01 2007
Unberechenbare Ausgänge
Übersetzt von Jens Kastner
Wie korrespondiert der gegenwärtige hegemoniale Diskurs über Kreativität, Creative Industries und den Künstler/die Künstlerin als Role Model für die New Economy mit dem Feld der KulturproduzentInnen und KulturaktivistInnen und welche Differenzen artikulieren sich zwischen ihnen? Um die Problemlage zu fokussieren, möchte ich vorab in Frage stellen, ob es die sogenannte „Creative Industries“, mit denen wir uns theoretisch und politisch beschäftigen und gegen deren Durchsetzung wir kämpfen, bereits gibt oder ob wir nicht eher ein Feld politischer Visionen betrachten, die zwar den kulturellen Sektor in jeder Hinsicht privatisieren wollen, es aber noch nicht zu Wege gebracht haben, eine Industrie als solche zu errichten. Ich denke, dies ist weder in Großbritannien der Fall, wo der Diskurs über Creative Industries entstanden ist und Kulturproduktion neu organisiert und positioniert wurde, noch in Deutschland, wo Kanzler Schröder mit unterschiedlichen Erfolgen eine Transformation in Richtung einer Kulturalisierung der Ökonomie und damit verbunden eine Ökonomisierung der Kultur in Gang gesetzt hat. Sind wir also an einem Punkt angelangt, an dem soziale Interaktionen und Formen autonomer Arbeit einen selbstorganisierten Weg ermöglichen, das eigene Leben zu meistern, die aber zugleich als immaterielle Ressourcen durch das Kapital ausbeutbar sind? Oder befinden wir uns innerhalb eines Transformationsprozesses, in dem die Ergebnisse diverser Interaktionen im kulturellen Feld teilweise industriell erzeugt und mehr und mehr ausschließlich von Kapitalinteressen dominiert werden? Oder gibt es, wie viele KritikerInnen seit Adorno behaupten, sowieso einen unüberbrückbaren Widerspruch in der Industriewerdung kultureller Produktionen, und zwar insofern, als „Kreativität“ mit der ökonomischen Sphäre schlicht nichts zu tun hätte?
Da ich davon ausgehe, dass wir uns inmitten all dessen befinden, möchte ich vorschlagen, unseren Diskurs zu reflektieren, denn inmitten zu sein bedeutet auch, dass es immer noch einen Raum gibt, den Diskurs zu beeinflussen oder zu verändern, auch unseren eigenen. Zudem möchte ich in Opposition zu einigen Positionen Kreativität nicht als unschuldigen, sondern als diskursiven Begriff diskutieren, der eine Genealogie im Prozess der Säkularisierung und innerhalb der Entstehung des modernen Subjektes innehat und dem eine zentrale Rolle innerhalb der sozialen Form kapitalistischer Gesellschaften zukommt. Auch die Vorstellung, dass die Massenproduktion kultureller Güter unmittelbar zu deren Verflachung beitrage, wird nicht Teil meiner Argumentation sein. Vielmehr interessiert mich die symbolische Funktion der Debatte um Kreativität und Creative Industries für eine kulturalisierte Darstellung politischer, ökonomischer und sozialer Prozesse. Zudem denke ich nicht, dass es die sogenannten „Creative Industries“ bereits gibt. Was es allerdings gibt, ist ein internationaler Wille, sie möglichst bald zu realisieren und einen Diskurs über sie, an dem wir uns kritisch beteiligen, von dem wir also Teil sind.
Hinsichtlich des Begriffes „Industrie“ lässt sich seit einigen Jahren ein qualitativer Wandel erkennen, in dem das Soziale und das Kulturelle teilweise in Prozesse der Industrialisierung und der Technologie transformiert werden können, sofern wir nicht intervenieren. Beispiele dafür geben die aktuellen Debatten zu kognitiven Fähigkeiten oder Befähigungen im Allgemeinen, welche die neuen Arbeitssubjekte in postfordistischen Gesellschaften erlernen oder bereits besitzen sollen, wie soziale Kompetenz, Kreativität und Intelligenz, die heutzutage mehr und mehr als voneinander getrennte, abstrakte Einheiten diskutiert und dargestellt werden. Die Frage, was und warum und für wen etwas mit diesen Befähigungen erreicht werden kann, scheint dabei nicht relevant zu sein. Soziale und kognitive Befähigungen werden als Wert und als Ressource an sich behandelt, als Ressource, die hergestellt und durch Trainingsmethoden verbessert oder vom Kapital ausgebeutet werden kann. Aber dies kann nur geschehen, wenn diese Befähigungen als nicht-relationale und von einander getrennt konzeptionalisiert werden, wenn sie von wissenschaftlichen und populären Standpunkten aus als Entitäten hervorgehoben und repräsentiert werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Anforderung an ein „lebenslanges Lernen“, das als Prozess isoliert und als Wert an sich herausgestellt wird. Das Konzept des „lebenslangen Lernens“ fragt nicht mehr, was und warum gelernt werden soll, stattdessen wird der Prozess des Lernens selbst, was immer das auch sein soll, positiv gewertet. Es geht also nicht um das Lernen für etwas, sondern um das Erlernen einer Lernbereitschaft, deren Subjekt als am Markt orientiertes, sich den Veränderungen der Bedingungen immer wieder anpassendes gedacht wird. Das Subjekt, das so konzeptualisiert ist, ist eines, das in Abhängigkeit zur jeweiligen Situation sich in Bereitschaft hält und so lange „trainiert“, bis es seine Befähigungen zum richtigen Zeitpunkt rational einsetzt. Es ist kontingent und kontextabhängig, gleichzeitig soll es aber autonom handeln und entscheiden.
