, ‚rein’ und unangreifbar zu sein.

Die zweite Figur der Furchtlosigkeit ist Noah. Für ihn wäre die beabsichtigte Heilung vorgesehen. Er wird aber nicht eigentlich als krank gezeichnet, sondern vielmehr als einer, der ‚anders’ ist, als jemand, der aus einem nicht definierten Grund eher das Monströse der Regeln des Dorfes verkörpert und offen legt: Nicht wie alle anderen fürchtet er die Unaussprechlichen, sondern scheint vielmehr geradezu auf deren Ankunft zu warten. Die Farbe Rot ist ein verbotener Code, die Farbe der Unaussprechlichen. Alles, was mit dieser Farbe zu tun hat, wird im Dorf sorgsam vermieden, weil es – so die Regel – die Unaussprechlichen anziehe; schützend dagegen wirke die Farbe Gelb. Noah durchstreift den Zwischenraum zwischen Wald und Dorf und sammelt dabei rote Beeren, die er lustvoll, auch im Dorf, insgeheim bei sich trägt. Er lacht verzückt, wenn die anderen zittern.

Die dritte Figur der Furchtlosigkeit ist Ivy, die Tochter des Dorfvorstehers. Sie ist blind, aber sie kann Farben fühlen. Sie hat eine Sicht auf das, was verborgen bleibt. Sie sinniert: „Manchmal tun wir Dinge nicht, die wir eigentlich tun wollen, damit andere nicht wissen, dass wir sie gerne tun würden.“

Das Exposé des Filmes, das diesen unterschiedlichen Verkörperungen der Furchtlosigkeit folgt, zeigt, dass die Politik der Angst alles andere als reibungslos funktioniert. Die Furchtlosigkeit ist das intime Band, das Lucius, Noah und Ivy verbindet. Sie ist ruhelos und unbeängstigt, erzeugt jedoch auch keine Angst. Die drei Figuren sind alle potenzielle Grenzverletzer, die aber die Matrix des Dorfes nicht angreifen. Als zweite dramaturgische Wendung bricht nun ein Ereignis ein. Es entsteht aus einer Reterritorialisierung der Intimität der Bande zu dritt: Aus drei wird zwei, durch die angekündigte Heirat von Lucius und Ivy. Sie beschreibt das Moment, das Noah klar macht, dass er ab dann allein sein würde mit seiner Matrix der Furchtlosigkeit. Er versucht, Lucius mit einem Messer zu töten. In der Folge der lebensgefährlichen Verletzung Lucius’ ist es Ivy, die sich gezwungen sieht, dessen Projekt, aus dem Dorf wegzugehen, in anderer Weise fortzusetzen. Sie will weggehen, um Lucius mit Medikamenten zu heilen. Die Vorzeichen ihres Weggangs haben weder mit dem Exodus, dem Wunsch, sich der Einschreibung in die Dorfgemeinschaft zu entziehen, zu tun, noch mit dem, was Noah affiziert. Ihr Projekt ist funktional und wird schrittweise geformt durch die in Gang gebrachten Ereignisse. An dieser Stelle scheint es, dass das dramaturgische Geheimnis des Filmes und damit der Dorfgemeinschaft gelüftet werden muss. Gerade Ivys Vater und Dorf-vorsteher, der das Prinzip der Abgeschiedenheit des Dorfes am meisten verkörpern soll, ist konfrontiert mit dem Scheitern der Sicherheit – insbesondere jener seiner Tochter –, welche sich durch die Politik der Angst gewährleisten lässt. Er sieht sich gezwungen, Ivy gegenüber das schreckliche Geheimnis über die Unaussprechlichen auszusprechen, damit sie sich auf dem Weg in die Stadt nicht zu fürchten braucht: Die Unaussprechlichen existieren gar nicht bzw. sie sind nämlich rote Kostüme, von Mitgliedern des Ältestenrates getragen, um Schrecken zu erzeugen und den Exodus zu verhindern. Ivy wird durch diese Offenbarung ihres Vaters ein Subjekt des Wissens der Eingeweihten. Und sie erhält die sichere Wegbeschreibung in die Stadt. Ihre Furchtlosigkeit ist aufgeklärt.

Die dritte dramaturgische Wendung betrifft nun den Auftritt der Angst. Ivy befindet sich im Wald, nach allen Regeln des Plans – und es kommt auf sie zu, das Unaussprechliche, das es nicht gibt, wie sie weiß. Sie sagt sich: Das ist nicht real. Hier ist nicht Furcht, sondern Angst. Und doch gibt es keine andere Praxis gegenüber dem Nichtrealen als ein überaus reales, haptisches Handeln. „Wirklich beängstigend“, so Virno, „ist eine gewisse Art, der Angst zu begegnen.“ (S. 22) Sie kämpft mit dem Unaussprechlichen und lässt es in ein Erdloch fallend tödlich verunglücken. Während Ivy für ihren Gang durch den Wald eingeweiht worden war, hat Noah – per Zufall – das rote Kostüm entdeckt, das er sich anlegt, wodurch er selbst zum Unaussprechlichen wird. Er verkörpert den Gründungsmythos der Gemeinschaft, er bejaht ihre Furcht, er ist sie. Damit hat er sich auf den Weg in den Wald gemacht, um Ivy zu begegnen.

