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09 2007

Das Prinzip der Verschwiegenheit und die Schwierigkeit von Institutionskritik im Kosovo

Sezgin Boynik

Übersetzt von Tom Waibel

1.

Um die aktuelle und innovative zeitgenössische Kunst im Kosovo zu analysieren, müssen wir an den Anfang der Neunziger zurückgehen, wo sich die kulturellen Wurzeln der gegenwärtigen Situation finden. Zu dieser Zeit und auch schon vorher waren, im Widerspruch zu den typischen Theorien der Avantgarde, diese kulturellen Wurzeln nicht verbunden mit der Kunst als autonomer Sphäre. Im Kosovo ist die zeitgenössische Kunst immer ein ad hoc-Engagement mit politischen und sozialen Umständen gewesen. Betrachtet man sie nur aus dieser Perspektive, dann kann die zeitgenössische Kunst des Kosovo als hochpolitisch verstanden werden. Aber ich will hier zeigen, dass dieses ad hoc- (oder unmittelbare) Engagement das Potenzial besitzt, als radikale Institutionskritik missverstanden und missinterpretiert zu werden.

Zu Beginn der Neunziger, als die Kosovo-AlbanerInnen mit einer weit gehenden sozialen Repression konfrontiert waren und aus der offiziellen Repräsentation vollständig ausgeschlossen wurden, gab es nur sehr wenige in Pristina oder auch in anderen Städten im Kosovo organisierte Events zeitgenössischer Kunst. Diese Ausstellungen, meist die üblichen modernistischen metaphorischen Repräsentationen, waren in dem Sinn wichtig, dass sie «albanische Kultur» im Bereich der ästhetischen Repräsentation darstellen konnten; die bloße Existenz dieser Ausstellungen genügte zum Beweis, dass eine Spur von «albanischer Kultur» im Kosovo vorhanden ist. Selbstverständlich fanden diese Ausstellungen im Untergrund statt.

 
2.

Wie allgemein bekannt verlor der Kosovo, der eine selbständige und autonome Region der Republik Serbien war und in Jugoslawien seit der Verfassung von 1974 weitgehende politische Rechte genoss, diese erworbenen Rechte zu Beginn der Neunziger. Die neue Verfassung, die von der nationalistischen serbischen Politik bestimmt worden war, schloss alle diese Rechte albanischer Selbstrepräsentation aus. Die Verfassungsänderung am Beginn der Neunziger fand in allen jugoslawischen Republiken Anwendung. Das bedeutete die Suspendierung des jugoslawischen Föderalismus- und Selbstverwaltungssystems und einen Wechsel vom Einparteien- zum politischen Mehrparteiensystem. In allen jugoslawischen Republiken wurde dieser Wechsel mit der Euphorie eines Demokratisierungsdiskurses begrüßt. Im Kosovo aber wurde diese Transformation als eine Serie von klandestinen Veränderungen erlebt, in verkörperter Weise durch die Minenarbeiter, die als Protest gegen ihre Arbeitsbedingungen zum 9. Niveau der Kohlenmine abstiegen, bis hin zur Verhaftung des Politikers Azem Vlasi, der einst die rechte Hand des späten Tito gewesen war, und schließlich als Rückzug aller AlbanerInnen hin zu Institutionen im Untergrund, wie etwa Parlament, Schulen und Galerien.

Der Gang in den Untergrund bedeutete in diesem Fall nicht, buchstäblich illegal zu werden, er könnte vielmehr als eine Art von Funktionieren angesehen werden, das parallel zum Zentrum der Hegemonie ohne irgendwelche Verbindung damit stattfindet. Oder wie die AlbanerInnen zu sagen beliebten: 'die Konstruktion von Parallelinstitutionen'. In der Praxis bedeutete das, dass albanische StudentInnen im Kosovo anfingen, sich selbst nicht mehr in staatlich geführten Schulen, sondern in Privathäusern, Kellern oder Warenlagern auszubilden. Wenn wir diese gegen-hegemoniale Taktik mit historischen gegen-kulturellen Experimenten vergleichen, ist es überraschend zu sehen, wie viele Ähnlichkeiten diese Widerstandsform mit vielen radikalen, avantgarde-künstlerischen und politischen Manifestationen aufweist. Beispielsweise sind die Parallelinstitutionen sowohl dem sehr ähnlich, das NSK geplant hatte, um das sozialistische föderale Jugoslawien zu unterlaufen, als auch der entfernt gegen-kulturellen Kritik der Gesellschaft des Spektakels durch die Situationistische Internationale. In diesen Avantgarde-Bewegungen waren die Parallelinstitutionen ein taktischer Zugang, aber im Fall des Kosovo (und der Situationisten) war es ein Problem und eine Angelegenheit von Strategie. Der Unterschied zwischen Taktik und Strategie besteht darin, dass Taktik als etwas verstanden wird, das zu einem unmittelbaren Ergebnis führt, während Strategie eine Art von Praxis ist. Die Strategie der Parallelinstitutionen im Kosovo war eine Langzeittaktik mit dem Ziel, die unterdrückerische Hegemonie durch die Schaffung einer alternativen Gegen-Hegemonie zu zerstören. Sie hatte keine Kompromisse oder Konflikte mit dem offiziellen Machtsystem. Auf diese Weise interpretiert kann die Theorie und Praxis der Parallelinstitutionen als eine ad hoc-Strategie zum Sturz der Unterdrückung angesehen werden. Wenn die Hegemonie gestürzt oder zerstört wird, dann wird die Strategie der Parallelinstitutionen dysfunktional und überflüssig. Das würde bedeuten, dass der Kosovo fähig wäre, den Schritt von einem Ausnahmestaat zu einem normalen Staat zu machen.