Zeitgleich zu dieser Neukonzeption des Arbeitssubjekts werden fragmentierte Pakete kognitiver Prozesse geschnürt, die künftig industriell behandelt werden können. Dieser Prozess der Abstraktion und die Etablierung von Technologien zur Verbesserung und Optimierung kognitiver Kapazitäten kann durchaus analog zu den Schlüsselprozessen und -technologien der Industrialisierung betrachtet werden, die während der Formierung des Industriezeitalters entwickelt worden sind. Hier wurden die Bewegungen des Körpers abstrahiert und fragmentiert, und der Körper des Arbeiters/der Arbeiterin wurde mit der Maschine synchronisiert, wobei eben nur eine oder einige wenige Bewegungen für die maschinellen Abläufe notwendig waren. Bewegungsabläufe wurden trainiert und erforscht. Nachdem das Körper-Maschinen-Management des Taylorismus vollständig realisiert war, also die Beziehung zwischen Körper, Maschine, Management und Wissenschaft international standardisiert war, erlebten das industrielle Zeitalter und die Massenproduktion ihre Blütezeit. Eine Zeit allerdings, in der auch Arbeitskämpfe erfolgreicher zu werden begannen. Die marxistische Analyse des Kapitals und seiner Beziehung zur Arbeitskraft wurde ebenso in den Alltag übersetzt, wie sie sich in den Erfahrungen am Arbeitsplatz und in den Organisationen und Parteien wiederfand.
Der Creative-Industries-Diskurs, der postuliert, dass Prozesse der Industrialisierung sich auf Formen selbst- oder partikulär organisierter Wissens- und Kulturproduktion anwenden ließe, wäre vor diesem Hintergrund vielleicht eher als eine Technologie zu denken, die nicht allein spezifisch kulturelle Sektoren zu kapitalisieren und zu mobilisieren versucht, sondern ein neues Verhältnis der Arbeitssubjekte zur Verwertung, Optimierung und Beschleunigung denkt. Denn was in den Debatten um Creative Industries oft vergessen wird, ist, dass die Rede von Kreativität und kultureller Arbeit einen Einfluss auf das Verstehen und die Konzeptualisierung von Arbeit, Subjektivität und Gesellschaften als Ganze hat. Mit dem Vokabular der Kreativität und der Bezugnahme auf das Leben und die Arbeitsbiografien der Boheme findet eine Transformation der Gesellschaft statt, die konkrete politische Programmatiken ebenso betrifft wie das allgemeine Feld des Politischen – inklusive unserer Kritik.
Schöpfer neuer Ideen
Das Künstler-Subjekt, die Intellektuellen und Bohemiens sind spezifisch europäische Konstrukte. Erst seit dem 16. Jahrhundert wurde das Schöpferische, Kreative, Welt-Hervorbringende nicht länger nur als eine göttliche, sondern (auch) eine menschliche Fähigkeit verstanden und auf eine spezifische Produktionsweise bezogen, die intellektuelle und manuelle Fähigkeiten miteinander in Beziehung setzt und sich von rein handwerklichen Tätigkeiten unterscheidet. Der Begriff „Kreativität“ schließt in diesem Verständnis Reflexivität, die Kenntnis von Techniken und das Bewusstsein der Kontingenz des schöpferischen Prozesses ein. Im 18. Jahrhundert wurde Kreativität als zentrale Eigenschaft des Künstlers definiert, der als autonomer „Schöpfer“ die Welt immer wieder neu hervorbringen würde. In der sich herausbildenden kapitalistischen Gesellschaftsform verbanden sich die Konzepte „Eignung“ und „Eigentum“ mit dieser männlich konnotierten Vorstellung eines genialen Ausnahmesubjekts. „Schöpferische Begabung“, „Schöpferisch-Sein“ dienen seither dem bürgerlichen Individualismus als allgemeinere Umschreibung für kreatives Denken und Handeln im kulturellen und ökonomischen Sinne.
Die Kulturalisierung von Arbeit und Produktion basiert daher ebenso auf eurozentristischen Diskursen der „kreativen Schöpfung“ wie auch auf Formen der Bildproduktion, die sich auf spezifische Blickregime beziehen. Diese haben sich innerhalb institutioneller Rahmen wie Museen und Galerien herausgebildet und standen im Kontext zentraler kultureller Diskurse der Nationalstaatsideologien im 19. Jahrhundert.