Die Unmöglichkeit Ivys, sich im Moment der Begegnung mit dem Unaussprechlichen zu fürchten, ist beängstigend. Von diesem Zeitpunkt an geht sie nicht mehr, sondern sie flieht. Ihre Flucht ist aber nicht einfach eine Praxis der Angst, sondern hier fließen die Furcht und die Angst ineinander. Die Wegbeschreibung ist weiterhin gültig, sie folgt ihr aber angstgetrieben, auf der Flucht. Mit Virno gesprochen ist das die Prekarität. Für die Fusion von Angst und Furcht schlägt er den Begriff des Verstörenden[1] vor. Mit unserem Filmbeispiel gedacht lässt sich sehen, dass dieses verstörende Fliehen eine Waffe der Prekarität darstellt. Auf dem kodierten Weg fliehend trifft Ivy auf eine Mauer, über deren Existenz sie nicht informiert worden ist – eine weitere Begrenzung also, die aber unbegründet bleibt. Indem sie fliehend befähigt ist, diese Mauer zu durchbrechen, rüttelt sie an den Festen der infamen Unbestimmtheit der Prekarität, wie sich sagen ließe. Mit diesem Durchbruch vereindeutigt die filmische Narration von „The village“ ihre Unbestimmtheit und bestimmt sie als eine zeitliche, chronologische Verwirrung: Wir befinden uns nämlich gar nicht im 19. Jahrhundert, in der Vergangenheit des Dorfes, sondern in der Gegenwart. Die schreckliche Wahrheit ist, das Dorf ist nichts anderes als ein Reservat, gegründet zum Schutz vor Gewalt und von Security-Personal bewacht. Diese Bestimmung in der Narration des Filmes endet mit einem Happy End. Der Stachel des Verstörenden, den Ivys Geschichte der Flucht trägt, wird befriedet, die identitätsstiftende Politik der Angst des Dorfes wird bewahrt, die Regeln der Dorfgemeinschaft werden auf einer neuen Ebene reproduziert. – Man könnte sich aber auch vorstellen, dass die Rückkehr ins Dorf von einem verstörenden Lächeln, oder sogar Grinsen auf Ivys Gesicht begleitet wäre, in dem sich die Möglichkeit, etwas anderes zu sein, abzeichnet.

Am Ende ihres Textes zur „Subjektivation nach Althusser“ erkundet Judith Butler die Begrenzungen der Subjektivierung und wirft mit Rekurs auf Giorgio Agamben die Frage nach den Fluchtlinien des Begehrens auf, die Abstand halten gegenüber identitätsverlockenden Bestimmungen des Seins. Es geht ihr um eine Bereitschaft nicht zu sein, die eine Form des sprachlichen Überlebens annehmen kann, um sich ihrer selbst zu versichern, wie sie sagt und Agamben zitiert: „Es gibt in der Tat etwas, was Menschen sind und zu sein haben, aber das ist kein Wesen und kein Ding im eigentlichen Sinn: Es ist die einfache Tatsache der eigenen Existenz als Möglichkeit oder Potenzialität.“ In diese Behauptung von Agamben schreibt Butler mit ihrem Kommentar ein Begehren ein: „Man kann hier die Behauptung herauslesen, dass diese Möglichkeit sich in etwas auflösen muss, ohne jedoch ihren eigenen Status als Möglichkeit durch eine solche Lösung überwinden zu können.“ (S. 123)

 
Unser Dank für die inspirierenden Diskussionen im Vorfeld dieses Textes geht an Efthimia Panagiotidis, Frank John und Isabell Lorey.

 
Literatur

Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt a.M.

Shyamalan, M. Night (2004): The Village. USA, 108 min.

Spinoza, Benedictus (1977): Die Ethik. Stuttgart.

Virno, Paolo (2005a): Grammatik der Multitude. Öffentlichkeit, Intellekt und Arbeit als Lebensformen. Wien.

Virno, Paolo (2005b): Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen. Berlin.


[1] Die beiden deutschen Übersetzungen (vgl. Virno 2005a, b) differieren hier in der Begriffsverwendung. Der im Originaltext verwendete Ausdruck „perturbante“, der im Deutschen meist mit „erschütternd“ und „verstörend“ übertragen wird, kennzeichne in italienischen Übersetzungen auch den Freud'schen Begriff des Unheimlichen, auf dessen Bedeutungsfeld Virno an der Stelle ebenso rekurriere: Für diesen Hinweis danken wir Klaus Neundlinger, der Virnos Grammatica della moltitudine ins Deutsche übertragen und mit einer Einleitung versehen hat. Vgl. Virno, Paolo (2005a)