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10 2007

Fotografie als Illegitime Kunst

Pierre Bourdieu und die Fotografie

Christoph Behnke

Bourdieu hat seine frühen ethnografischen Forschungen in Algerien und im Béarn aus der Retrospektive in eine reziproke Beziehung gebracht, die für seinen Umgang mit Fotografie von zentraler Bedeutung ist.[1] In Algerien studierte er den Exodus der traditionalen Gesellschaft, und sein Interesse und wohl auch intuitives Verständnis für diesen Prozess rührten nicht zuletzt daher, dass dieser Wandel ihm vertraute soziale Strukturen aus seiner Heimatregion, dem Béarn, betraf. Zusammen mit Abdelmalek Sayad, den er an der Universität in Algier kennengelernt hatte, verfolgte er nach seiner Rückkehr aus Algerien so etwas wie die Umkehrung des berühmten Projekts der Traurige[n] Tropen von Lévi-Strauss; eine inverse Ethnografie, um „die Effekte zu beobachten, die die Objektivierung der eigenen Welt bei mir produzieren würde“[2]. Er fand die „traurigen Bauern“ des Béarn, deren kulturelle Werte einem Prozess der Entwertung durch die urbane, modernisierte Fassung der sich zunehmend durch Konsum definierenden Klassennachbarn, der classes moyennes[3], ausgesetzt waren. Als eingeborener Anthropologe legte Bourdieu nun den Fotoapparat beiseite und studierte, mit welchen Folgen die neue, den „modernen Zeiten“ zugehörige Technik der Bildreproduktion in die traditionale Welt des Béarn eindrang, während er in Algerien die Fotografie einsetzte, um den dramatischen Wandel von einer präkapitalistischen Produktionsweise hin zu einer modernisierten, rationalisierten kapitalistischen Ökonomie zu dokumentieren. Wenn man so will, verlor Bourdieu damit die Möglichkeit eines naiven, ungebrochenen Umgangs mit der Fotografie, weil er durch eine Studie über den sozialen Gebrauch der Fotografie an der Schwelle zur Moderne in seiner eigenen Herkunftskultur vorgeführt bekam, dass die vermeintlich objektiven Abbilder der fotografierten Realität sich in Wirklichkeit den Imperativen des sozialen Lebens weitaus stärker unterzuordnen hatten, als ihre unmittelbare technische Beschaffenheit glauben macht. Deshalb ist ein früher Aufsatz von Bourdieu aus dem Jahr 1965, „The Peasant and Photography“[4] – der einzige Text übrigens, den er mit seiner Frau Marie-Claire veröffentlichte und der noch im gleichen Jahr zum Teil in Eine illegitime Kunst[5] übernommen wurde –, von großer Bedeutung, wenn man rekonstruieren möchte, welche Fragestellungen Bourdieu bei seiner Analyse der Fotografie geleitet haben.

Warum ist es für einen Bauern/eine Bäuerin unmöglich, einen Fotoapparat zu verwenden, während die classes moyennes in ihrer unmittelbaren kleinstädtischen Umgebung wie selbstverständlich den Apparat insbesondere zur Dokumentierung familiärer Rituale verwenden? Es ist nicht so, dass die Fotografie in der bäurischen Welt nicht vorkommt: Die großen, außeralltäglichen Feste müssen sogar fotografiert werden. Dafür muss allerdings ein professioneller/eine professionelle FotografIn engagiert werden, der/die Anweisungen zur Bildgestaltung gibt, um eine spezifische Gruppenrepräsentation zu ermöglichen. Es muss in jeder Hinsicht ein snapshot verhindert werden (z. B. wird nicht das gemeinsame Tanzen oder Essen fotografiert), es bedarf der vollständigen Kontrolle über die Gestaltung, sodass schließlich nicht Individuen mit ihren besonderen Eigenschaften erkennbar werden (was in der heutigen Amateurfotografie u. a. gesucht wird), sondern soziale Rollen. Es ist ganz offensichtlich – so die Bourdieus – dass die Erfindung der Fotografie in diesem sozialen Kontext genutzt wird, um eine spezifische Rolle in der Familieneinheit zu spielen; Familienzeremonien werden aufgezeichnet, um die Gruppensolidarität zu festigen. Dies ist ein klassisches Thema von Emile Durkheim: „Geht man mit Durkheim davon aus, dass die Funktion von Festen darin besteht, die Gruppe zu neuem Leben zu erwecken, sie neu zu erschaffen, so versteht man, warum die Fotografie hier die Rolle spielt, die sie spielt: Sie ist ein Mittel, die großen Augenblicke des gesellschaftlichen Lebens, in denen die Gruppe ihre Einheit aufs neue bestätigt, zu feiern.“[6] Niemand interessiert sich hier für die ästhetischen und technischen Implikationen der Fotografie selbst; niemand käme darauf, beliebige soziale Szenen abzubilden außer genau jenen, die sozial dafür prädisponiert sind, fotografisch reproduziert zu werden. In diesem Sinne ist die Rede von den „sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie“, die in der traditionalen Welt der Landbevölkerung des Béarn auf die Stärkung der sozialen Integration hinauslaufen. Stärkung der Integration heißt zugleich, die eigene soziale Zugehörigkeit von der anderer sozialer Gruppen abzugrenzen. „Die Fotografie, ein leichtsinniger Luxus, erscheint den Bauern als ein lächerlicher Barbarismus. Sich dieser kostspieligen Marotte des Städters hinzugeben wäre etwa so, als wollte man an den Sommerabenden, wie die Pensionäre in der Kleinstadt, Arm in Arm mit seiner Frau einen Spaziergang durchs Dorf machen. ‚Ein Bauer, der Fotos macht, dass ich nicht lache! Das überlassen wir besser den Leuten in der Stadt!‘ […]“[7]