Die Figur des Künstlers/der Künstlerin als Ausnahmefigur, als SchöpferIn von Innovationen hinsichtlich Produktion, Konzepten der Autorschaft oder Lebensformen zirkuliert in verschiedenen gegenwärtigen Diskursen über den gesellschaftlichen Wandel. Darüber hinaus fungierte das Ausnahmesubjekt der Moderne –KünstlerInnen, MusikerInnen, NonkonformistInnen und Bohemiens – ebenfalls als Role Model in den aktuellen Debatten der Europäischen Union zur Arbeits- und Sozialpolitik. Insbesondere und zuerst in Großbritannien, aber auch in Deutschland und der Schweiz. Angela McRobbie schreibt dazu in ihrem einflußreichen Text “Everyone is Creative: artists as new economy pioneers?”: „One way to clarify the issue is to examine the arguments presented by this self-consciously ‘modern’ government, which since 1997 has attempted to champion the new ways of working as embodying the rise of a progressive and even liberating cultural economy of autonomous individuals – the perfect social correlative of post-socialist ‘third way’ politics.“
In der politischen Debatte scheint die Figur des Künstlers/der Künstlerin – oder der „cultural-preneurs“, wie Anthony Davis sie genannt hat – die erfolgreiche Kombination einer unbegrenzten Bandbreite von Ideen, einer Kreativität auf Abruf und einer gescheiten Selbstvermarktung zu verkörpern, die heute von allen verlangt wird. Diese Subjektpositionen außerhalb des Arbeitskräfte-Mainstreams werden als selbst motivierende Quellen von Produktivität dargestellt und als SchöpferInnen neuer subversiver Ideen und innovativer Arbeits- und Lebensstile (inklusive leidenschaftlicher Hingabe an diese) gefeiert. Einer von mehreren Gründen für diesen Wertewandel ist die Tatsache, dass einst stabile institutionelle und organisationelle Spezifikationen dereguliert wurden und die stereotypen, männlichen Langzeitarbeitsbiografien erodiert sind. Dadurch wird es schwierig – aus der Sicht jener an stabilen Langzeitbiografien orientierten Gruppen wie bürgerlicher oder Arbeiterparteien – festzulegen bzw. festzustellen, wie, wann und warum zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit zu unterscheiden ist. Der Künstler/die Künstlerin scheint die Bezugsfigur dafür zu sein, diese Beziehung zu verstehen, oder zumindest dient er/sie als Signifikant dafür, ein neues Verständnis des Lebens einem größeren Publikum zu vermitteln.
In den allgemeinen politischen Debatten in Großbritannien oder Deutschland wird die Unterstützung für Angestellte oder Arbeitslose von ihrer Bereitwilligkeit abhängig gemacht, Arbeitszeit und Lebenszeit an der erforderten „Produktivität“ auszurichten. Einst als privat erfahrene Aktivitäten werden nun auf ihre ökonomische Funktion hin bewertet. Der/die „Arbeits-UnternehmerIn“ muss zugleich KünstlerIn seines/ihres eigenen Lebens sein. Es ist genau diese Mystifizierung der Ausnahme, welche die Arbeit des Künstlers/der Künstlerin als selbstbestimmt, kreativ und spontan wahrnimmt, auf denen die Parolen der gegenwärtigen Diskurse über die Arbeit basieren. Dies lässt sich gut an der Rhetorik der Hartz-Kommission in Deutschland zeigen, in der die Arbeitslosen als sich selbst motivierende Freelancer und KünstlerInnen auftauchen und JournalistInnen und andere selbstständig oder ohne feste Verträge Beschäftigte als „die Professionellen der Nation“ (Hartz-Kommission) bezeichnet werden.
Das klassische Ausnahmesubjekt – inklusive seiner/ihrer prekären Beschäftigungssituation – ist im gegenwärtigen ökonomischen Diskurs in die Rolle einer/s ökonomischen AkteurIn verwandelt worden. In den Managerdiskursen, den Assessments, Trainings, Consultings und ihrer Literatur wird kreatives Handeln und Denken nicht länger bloß von KünstlerInnen, KuratorInnen und DesignerInnen erwartet. Die neuen flexiblen und zeitlich begrenzt Angestellten sind die KundInnen des wachsenden Kreativitätswerbemarktes, ausgerüstet mit den einschlägigen Beratungsbroschüren, den Seminaren, der Software etc. Diese Bildungsprogramme, Lerntechniken und Werkzeugbeschaffungsmethoden entwerfen zugleich neue potenzielle Formen des Seins. Ihr Ziel besteht darin, das erwünschte Selbst zu „optimieren“. Kreativitätstraining „fördert und fordert“ ein Freisetzen kreativen Potenzials, ohne dabei existierende soziale Bedingungen zu berücksichtigen, die dafür ein Hindernis darstellen könnten. Einerseits erscheint Kreativität in diesem Zusammenhang als die demokratische Variante des Genies: Die Befähigung ist jedem und jeder gegeben. Andererseits ist jeder und jede genötigt, sein/ihr kreatives Potenzial zu entwickeln. Der Ruf nach Selbstbestimmung und Partizipation markiert so nicht länger nur eine emanzipatorische Utopie, sondern auch eine soziale Verpflichtung. Die Subjekte kommen diesen neuen Machtbeziehungen offensichtlich aus freiem Willen nach. In den Worten von Nicolas Rose sind sie „verpflichtet, frei zu sein“, dazu gedrängt, mündig, autonom und für sich selbst verantwortlich zu sein. Ihr Verhalten soll nicht durch eine disziplinäre Macht reguliert sein, sondern durch „gouvernementale“ Techniken, die auf der neoliberalen Idee des sich selbst regulierenden Marktes basieren. Diese Techniken zielen eher darauf ab, zu mobilisieren und zu stimulieren als zu disziplinieren und zu bestrafen. Das neue Arbeitssubjekt soll ebenso kontingent und flexibel wie der Markt selbst sein.
