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06 2005

Witz und innovatives Handeln

Paolo Virno

Übersetzt von Klaus Neundlinger

Der Mensch ist ein Lebewesen, das imstande ist, seine Lebensformen zu verändern, indem es von gefestigten Regeln und Gewohnheiten abweicht. Würde der Ausdruck nicht Anlass zu Missverständnissen geben, so könnte man auch behaupten, das Menschentier sei "kreativ". Diese Feststellung ist zwar an und für sich über jeden Zweifel erhaben, doch führt sie uns nicht zu einem Happy End. Im Gegenteil, mit eben dieser außer Zweifel stehenden Behauptung sind alle Arten von Fragen und Zweifeln verbunden. Unter welchen Voraussetzungen schlagen die Praxis und die Rede tatsächlich eine unvorhergesehene Richtung ein? Wie gerät eine Lage, ein Zustand außer Gleichgewicht, welches bis zu diesem Moment geherrscht hat? Worin besteht letztlich eine innovative Handlung?

Das Problem wird oft auf eine bewährte Weise aus der Welt geschafft, die den Eindruck vermittelt, als würde man sich der Frage in vollem Umfang annehmen. Es genügt, den Begriff der "Kreativität" in einem so weiten Sinn zu verwenden, dass er die gleiche Ausdehnung annimmt wie der Begriff der "menschlichen Natur". Auf diese Weise erzeugt man ohne große Umschweife Tautologien, die jeglichen Zweifel zu bannen scheinen. Das menschliche Lebewesen ist dieser Auffassung zufolge fähig, Innovationen hervorzubringen, weil es über Sprache verfügt, oder weil es nicht in einer beschränkten und unveränderlichen Umwelt lebt, oder weil es ein geschichtliches Wesen ist; kurz gesagt, weil es ... ein menschliches Lebewesen ist. Applaus, Vorhang. Diese Tautologie weicht dem heikelsten und interessantesten Aspekt der Frage aus: Eine Handlung, die tatsächlich etwas verändert, wird in unregelmäßigen Abständen gesetzt und kommt ziemlich selten vor. Wenn man also versucht, ihre Funktionsweise zu erklären, indem man sich auf die besonderen Eigenschaften unserer Art beruft, so schießt man am Ziel vorbei. Diese Eigenschaften verlieren nämlich ihre Gültigkeit auch dann nicht, wenn unsere Erfahrung einförmig und repetitiv verläuft.

Chomsky vertritt die Ansicht, die Sprache sei "konstant innovativ", und zwar dank ihrer Unabhängigkeit von "äußeren Reizen und inneren Zuständen" (und auch aus anderen Gründen, die für unsern Zusammenhang von geringerem Interesse sind, vgl. Chomsky, S. 4f. und 131-165). Einverstanden, aber warum bringt diese Unabhängigkeit, welche ja ein ständiger Zustand ist, dann nur in gewissen Fällen ungewohnte und überraschende sprachliche Schöpfungen hervor? Es verwundert also nicht, wenn Chomsky, insofern er die Kreativität der Sprache im Allgemeinen zuschreibt (d. h. der "menschlichen Natur"), zum Schluss kommt, diese stelle ein unerforschliches Mysterium dar. Betrachten wir ein weiteres Beispiel. Der philosophischen Anthropologie Arnold Gehlens zufolge ist der Homo sapiens aufgrund seiner mangelhaft ausgebildeten Instinkte ständig einem Überschuss an Reizen ausgesetzt, die keinen bestimmten biologischen Zwecken dienen und aus denen keine eindeutigen Verhaltensweisen ableitbar sind. Deshalb ist sein "grundloses" Handeln notwendig kreativ (vgl. Gehlen, S. 72 [60-80]). Auch hier bleibt die entscheidende Frage unbeantwortet: Warum erzeugt der Überschuss an nicht zweckgerichteten Reizen in den meisten Fällen stereotype Aktionen und nur äußerst selten eine unvorhergesehene Innovation?