Es gibt also eine starke Orientierung an der klassischen Durkheim’schen Soziologie in der frühen Soziologie der Fotografie bei Bourdieu, die ebenso wie die empirische Orientierung auch als Reaktion auf die massmediologists[8] zu verstehen ist, wie Bourdieu sich überhaupt gegen den Begriff Massenkultur wendet, weil er aus seiner Sicht eine antisoziologische Denkweise verkörpert. Aber es gibt auch theoretische Innovationen, die über diese Anlehnung an Durkheim hinausgehen. In seiner Autobiografie Ein soziologischer Selbstversuch gibt Bourdieu einen Hinweis auf den „ganz eigenen Stil seiner Forschung“[9]: Ein vergleichsweise gewöhnlicher empirischer Gegenstand, die Fotografie, gibt ihm die Möglichkeit, „wesentliche Fragestellungen insbesondere der Kantschen Ästhetik“ zu diskutieren, ein minderwertiger Untersuchungsgegenstand führt ihn ins Zentrum legitimer philosophischer Erörterung. Und ein weiterer Hinweis betrifft den Stellenwert von Eine illegitime Kunst für die Entwicklung der Grundlagen seiner theoretischen Orientierung: Das für sein Werk zentrale Konzept der Disposition wurde erstmals in der Einleitung zu Eine illegitime Kunst erläutert; versteckt an einem Ort, wo solche Fundstücke wie Fremdkörper wirken mussten und manche LeserInnnen davon abgehalten haben mögen, dem Buch weitere Aufmerksamkeit zu widmen. Wofür Bourdieu sich stark macht – nicht zuletzt gegen die strukturalen Gesetze von Lévi-Strauss und die existenzialistische freie Wahl bei Sartre gerichtet –, ist eine Wissenschaft, die den Prozess der Verinnerlichung von Objektivität als Klassenhabitus und Klassenethos selbstreflexiv auf die Grundlagen soziologischen Denkens beziehen möchte. Die Vermittlung von Objektivismus und Subjektivismus in den Sozialwissenschaften – ein Projekt, welches Bourdieu unermüdlich in seinen methodologischen Stellungnahmen verfolgt hat – ist hier in der Einleitung zu Eine illegitime Kunst erstmalig formuliert. Und wir können nun die Auffassung des Bauern/der Bäuerin, der/die es abwegig findet, einen Fotoapparat zu benutzen, als eine durch seinen/ihren Klassenhabitus strukturierte Praxis analysieren. Grundelement des bäurischen Ethos ist die Direktive, die Vergrößerung des ererbten Besitzes zu betreiben. Deshalb die Aversion dieser Gruppe, in Verbrauchsgüter zu investieren, obwohl die Mittel vorhanden sind. Es geht nicht darum, dass die Technik Geld kostet. Das Fotografieren ist ein städtischer Luxus, es ist der Gestus des Parvenüs, der Apparat fungiert als Symbol für die voranschreitende Modernisierung, die sich auf Innovation beruft, und ebendies ist in der Logik des Klassenethos der bäurischen Gesellschaft verdächtig. Aus dieser Perspektive wird auch verständlich, warum der fotografierende Bauer/die fotografierende Bäuerin nicht nur eine lächerliche Figur abgibt, sondern im Unterschied zum/zur fotografierenden städtischen KleinbürgerIn oder TouristIn eine Bedrohung für die soziale Integration darstellt: Sein/ihr Fotografieren müsste von der eigenen Bezugsgruppe als Mittel verstanden werden, um sich von ihr zu distanzieren.