Die Anforderung oder der Imperativ, kreativ zu sein und sich selbst in die Marktbeziehungen einzupassen, steht in enger Beziehung zu einem sehr traditionellen Verständnis künstlerischer Produktion, dass nämlich das einzig mögliche Einkommen des Künstlers/der Künstlerin daraus resultiert, dass er/sie Produkte auf dem Kunstmarkt verkauft (ein Mythos, der sich heutzutage wieder vehement zu bestätigen scheint). Aber es gibt in dieser Hinsicht einen wichtigen Unterschied zum Feld des Manager-Diskurses. Und zwar wird das Versagen auf dem Markt anders gewertet als im künstlerischen Feld. Der/die am Markt erfolglose KünstlerIn kann immer noch andere Subjektpositionen geltend machen und das Versagen förmlich verwandeln. Die Figur des nicht anerkannten Künstlers oder der unentdeckten Künstlerin kann insofern noch in jedem Moment des ausbleibenden Erfolgs mobilisiert werden, als dass das Versagen mit Motiven wie „die Zeit ist noch nicht reif“, aber „Qualität wird sich letztlich durchsetzen“ oder „Anerkennung kann eben spät kommen“ (spätestens nach dem Tod) legitimiert wird. Und dieser Mythos vom unerkannten, erfolglosen, aber talentierten und missverstandenen Künstler (oder einer ebensolchen Künstlerin) ist nicht gerade leicht in den Manager-Diskurs zu integrieren. Und auf das Unternehmen, das erst einige Jahre nach seinem Tod/Bankrott zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung wird, werden wir wohl noch einige Zeit warten müssen. Oder auch darauf, dass einer/m hoch engagierten, motivierten, flexiblen und mobilen, aber erfolglosen Arbeitslosen oder einer/m Arbeitslosen, der/die auf dem Arbeitsmarkt zeit seines/ihres Lebens chancenlos geblieben ist, posthum eine Retrospektive im MOMA samt Katalog und schließlich ein Platz in der Hall of Fame gewidmet wird – nach seinem oder ihrem Tod.
Dennoch ist die Subjektivität der Nicht-Anerkennung in die Selbstbeschreibung der immateriellen ArbeiterInnen integriert. Der/die KünstlerIn als Modell der Selbstbeschreibung der neuen flexiblen Arbeitskraft war in verschiedenen, kürzlich erschienen Studien in Deutschland zu finden, insbesondere in der Medien- und IT-Geschäftswelt. So hat beispielsweise eine Studie von T-Mobile Deutschland gezeigt, dass die Einschränkungen durch begrenzte Zeit oder die Demütigung eines schlecht bezahlten Jobs von vielen Angestellten nur als Übergang interpretiert werden, als Kurzzeiterfahrung, die bald überwunden sein wird und letztlich in den eigentlich erwünschten Job mündet – mag der Weg dorthin auch hart sein, das Ziel ist klar formuliert. Hier bilden sich kontingente Subjektivitäten, welche die Fehlfunktionen des freien Marktes als positive individuelle Erfahrungen verkörpern, und es finden Privatisierungen und strukturelle Veränderungen der sozialen, politischen und ökonomischen Felder statt, die als persönliche Herausforderung behandelt werden.
Die Mythologie des künstlerischen Produktionsprozesses entwirft darüber hinaus heute die Vorstellung eines metropolitanen Lebensstils, bei dem Leben und Arbeiten am selben Ort stattfinden – im Café oder auf der Straße – und mit der ebenfalls illusorischen Möglichkeit verbunden sind, zudem das Vergnügen der Muße genießen zu können. Der Gedanke von Flexibilität und Mobilität geht historisch tatsächlich genau auf diese Tradition der AussteigerInnen zurück und – wie Elisabeth Wilson in ihrem Buch Bohemians. The Glamourous Outcasts gezeigt hat – auf jene Generation von KünstlerInnen, die versucht hatten, dem modernistischen Diktum von Disziplin und Rationalismus zu entkommen. Der soziale Status und das kulturelle Kapital, die am Bild des Künstlers/der Künstlerin hängen, verweisen aber auch auf eine höhere, gewissermaßen ethische Form der Arbeit, die den Zwang der Disziplinarregime verwerfen kann und für etwas „Besseres“ bestimmt ist. Das Atelier wurde zum Synonym für die Verbindung von Arbeits- und Lebenszeit und für Innovation und Vielfalt von Ideen. Auf diesem Wege konnte sich die neoliberale Ideologie hinsichtlich ihrer ästhetischen Dimension, die gegenwärtig die Büro- und Wohnungsgestaltung beherrscht und aus ihnen „Lebensräume“ macht, vollkommen realisieren. Subjekte werden in neue Umgebungen platziert und die damit zusammenhängenden Gelegenheiten für Lebensstile wuchern nur so vor sich hin. Auf diese Weise wird auch geteilte ästhetische Erfahrung zu einem Instrument der Initiation. Der ursprünglich dem Künstler/der Künstlerin zugeschriebene Arbeits- und Lebensstil verspricht in ganz Europa eine „neue urbane Lebenserfahrung“. Heutzutage denkt man bei einem Loft nicht nur an ein KünstlerInnen-Atelier in einer ehemaligen Fabrikhalle oder einem Dachgeschoss, sondern Loft beschreibt einen bestimmten Wohnungstypus, einen offenen Grundriss, der vom Atelier abgeleitet wurde. Im europäischen Wettbewerb um lokale (Standort-)Vorteile auf dem globalen Markt ist das kulturalisierte Vokabular aus der Umstrukturierung der Arbeitsmärkte und der Verschönerung der Stadtteile in den 1990er Jahren nicht wegzudenken. Medienmetropolen – als spezialisierte Form der Global Cities –, in denen vor allem die „jungen Kreativen“ mobilisiert werden sollen, sind zudem im weltweiten Vergleich vor allem in EU-Europa angesiedelt. Hier wird aber auch eine neue geographische Hierarchie deutlich: Die Kulturalisierung der Ökonomie basiert auf eurozentrischen Diskursen, die Privilegien sichern helfen sollen. Gleichzeitig wurden die Budgetkürzungen in den sozialen und kulturellen Feldern mit dem Paradigma der „Selbstverantwortung“ und der „Selbst-Organisation“ der KulturproduzentInnen als UnternehmerInnen legitimiert. Dies ist das Kernkonzept der Creative-Industries-Ideologie im Rahmen der Vorstellung von Ökonomie, die auf „Talent“ und Eigeninitiative gründet.