Gewiss ist es vollkommen berechtigt, aus bestimmten Wesenszügen unserer Art die Bedingungen abzuleiten, die eine Veränderung unserer Verhaltensweisen ermöglichen. Ein schwerwiegender Fehler ist es jedoch, wenn man diese Möglichkeitsbedingungen mit den besonderen logisch-sprachlichen Ressourcen gleichsetzt, auf die man sich beruft, wenn man tatsächlich eine einzelne Verhaltensweise modifiziert. Zwischen den Bedingungen und den Ressourcen besteht ein grundlegender Abstand: derselbe Abstand, der die apriorische Anschauung des Raumes von den logischen Schlüssen trennt, mittels deren man ein geometrisches Theorem formuliert oder versteht. Die Unabhängigkeit der Aussagen von "äußeren Reizen oder inneren Zuständen" (Chomsky) und der Mangel an Instinkten (Gehlen) erklären nicht, warum der Lahme, wenn ihn der Blinde gedankenlos fragt: "Wie geht's?", die spitze und nicht wenig kreative Antwort gibt: "Sie sehen ja selbst, wie's geht!" (vgl. Freud, S. 27) Chomsky und Gehlen weisen uns nur auf die Gründe hin, derentwegen der Lahme so auf die ungewollte Provokation des Blinden reagieren kann (wie er auch auf andere, weniger überraschende Weise antworten könnte: "Gut, und Ihnen?", "Blendend", "Es könnte schlechter gehen"), aber sie sagen uns nichts über die effektiven Verfahren, die dem Dialog eine unvorhergesehene Wendung geben. Die logisch-sprachlichen Ressourcen, aus denen das innovative Handeln schöpft, sind enger umschrieben oder weniger allgemein als ihre Möglichkeitsbedingungen. Auch wenn jedes menschliche Lebewesen über sie verfügt, werden diese Ressourcen nur in kritischen Situationen eingesetzt und erlangen dann ihre höchste Sichtbarkeit. Anders ausgedrückt, wenn eine Lebensform, die bis zu diesem Zeitpunkt nicht hinterfragbar erschien, als zu weites oder zu enges Kleid erscheint; wenn die Unterscheidung zwischen "grammatikalischer Ebene" (den Regeln des Spiels) und "empirischer Ebene" (den Tatsachen, auf die diese Regeln angewandt werden sollten), ungewiss wird; wenn die menschliche Praxis – und sei es auch nur flüchtig – an dem logischen Dornenstrauch anstreift, den die Juristen den Ausnahmezustand nennen.

Um der Gefahr der Tautologie zu entgehen, schlage ich vor, uns an eine sehr eingeschränkte, enge Auffassung von "Kreativität" zu halten. Ich verstehe darunter die Formen des sprachlich artikulierten Denkens, die es erlauben, das eigene Verhalten in einer kritischen Situation zu verändern. Der Verweis auf die "menschliche Natur" erklärt nichts: weder den Gleichgewichtszustand noch das Verlassen dieses Zustandes. Umgekehrt lässt eine Untersuchung über die logisch-sprachlichen Ressourcen, die nur im Krisenfall in den Vordergrund treten, nicht nur die Techniken der Innovation sichtbar werden, sondern wirft auch ein neues Licht auf die repetitiven Verhaltensweisen. Nicht die konstitutive Unabhängigkeit der menschlichen Sprache von Umwelt- oder psychologischen Einflüssen trägt zur Klärung wichtiger Aspekte der stereotypen Antworten bei, deren Auftreten um so vieles wahrscheinlicher war, sondern die unerwartete Pointe des Humpelnden. Das Aussetzen oder die Modifikation einer Regel bringt die Paradoxa und Aporien zum Vorschein, die ansonsten nicht wahrgenommen werden und doch in ihrer blinden und automatischen Anwendung stets mitgegeben sind.

Der Text, den die hier abgedruckten Zeilen einleiten, stellt eine Auseinandersetzung mit dem Witz dar. Ich bin davon überzeugt, dass dieser eine adäquate empirische Basis für das Verständnis der Art und Weise bietet, wie das sprachbegabte Tier in den Verlauf seiner Praxis zuweilen eine unerwartete Wendung einführt. Der Witz scheint darüber hinaus ein gutes Beispiel für die angesprochene enge Auffassung von "Kreativität". Diese fällt nicht tautologisch mit der menschlichen Natur in ihrer Gesamtheit zusammen, sondern kann ihre Gültigkeit ausschließlich in einer kritischen Situation unter Beweis stellen. Der grundlegende Text, auf den ich mich beziehe, ist Sigmund Freuds Studie über den Witz (1905). Meines Wissens existiert kein anderer, ähnlich bedeutsamer Versuch, die verschiedenen Arten des Witzes auf so detaillierte, gleichsam botanische Weise zu ordnen und darzustellen. Bekanntlich schließen die Bemühungen Freuds auch eine präzise Analyse der rhetorischen Figuren und Denkschemata ein, die zum plötzlichen Auftreten der Pointe beitragen. Dennoch muss ich vorausschicken, dass meine Interpretation der von Freud gesammelten und analysierten Materialien streng anti-freudianisch ist. Anstatt mich bei seiner eventuellen Nähe zur Traumarbeit und der Funktionsweise des Unbewussten aufzuhalten, möchte ich die enge Verbindung des Witzes zur Praxis in der Öffentlichkeit in den Vordergrund stellen. Deshalb darf es nicht verwundern, wenn ich hinsichtlich eines gelungenen Witzes nichts über Träume und viel über die phronesis sagen werde, also das praktische Geschick (Klugheit, Urteilskraft) und den Sinn für das Maß, die jene leiten, welche ohne Sicherheitsnetz im Angesicht ihresgleichen handeln.