Aber seit 1999, als sich die politische Situation in dem Sinn normalisierte, dass die alltägliche Gewalt der serbischen Hegemonie nicht mehr präsent war, träumen die Pseudo-Institutionen, NGOs und die Galerien für zeitgenössische Kunst noch immer von einem normalen Zustand der Dinge. Normalisierte Institutionen in einem normalisierten Kosovo, das ist gegenwärtig der point du capitone der korrupten halb-offiziellen Projekte des Kultusministeriums und der Militanz für eine demokratische offene Gesellschaft der Zentren für zeitgenössische Kunst.

Um diese These auszuführen, müssen wir dahin zurückgehen, wo wir angefangen haben, zur Lage der zeitgenössischen Kunst am Beginn der Neunziger.

 
3.

Die Wurzeln der langweiligen Kunst der Neunziger lässt sich in der Ästhetik der dunklen und archaischen nationalen Metaphern der abstrakten, akademischen modernistischen Malerei finden. Diese Geschichte wurde am besten vom Philosoph Shkelzen Maliqi analysiert, dem es gelungen ist, zu zeigen, dass sich die Entwicklungen der Malerei im Kosovo von den Sechzigern bis in die Siebziger in (reflexiver) Übereinstimmung mit der aktuellen Politik verändert haben; im halb-abstrakten Stil haben alle MalerInnen dieselben Metaphern des albanischen nationalen Symbolismus wie Türme, Käfig und Torso verwendet. In den Sechzigern, als die serbische Unterdrückungspolitik im Kosovo höchst sichtbar war, wurden diese Metaphern äußerst verdeckt und mit finsterem und pessimistischem Gefühl gemalt, aber unmittelbar nach der Verfassung von 1974 nahmen sie eine farbenfrohere visuelle Sprache an, und auch der 'versteckte' nationale Symbolismus war viel offener eingearbeitet.

Üblicherweise wird sowohl moderne wie zeitgenössische Kunst vielfach mit nationalen Repräsentationen in Verbindung gebracht. Das war auch die Situation im Kosovo. Aber aufgrund der historischen Umstände verlor diese Repräsentation ihre Verknüpfung mit den offiziellen Repräsentationen, ging in den Untergrund und wurde klandestin. Dort ist die zeitgenössische Kunst (und Kultur) im Kosovo ihrer anfänglichen Anordnung von Problemen begegnet, der sie immer noch gegenübersteht.

Um die These dieses Artikels zu erläutern, sind einige historische Daten erforderlich: Sogar mit der Verfassung von 1974, die weit reichende Rechte unter der Republik Serbien garantierte, blieb der Kosovo immer ein Dritte-Welt-Land innerhalb Jugoslawiens. Die AlbanerInnen wurden immer als die Anderen angesehen (weil die AlbanerInnen, der auf Ethnizität beruhenden Theorie entsprechend, die einzige nicht-slawische ethnische Gruppierung in Jugoslawien waren), und sie waren ökonomisch und kulturell am meisten unterentwickelt. Sogar die KünstlerInnen, die in den Siebzigern, den 'goldenen Jahren' des Kosovo, tätig waren, hatten ein Gefühl von Verspätung. Der Eindruck, zu spät zu sein, wurde durch das sozialistisch-realistische Engagement der KünstlerInnen und ihrer ambivalenten 'nationalen' Beziehung zum 'entfernten' Nachbarn Albanien verschlimmert. Der Plan, ein Teil Jugoslawiens zu sein, wurde in den späten Achtzigern grausam unterbrochen; in diesem Jahrzehnt waren die Kosovo-AlbanerInnen dem Projekt Jugoslawien möglicherweise am nächsten. Kurz, der Modernisierungsprozess des Kosovo, der nach dem Zweiten Weltkrieg ernsthaft begann, wurde in den frühen Neunzigern enteignet.