Widerstandsfiguren
Die oben erwähnten Diskurse sind nicht marginal. Sie haben Konsequenzen für die gesamte Gesellschaft. Denn sie verschleiern zugleich die realen Produktionsbedingungen in den übrig gebliebenen Teilen der industriellen Produktion sowie die anderer prekärer Arbeitsverhältnisse im Dienstleistungssektor wie auch im Feld von Kunstproduktion und im Design. Die Realität der unter dem Konstrukt der „Kreativen” (selbstständig arbeitende KünstlerInnen, Medienschaffende, Multimedia-, Sound- und Graphik-DesignerInnen) zusammengefassten Produktionsverhältnisse werden in diesen optimistischen Diskursen allerdings komplett ausgeblendet bzw. idealisiert. Gerade aber diese Mythisierungen des mit einer spezifischen Arbeitsrationalität verkoppelten Images des Ausnahmesubjekts „artist” oder der mit „ihm“ assoziierten Methoden der Selbstverantwortung, Kreativität und Spontaneität transformieren zum Stichwortgeber für den heutigen Arbeitsdiskurs, wie man es an der Rhetorik der Hartz-Kommission in Deutschland ablesen kann, in der Erwerbslose zu motivierten „Freelancern” mutieren sollen.
Während aber Unterbezahlung und eine unstete Auftragslage in der Graphik-, Kleinlabel-, Mode- und Kunstszene weiterhin als „normal” gelten können, dient die Vorstellung von prosperierenden „Creative Industries” dazu, wie der Soziologe Andreas Boes schreibt, die Arbeitsverhältnisse und Arbeitsbeziehungen der IT- und Medienindustrien durch Anleihen bei der Boheme aufzuwerten. Trotz ihres ökonomischen Zusammenbruchs üben IT-Branche und Medienindustrie, die sich permanent auf das Image des Künstlers beziehen, einen ähnlich zentralen Einfluss auf die Modelle der Arbeit aus, wie einst die tayloristische und fordistische Autoindustrie es taten. Wie sich im Nacheifern bohemistischer Lebensstile durch die IT-Industrie herausstellt, bleibt bei der Übernahme der „Sprache des Kulturellen“ im Diskurs über die Arbeit allerdings einiges zu lernen: über die alltägliche Zirkulation der Diskurse, die Effekte, die sie auf die Subjektformationen zeitigen und über die Beziehung zwischen Anpassung, Scheitern und Widerstand. Denn bis heute ist die Erosion des alten Paradigmas der Produktion ebenso wie die neuen Arbeitsbedingungen und ihre Bezugnahmen auf die „künstlerischen Praktiken“ fast ausschließlich aus der Logik der „industriellen Arbeit“ heraus oder im Hinblick auf stabile Arbeitsbiografien analysiert worden, die sich wiederum nur auf weiße Männer, die so genannten Ernährer oder Brotverdiener, innerhalb der westlichen Gesellschaften bezogen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen hat es bislang kaum Bestrebungen gegeben, die oben genannten Phänomene in Begriffen ihrer kulturellen Grundprinzipien und Effekte zu untersuchen. Die tatsächlichen Produktionsverhältnisse, die in das Konstrukt der „kreativen Produktion“ verstrickt sind und es ausmachen, werden im oben beschriebenen, optimistischen Diskurs letztlich ausgeblendet und/oder idealisiert. Auch den AkteurInnen, ihren Motiven und ihren Wünschen wurde kaum Aufmerksamkeit gewidmet.
Mit diesen Überlegungen im Hinterkopf haben ich und befreundete Kolleginnen seit 2001 eine Serie von Studien und Projekten begonnen, in denen Interviews mit KulturproduzentInnen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen eine entscheidende Rolle gespielt haben – vgl. dazu etwa die Arbeit von kpD/kleines postfordistisches Drama (Kuster/Lorey/Reichard/von Osten) und die Initiativen, die wir 2004 als kpD im Rahmen des Projektes „Atelier Europa“ in den Münchner Kunstverein eingeladen haben, oder den derzeit aktiven Preclab Forschungsverbund Hamburg u.a. Eine erste Untersuchung, auf die ich mich im Folgenden beziehen werde, konnte ich in Zürich am Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst durchführen, und zwar im Rahmen des Forschungs- und Ausstellungsprojektes „Be Creative! Der kreative Imperativ“, das im Jahr 2002 realisiert wurde. Dort begann ich, Gespräche zur kulturellen Arbeit im selbstorganisierten Design- und Multimedia-Sektor zu führen, die in ein Filmprojekt mündeten, das für die Ausstellung produziert wude. Die Untersuchung folgte bereits durch ihre kulturelle und qualitative Methode weniger dem politischen Diskurs über die Transformation der Lohnarbeit, als dass sie den Versuch unternahm, es genau anders herum anzugehen. Für die Entwicklung einer Theorie des Sozialen, die sich klar vom Gedanken der akkumulativen Produktivität der materialistischen Tradition abhebt, schien mir diese Herangehensweise notwendig: Statt zu belegen, wie das gesamte Leben ökonomisiert wird, versuchte ich gemeinsam mit den „Untersuchten“ herauszufinden, was kulturelle Akteure und Akteurinnen an einem spezifischen Ort (aus)probieren, welche Taktiken oder Strategien sie entwickeln, um sich diesem dominanten Diskurs zu widersetzen.