Der Witz ist das Diagramm der innovativen Handlung. Unter "Diagramm" verstehe ich (wie Peirce und die Mathematik) ein Zeichen, das die Strukturen und Proportionen eines bestimmten Phänomens in Miniatur reproduziert (man denke an eine Gleichung oder an eine Landkarte). Der Witz ist das logisch-linguistische Diagramm der Unternehmungen, die angesichts einer historischen oder biographischen Krise den zirkularen Fluss der Erfahrung unterbrechen. Der Witz ist der Mikrokosmos, in dem jene Richtungsänderung der Argumentation und jene Bedeutungsverschiebungen klar sichtbar werden, die im Makrokosmos der menschlichen Praxis die Veränderung einer Lebensform bewirken. Auf den Punkt gebracht, bedeutet dies, dass der Witz ein eng umschriebenes Sprachspiel darstellt, das über eigene, besondere Techniken verfügt, dessen wichtigste Funktion es jedoch ist, uns die Veränderbarkeit aller Sprachspiele vor Augen zu führen

Diese allgemeine Strukturbeschreibung teilt sich in zwei untergeordnete Hypothesen auf, die ich hier kurz umreißen möchte. Die erste lautet, dass der Witz in enger Verbindung mit einem der heikelsten Probleme der Sprechpraxis steht: Wie wendet man eine Regel auf einen Einzelfall an? Es gibt also einen Zusammenhang zwischen dem Witz und den Schwierigkeiten und Ungewissheiten, die zuweilen im Augenblick der Anwendung selbst entstehen. Der Witz zeigt unaufhörlich, auf welch verschiedene und einander sogar widersprechende Weisen man ein und dieselbe Norm befolgen kann. Gerade die Abweichungen, die bei der Anwendung der Regel erzeugt werden, bewirken jedoch oft eine drastische Änderung derselben. Die menschliche Kreativität ist weder oberhalb noch außerhalb des Normengeflechts angesiedelt, sondern vielmehr unterhalb: Sie wird einzig in den seitlichen und scheinbar ungeeigneten Wegen offenbar, die wir im Bemühen, uns an eine bestimmte Norm zu halten, zufällig beschreiten. So paradox dies auch klingen mag, der Ausnahmezustand hat seinen angestammten Ort in jener nur scheinbar selbstverständlichen Aktivität, die Wittgenstein „eine Regel befolgen“ nennt. Umgekehrt bedeutet dies, dass jede bescheidene Anwendung einer Regel in sich immer ein Fragment von "Ausnahmezustand" enthält. Der Witz bringt dieses Fragment zum Vorschein.

Die zweite untergeordnete Hypothese lautet folgendermaßen: Die logische Form des Witzes besteht in einem argumentativen Fehler, d.h. in einem logischen Fehlschluss oder im nicht korrekten Gebrauch einer Mehrdeutigkeit. Beispielsweise, wenn man einem grammatikalischen Subjekt alle Eigenschaften seines Prädikats zuschreibt, wenn man das Ganze mit dem Teil und den Teil mit dem Ganzen verwechselt, wenn man zwischen der Prämisse und der Folge eine symmetrische Beziehung herstellt oder einen metasprachlichen Ausdruck so behandelt, als wäre er Teil der Objektsprache. Deshalb scheint mir, dass zwischen den verschiedenen Typen des Witzes, die Freud auflistet, und den von Aristoteles in den Sophistischen Widerlegungen untersuchten Fehlschlüssen eine Beziehung der minutiösen Entsprechung besteht. Im Fall des Witzes enthüllen die argumentativen Fehlleistungen jedoch eine produktive Eigenschaft: Man erreicht etwas mit ihnen, es handelt sich um unverzichtbare Mechanismen, mittels derer eine Sprechhandlung vollzogen wird, die erstaunt und erhellt (vgl. Freud, S. 9f.). Eine heikle Fragestellung zeichnet sich hier ab. Wenn es zutrifft, dass der Witz das Diagramm einer innovativen Handlung darstellt, dann muss man von der Annahme ausgehen, dass seine logische Form, also der logische Fehler, eine bedeutende Rolle spielt, wenn es darum geht, die eigene Lebensweise zu ändern. Ist es jedoch nicht bizarr, die Kreativität des Homo sapiens auf fehlerhaftem Denken, ja auf dem Fehler selbst gründen zu wollen? Sicherlich ist es das, es ist bizarr, wenn nicht schlimmer. Es wäre jedoch töricht, zu glauben, dass jemand töricht genug ist, eine solche Ansicht zu vertreten. Wirklich interessant wird es hingegen, wenn man zu begreifen versucht, unter welchen Umständen und Bedingungen ein Fehlschluss aufhört ... ein Fehlschluss zu sein, ab wann er also nicht mehr für unangebracht oder (unter logischen Gesichtspunkten wohlgemerkt) für falsch gehalten werden kann. Nur unter diesen Umständen und Bedingungen wird die "Fehlerhaftigkeit" eine unverzichtbare Ressource des innovativen Handelns.  

 

Der vorliegende Text ist die Einleitung zu Paolo Virnos Buch Motto di spirito e azione innovativa. Per una logica del cambiamento.

 
Literatur

Chomsky, N., Probleme sprachlichen Wissens. Beltz Athenäum, Weinheim 1996.

Freud, S., Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Fischer, Frankfurt a. M. 1974.

Gehlen, A., Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Junker und Dünnhaupt, Berlin 1940.