 
4.

In den Neunzigern, als das Modernisierungsprojekt brutal gestoppt wurde, hat sich auch der Begriff der öffentlichen Sphäre radikal transformiert. Nach den Parallelinstitutionen war die öffentliche Sphäre nicht mehr dieselbe. Oder genauer, für manche Leute existierte der öffentliche Raum nicht. Konsequenterweise fuhren die Kosovo-AlbanerInnen fort, ihren öffentlichen Raum auf eine sehr 'verschwiegene' Weise zu verwenden. Diese Verschwiegenheit, die dazu beitrug, eine nationale Widerstandspolitik innerhalb der Gemeinschaft zu konstruieren, beeinflusste ebenso entscheidend die kulturelle Szene, und dieser Einfluss ist noch immer erkennbar. Das Prinzip der Verschwiegenheit war ein Teil der Taktik der Gegen-Hegemonie, die der politische Anführer der damaligen Opposition, Ibrahim Rugova, als passiven Widerstand beschrieb. Aber die Verschwiegenheit der Parallelinstitutionen war nicht vollständig, die serbische Polizei wusste von den Untergrundschulen und Untergrundparlamenten im Kosovo, und dennoch ließen sie sie geschehen. Das wäre ein sehr interessanter Fall für eine Studie, aber der wahrscheinlichste Grund, warum die serbische Polizei die Situation übersah, bestand darin, dass sie die Taktik der Parallelinstitutionen nicht ernst nahm und auch darauf hoffte, dass ein passiver Widerstand jegliche wirkliche (öffentliche) Opposition und wirklichen (bewaffneten) Kampf abschaffen würde. Bei dieser Interpretation besteht die Gefahr, in eine Falle zu tappen, in der die serbische Polizei so beschrieben wird, als wäre sie vollständig durchgeplant und auf intelligente Weise bösartig. Man kann sich sicher sein, dass die Taktik der Verschwiegenheit die albanische Kulturszene stärker beinflusst hat als unmittelbar ersichtlich ist; die albanischen Intellektuellen verhalten sich noch immer wie in Parallelinstitutionen. Diese halb-paralysierte Lage ist, wie ich im Fall der zeitgenössischen Kunst zeigen will, ein Kollateralschaden der Parallelinstititutionen, die weiterhin als eine Taktik (oder Lebensstil) praktiziert wurden, obwohl gar keine Notwendigkeit dafür bestand.

 
5.

Der Übergang der zeitgenössischen Kunst von den langweiligen und elenden Neunzigern ins euphorische 21. Jahrhundert ist das beste Beispiel für diesen Kollateralschaden. Nach 1999 hatten die Kosovo-AlbanerInnen keinen Grund mehr, verschwiegen zu sein. Der öffentliche Raum gehörte ihnen vollständig (außer der NATO, UNO und einigen ausländischen NGOs). Das Argument dieses Artikels besteht darin, dass die Taktik der Verschwiegenheit auch nach dem Zeitpunkt fortgeführt wurde, ab dem es keinerlei Notwendigkeit mehr dafür gab.