Ich begann im Frühjahr 2002 mit Gesprächen über gegenwärtige Produktionsbeziehungen in „Atelier-/Büro-Blocks“, in denen eine hybride kulturelle Produktion zwischen Kunst, Grafik, Journalismus, Fotografie, Multimedia und Musikproduktion die Norm ist. Das Gebäude, das im Fokus der Untersuchung stand, gehörte dem Swisscom-Unternehmen, bevor es Ende der 1990er Jahre an verschiedene Gruppen von KulturproduzentInnen verpachtet wurde. Das Stockwerk wurde Ende der 1990er Jahre kollektiv von einer Gruppe von KünstlerInnen, JournalistInnen und Electronic-MusikerInnen betrieben, die sich den Namen k3000 gegeben hatten. Das war eine Aneignung des Namens einer großen Schweizer Supermarktkette, die nicht mehr existiert, aber für ihre günstigen Produkte bekannt war. Das k3000-Kollektiv vermietete die Etage an verschiedene andere ProduzentInnen weiter, darunter Multimedia- und Grafik-DesignerInnen, SozialwissenschaftlerInnen wie auch Sound- und Video-KünstlerInnen. Einer der Büroräume wurde „Labor k3000“ genannt, darin wurde Multimedia-Equipment zur Verfügung gestellt und das Wissen der Praxis kollektiv geteilt. Labor k3000 war als Gruppe (der ich angehöre) seit 1997 in Sachen kritischer Kunstpraxis und kultureller Produktion aktiv.
Im Jahr 1998, als die Anmietung der Räume des ehemaligen Swisscom-Bürokomplexes begonnen hatte, war die Trennung zwischen bildenden KünstlerInnen, Multimedia- und Grafik-DesignerInnen noch deutlich, selbst wenn viele gemeinsame Partys gefeiert wurden, unterschieden sich beide Gruppen in ihrer politischen Positionierung und dem Verhältnis zu Theorie. Gemeinsam war allerdings der Bezug zu elektronischer Musik, Moden und Styles, also zur Partykultur der 1990er Jahre. Erst in den letzten fünf Jahren wurde es immer üblicher, dass kritische KünstlerInnen gemeinsam mit AktivistInnen und TheoretikerInnen Multimediaprojekte durchführen, Mailinglisten organisieren oder Zeitungen, Videos, Ausstellungsprojekte, Aktionen und Veranstaltungen machen. Im konkreten Fall wurde dies erst durch die räumliche und soziale Struktur des Bürogebäudes ermöglicht, in der FreundInnen und KollegInnen aus den jeweils anderen Produktionsfeldern in die Projekte miteinbezogen waren und ihre Ideen und jeweiligen Fertigkeiten einbringen konnten (vgl. z.B. Projekte wie MoneyNations, Transit Migration, MigMap etc.) Diese Zusammenarbeit basiert auf einer konzeptuellen und praktischen Kooperation zwischen den unterschiedlichen AkteurInnen, die ihr Ziel gerade konträr zu den Ansprüchen der Creative Industries formulierten, denn im Gegensatz zur Anforderung von Kreativität und Intelligenz, lebenslangem Lernen usw. wurden genau diese Ansprüche in „Be Creative! Der kreative Imperativ“ mit Leuten aus der Etage kritisch und praktisch bearbeitet, einem Projekt, das 2002 im Herbst im Museum für Gestaltung Zürich stattfand und eine große Öffentlichkeit erreichte.
Auch auf Grund dieser Erfahrungen kam ich im Zuge meiner Forschungen dazu, einige meiner früheren Thesen über die Veränderungen in den Produktionsbedingungen zu revidieren, in denen ich die Position vertreten hatte, dass die Felder von Multimedia- und Grafik-Design perfekt in die Kulturalisierung der Ökonomie passen würden, mehr noch als die kritische Kunstpraxis. Ich musste mich insofern selbst korrigieren, als die Leute, die in den Produktionsfeldern von Grafik-Design oder Multimedia arbeiteten, bereits die unterschiedlichsten Arbeitsbiografien als Freelancer und selbstständig Beschäftigte aufwiesen, die sehr verschiedene Ergebnisse gezeitigt hatten, sehr unterschiedliche Ausgangspunkte und Ausgänge also. Und diese Transformationen konnten nicht allein auf die ökonomische Situation zurückgeführt werden, die sich durch den Crash der New Economy ergeben hatte.
Zuallererst erstaunte mich, dass die Konzepte und Vorstellungen von Büro und Atelier als Orten der Produktion sich bereits dermaßen vermischt hatten, dass es nach 20 Jahren Personal-Computer-Kultur in der Design- und Kunstszene Zürichs vor allem das Atelier war, das, im Gegensatz zum Büro, als Modell für die selbstständige Produktion überlebt hatte. Gerade Multimedia-ProduzentInnen und Grafik-DesignerInnen tendierten immer mehr zum Atelierbegriff, der auch habituell gepflegt wurde oder sich in der Einrichtung der Räume widerspiegelte. Dahingegen benutzten die bildenden KünstlerInnen Begriffe wie „Laboratorium“ oder „Büro“, um einen mehr kollektiven und multimedial orientierten Produktionsmodus zu beschreiben. Auch wenn beide Gruppen innerhalb eines Gebäudes zusammenarbeiteten, waren diese Benennungen sowohl für die Gruppe der kritischen KünstlerInnen als auch für die der DesignerInnen jeweils strategische Entscheidungen.
Die Akteure und Akteurinnen, mit denen ich gesprochen habe, waren allerdings fast ausschließlich (die KünstlerInnen eingeschlossen) von Mitte bis Ende der 1990er Jahre im Bereich der Multimedia-Anwendungen für multinationale Konzerne tätig oder jobbten in der Werbe-Branche. Es war sehr erstaunlich, zu erfahren, dass im Jahr 2002, also nur ein paar Jahre später, diese Erfahrung im „Business“ zu der allgemeinen Übereinstimmung auf der Etage führte, dass man es überhaupt vermeiden sollte, in diesem kapitalisierten Feld der Bildproduktion zu arbeiten. Eine weitere Veränderung bestand darin, dass KundInnen, wer auch immer sie sein mochten, nicht mehr in das Gebäude eingeladen wurden, um hier Verträge abzuschließen oder Ähnliches. Wenn man etwas zu verhandeln hatte, tat man dies im Café. Die Etage positionierte sich nun diametral in Opposition zu den noch Mitte der 1990er Jahre üblichen Verhaltensweisen, nun wollten alle ganz grundsätzlich etwas Anderes sein als ein Bürohaus, etwas Anderes als eine reine Produktionsstätte für den Markt und seine Verwertungsinteressen.
Darüber hinaus ergab sich zu meiner Überraschung aus den Gesprächen, dass innerhalb der Grafik-Design- und Multimedia-Szene, im Gegensatz zu deren kooperativen Images, temporäre, kollektive Netzwerke keinesfalls mehr üblich waren. Die Produktion auf der Etage funktionierte überhaupt nicht wie die einer „Fabrik“, ganz im Gegensatz zu dem, was beispielsweise Maurizio Lazzarato in seinem kanonischen Text zur „Immateriellen Arbeit“ behauptet. In Lazzaratos Essay werden die Verbindungen zwischen den neuen Produktionsbedingungen im Postfordismus und der künstlerisch-kulturellen Arbeit klar herausgestrichen. Lazzarato unterstellt, dass die Merkmale der sogenannten postindustriellen Ökonomie, sowohl was ihre Produktionsweise, als auch was die Lebensverhältnisse in der Gesellschaft insgesamt betrifft, in den klassischen Formen „immaterieller Arbeit“ zum Ausdruck kommen. Selbst wenn sie in voll realisierter Form in den Bereichen der audiovisuellen Industrien, der Werbung und des Marketings, der Mode, Computer-Software, Fotografie und der künstlerisch-kulturellen Arbeit im Allgemeinen auftreten und als Agenten und Repräsentanten der „klassischen Formen immaterieller Arbeit“ erscheinen, möchte ich vorschlagen, auf ihre impliziten Widerstandspotenziale abzuheben, und die alltäglichen Taktiken gegen Prozesse der Ökonomisierung unterstreichen.
In den Gesprächen stellten sich für mich die Einzelnen auf der Etage eher als geschlossene Gruppe von Atelier-Monaden dar, die bewusst die Zusammenarbeit mit der Werbe-Branche und den Marketingabteilungen vermieden bzw. ihr widerstanden oder nur dann mit ihnen kooperierten, wenn sie Geld brauchten. Musste die Miete bezahlt werden oder stand ein Urlaub an, dann wurde eben auch mal „so ein Job“ gemacht. Die Gruppe hatte aber gar keine politische Strategie, sie diskutierte nicht über ihre Arbeitsverhältnisse im Allgemeinen und auch nicht darüber, eine Gewerkschaft zu gründen oder die Gesellschaft intentional zu verändern. Aber sie hat Wege er- und gefunden, ihr Leben in dieser selbst organisierten und zum Teil freischaffend tätigen Form einzurichten. Die selbstständig beschäftigten DesignerInnen funktionierten eben gerade nicht in einer Form neuer Industrie, sondern eher im Sinne einer „alternativen Ökonomie“, die allerdings extrem abhängig ist von alternativen kulturellen Räumen, kritischen Magazinen, Kunstprojekten und Lehraufträgen, mit denen sie ihr kleines, aber annehmbares Einkommen erwirtschaften. Die alternativen Räume sind zudem fast ausschließlich jene, die Anfang der 1980er Jahre in den Jugendunruhen durch die Kämpfe um alternative Kulturräume in der Schweiz erschlossen wurden. Selbst wenn die Leute, mit denen ich gesprochen habe, sich politisch an diesen Kämpfen nicht beteiligt haben, waren diese Orte ein Bezugspunkt für eine andere Lebensweise auch noch zwanzig Jahre nach den Straßenkämpfen und Besetzungen.