Außer Albert Heta gab es keine/n KünstlerIn im Kosovo, der/die sich mit dem Thema des öffentlichen Raums beschäftigte oder Arbeiten in öffentlichen Räumen verwirklichte. Hetas Intervention in Pristina, in der die Reklamefläche von British Airways, die mit «Es ist Besuchszeit» warb, mit einem Flugblatt beklebt wurde, das «Kein Visa erforderlich» dazusetzte, ist möglicherweise das beste Beispiel für eine Arbeit im öffentlichen Raum. Diese Arbeit greift das Visaregime und die aggressive Werbekampagne von British Airways, in deren Anzeigen die Kosovo-AlbanerInnen nicht einmal als mögliche KundInnen berücksichtigt werden, direkt an. Die Arbeit hinterfragt internationale (NATO, UNO und ausländische NGOs) ökonomische Politiken im Kosovo und spricht auch das Problem der Isolierung des Kosovo an. Um es in freundlicherer Weise auszudrücken, ist die Arbeit eines der seltenen Experimente, die die Verschwiegenheit und das Schweigen der Kosovo-AlbanerInnen durchbricht. Aber das Schweigen, das Hetas Arbeit bricht, ist kein Schweigen, das viele Leute im Kosovo betrifft, denn selbst wenn kein Visa erforderlich wäre, um nach London zu reisen, besteht die wirkliche Frage darin, wie viele KosovarInnen sich so einen Ausflug tatsächlich leisten können. Heta ist, wie viele andere KünstlerInnen im Kosovo, nicht an der dunklen Seite der ökonomischen Politiken des Kosovo interessiert. Ihre Anliegen beziehen sich mehr auf die internationale Anerkennung des Kosovo als unabhängigen, europäischen, liberalen und kapitalistischen Staates. In keinem Kunstwerk lässt sich ein Hinweis auf die 75 Prozent der KosovarInnen entdecken, die arbeitslos sind und unter der Armutsgrenze leben. Noch einmal, das wirkliche Problem wird durch die Verschwiegenheit zum Verstummen gebracht. Für zeitgenössische KünstlerInnen im Kosovo ist das Problem noch immer dasselbe wie für die MalerInnen in den Siebzigern und Achtzigern: Das Hauptthema ist die nationale und offizielle (staatliche) Repräsentation. Und es ist allgemein bekannt, dass es es für Armut und arme Leute keinen Platz in der offiziellen Repräsentation des Staates gibt.

 
6.

Es ist schwer, im Kosovo über Institutionskritik zu sprechen, denn alle offiziellen und halb-offiziellen Institutionen träumen von einer Normalisierung; das bedeutet eine vollständige Verwirklichung der Institutionen, die sich im Konsens über die Staatsgründung treffen. Die KünstlerInnen müssen auch Teil dieser Konstruktion sein. Das ist der Grund, weshalb es im Kosovo keine Institutionskritik gibt; das gewöhnliche Argument lautet, solange es keine 'wirklichen' Institutionen gibt, ist es nicht lediglich absurd, sondern auch völlig unmöglich über eine Kritik an ihnen zu sprechen. Kunstwerke müssen die Konstruktion von Institutionen unterstützen. Unter diesen Umständen ist es unmöglich, radikale politische Standpunkte, Erholung oder Rückzug vom Kunstmarkt zu diskutieren.

Daher ist es interessant festzustellen, dass im Kosovo viele junge, sich entwickelnde KünstlerInnen beschlossen haben, mit der Produktion von Kunstwerken aufzuhören. Beispielsweise haben KünstlerInnen der jungen Generation wie Jakup Ferri, Dren Maliqi und Lulezim Zeqiri, aber auch etablierte KünstlerInnen wie Sokol Beqiri und Erzen Shkolloli jetzt aufgehört, Kunst zu machen. Ihre Entscheidung fußt weder auf irgendeiner bewussten Ablehnung der Institutionen, noch kann sie als die Haltung eines radikalen Bruchs mit Institutionen angesehen werden. Der Grund für ihre Verweigerung ist der weit verbreitete Eindruck, dass das kulturelle Milieu des Kosovo lethargisch, elend, verwirrt, ziellos, langweilig, usw., ist. Es gibt niemals einen klar formulierten Grund für diese Entscheidung. Noch einmal, die Entscheidung wurde ad hoc getroffen, ohne jede öffentliche Diskussion und im Schatten und in der Tradition der Taktik der Verschwiegenheit der Parallelinstitutionen.

 
7.

Aufgrund des Fehlens von Institutionen hielten viele KunstkritikerInnen die Kunstszene des Kosovo, die sich nach 1999 entwickelte, für höchst innovativ und fruchtbar für das Entstehen eines sehr interessanten Kunstphänomens (von Edi Mukas 'neuen ProletarierInnen' bis zu Rene Blocks 'neuen Avantgarden'). Diese dekonstruktive Interpretation der zeitgenössischen Kunstszene bringt die komplexen Zusammenhänge von Institution, öffentlichem Raum, Verschwiegenheit, Nationalismus, Ökonomie und internationaler Hegemonie im Kosovo noch weiter durcheinander. Daher müssen alle, die versuchen, die Situation im Kosovo aus der Perspektive der Institutionskritik zu denken, die lokale Geschichte von Taktik, öffentlichem Raum, Nationalismus und Ökonomie in einer sehr analytischen und vorsichtigen Weise berücksichtigen. Sonst können äußerst konservative Impulse fälschlicherweise als innovativ und kritisch interpretiert werden.