In den Gesprächen betonten zudem fast alle, dass sie 9-to-5-Jobs nicht nur deshalb ablehnen würden, weil ihnen das Zeitregime zu paternalistisch erschiene. Ihre Ablehnung „geregelter Arbeitsverhältnisse“ gründete vor allem darauf, dass sie die Unternehmenskultur und ihre sozialen Dynamiken weder ertragen noch stützen wollten und zudem die Vorstellung ablehnten, sich einer hierarchischen Arbeitsbeziehung unterwerfen zu müssen. Wie ich in den Gesprächen herausfand, bieten Multimedia- und Designjobs auch soziale Aufstiegsmöglichkeiten für junge Männer nicht nur aus Mittelstandsfamilien. Im Gegensatz dazu scheinen solche Jobs aber keine nennenswerten Transformationen innerhalb der Gender-Dynamiken in Gang zu setzen, auch wenn das in den Diskussionen über Arbeitsmarktpolitik immer wieder angeführt wird. Das mag einerseits auf das traditionell unterschiedliche Verhältnis von Frauen und Männern zur Technik zurückzuführen sein, hat aber andererseits sicherlich auch mit den anachronistischen Vorstellungen vom Künstler als einem „einsamen männlichen Genie“ zu tun. Denn auch das Selbstbild von Grafik-DesignerInnen gleicht sich auf der Ebene der Produktion immer mehr dem der KünstlerInnen (als einzelnen AutorInnen) an. Diese Annäherung des Selbstverständnisses ermöglicht es ihnen dann, das Bild der DesignerInnen als erfolgsorientierter HandwerkerInnen, die nur den Forderungen der AuftraggeberInnen gehorchen, zurückzuweisen. Dies lässt sich ebenfalls in der Kunstszene beobachten, in der es eine Menge AkteurInnen gibt, die das Bild des Künstlers nicht aus Gründen ökonomischen Nutzens übernehmen, sondern als Möglichkeit sozialer Mobilität, die nicht allein an Geld gebunden ist, sondern einen anderen sozialen Status beschreibt. Innerhalb der Grafik-Szene zielt die Verschiebung des Selbstbildes zur/zum KünstlerIn insgesamt eher auf das Gegenteil von ökonomischem Erfolg und vielmehr auf die Tradition des scheiternden und missverstandenen künstlerischen Subjektes und seiner subkulturellen Varianten mit relativ geringer Bezugnahme auf die Verwertbarkeit dieses Modells durch das Kapital.
Die zitierten Beweggründe für einen bohemistischen Lebensstil werden nicht bloß in den Diskursen über die Arbeitsmarktpolitiken und über ökonomische Erfolgsmodelle aufgeführt und verhandelt, sondern sie tauchen auch im Feld der angewandten Künste auf. Darin werden sie benutzt, um sich vom gewöhnlichen Geschäft und Unternehmertum abzugrenzen. Bei diesen „jungen Kreativen“ sind prekäre Arbeitsverhältnisse nicht bloß Ausdruck ökonomischer Verhältnisse, sondern sie basieren auch auf der Wahl eines Lebensstils. Mit anderen Worten, unabhängige Arbeit als Freelancer wird viel eher mit einem angenehmen Leben in Verbindung gebracht und entspricht dem Wunsch nach einem nicht durch andere vorstrukturierten Leben viel mehr als ein permanentes Beschäftigungsverhältnis: Ein Leben, das nicht nur prekär ist und niemals zu großem Reichtum führen wird, sondern in dem der soziale Status nicht dadurch erreicht wird, dass man international berühmt wird, sondern schlicht ein bequemes Leben führt. Dies ist ein großes Privileg, das die meisten Menschen im globalen Maßstab nicht teilen – und das auch viele von uns gestressten TheoretikerInnen nicht kennen.
Diese kulturelle Nischenökonomie existiert nur durch eine noch existierende alternative Kultur-Szene und alternative Institutionen-Netzwerke, die durch die Riots in Zürich oder in anderen Städten etabliert werden konnten. Sie existiert, weil es in Zürich noch Arbeitslosengeld für junge Leute nach dem Ende ihrer Ausbildung gibt, und natürlich, weil ein Netzwerk von KulturproduzentInnen vorhanden ist, das mit dieser alternativen Welt und ihren Bars, Cafés und Clubs, ihren politischen Initiativen, Zeitarbeitsjobs und selbstinitiierten Projekten in Beziehung steht und immer wieder Mittel und Wege findet, irgendwo Geld zu verdienen und wiederum andere Leute in die eigenen Etagen oder Gebäude und in ihre kleinen, aber nicht abreißenden Geldflüsse einzubinden. An diesem Punkt wird die Nischenökonomie zum beschriebenen Schlüsselfaktor für Kulturpolitiken und lokale Standortfragen.
Schluss
Selbst wenn das Selbstverständnis und die Selbstorganisation des „künstlerischen Subjektes“ als historisches Zitat bestens mit den Phantasien von ArbeitsmarktentwicklerInnen und Creative-Industries-ApologetInnen zu korrespondieren scheint, bleibt der Erfolg dieser Verknüpfung doch sowohl in theoretischer als auch in epistemologischer Hinsicht fragwürdig. Künstlerische Lebens- und Arbeitsformen beinhalten Stärken, die nicht komplett kontrollierbar sind, weil sie ihre eigenen Bedingungen nicht nur mit erzeugen, sondern stets auch an deren Auflösung beteiligt sind. Darüber hinaus werden die Mythen künstlerischer Lebensweisen keineswegs ausschließlich von den ManagerInnen der Humanressourcen verwendet. Diese Mythen können ebenfalls von sozialen Gruppen be- und genutzt werden, die ansonsten innerhalb existierender Machtstrukturen dem Verschweigen und Verstummen ausgesetzt wären. Die historische Anrufung künstlerischer Subjekte und ästhetischer Lebensweisen kann nicht vollständig in den Erfordernissen des ökonomischen Diskurses nach messbaren Daten aufgehen, denn die Produktion eines Gleichklangs von ökonomischen und anderen spezifischen Lebensformen ist eine Reduktion ihrer inhärenten Vielschichtigkeiten und Antagonismen. In ihrer Funktion als Ideologie jedoch gelingt es ihr, diese Unzulänglichkeiten zu verschleiern.
Übersetzung der zuerst auf Englisch veröffentlichten Version des
Textes: Jens Kastner
Literatur
BLUTNER, Doris / Brose, Hanns-Georg / Holtgrewe, Ursula (2002): Telekom – wie machen die das? Die Transformation der Beschäftigungsverhältnisse bei der Deutschen TeleKom AG. Konstanz.
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