Es ist nun keineswegs so, dass Bourdieu es dabei belassen hätte, die unterschiedliche soziale Aneignung der Fotografie auf die Bestimmungsgründe habitueller Klassenerwartungen zu reduzieren. Insbesondere ein formales Element der fotografierten Gegenstände wird bereits von Pierre und Marie-Claire Bourdieu hervorgehoben: nämlich das Prinzip der Frontalität.[10] In der Porträtfotografie oder in den aufwendigen Inszenierungen für Hochzeitsfotos herrscht das Bemühen vor, „dass man der Kamera in derselben Weise gegenübertritt wie einem Menschen, den man achtet und dessen Achtung man erwartet: von vorn, mit erhobenem Kopf und den Blick geradeaus gerichtet“[11]. In einer Anmerkung verweist er auf den „Mann von Ehre“ bei den Kabylen, als demjenigen, „der das Gesicht zeigt, der seinem Gegenüber ins Gesicht blickt, während er das eigene entblößt“[12]. In einer primär auf Ehre und Würde basierenden Gesellschaft, „in der man ständig und unentrinnbar den Blicken der anderen ausgesetzt ist“[13], muss unter allen Umständen eine kontrollierte, auf den Status verweisende körperliche Repräsentation produziert werden; deshalb die starre, soldatische Pose, die hier ein in jeder Hinsicht klar lesbares Bild abgeben soll, als wäre ein Missverständnis oder eine Konfusion zu erwarten, wenn man von dieser extremen Konventionalität ablassen würde. Bourdieu spricht von einer „reziproken Ehrerbietung“, die solcherart auf Frontalität setzende Fotos bewirken sollen. Das Thema der Frontalität ist eine weitere Variation der Thematik Tradition und Moderne, wie sie für die frühen Schriften von Bourdieu typisch ist. Die Frontalität als formales Mittel in der Fotografie versucht, das Spezifische des Mediums – den Schnappschuss, das flüchtige Bild – durch Verzeitlichung zu unterlaufen; alles soll für die Ewigkeit gemacht sein, und so vergleichen Pierre und Marie-Claire Bourdieu schließlich die auf Hochzeitsfotos posierenden, bewegungslosen Bauern und Bäuerinnen mit den Arrangements und Posen, die auf byzantinischen Mosaiken zu finden sind.[14]

Eine zweite theoretische Innovation, die sich mit dem Fotoprojekt von Bourdieu verbinden lässt, kreist um den Begriff der kulturellen Legitimität; womit auch die Frage thematisiert ist, warum die Fotografie aus der Sicht von Bourdieu als eine illegitime Kunst zu bewerten ist. Was mit der Erfindung der Fotografie erzeugt wird, ist die Vorstellung, dass es sich um ein neutrales Modell der Abbildung handle, welches Objektivität und Wahrhaftigkeit gewährleiste. In diesem Sinne haben die Linearperspektive und die mit ihr verknüpfte Sehweise mit der Fotografie eine mechanische Grundlage bekommen. Die Infragestellung dieses Objektivismus, die heute zu den selbstverständlichen Paradigmen der Visual Studies gehört und die in der kunsthistorischen Disziplin durch den einflussreichen Aufsatz von Erwin Panofsky über „Die Perspektive als symbolische Form“ in den 1920er Jahren in Gang gesetzt wurde, wird, vermittelt über die Arbeiten von Pierre Francastel, von Bourdieu übernommen. „Die Kamera gibt das Gesichtsfeld des Zyklopen wieder, nicht das des Menschen“, heißt es dort; im Sinne der Zeichenlehre versteht Bourdieu die Fotografie als ein „konventionelles System, das den Raum nach den Gesetzen der Perspektive […] abbildet“[15]. Wenn die Fotografie aber keine endgültige, objektive Definition der visuellen Realität darstellt, sondern lediglich eine „symbolische Form“ (um Panofsky zu paraphrasieren), die sich während der italienischen Renaissance zu einer habituell verankerten Sehweise ausbildete, ergibt sich eine soziologische Deutung des Vorgangs: Dann ist die scheinbare Beziehung zwischen Realismus, objektiver Abbildung und Fotografie eine sozial gewollte Eigenschaft der Bilder und nicht auf die technische Natur der Fotografie zurückzuführen. Die Fotografie ist aus dieser theoretischen Perspektive als Medium erfolgreich, weil sie an eine kulturspezifische Sehweise anknüpft.[16]

Bourdieu argumentiert, dass ebendieser Realismuseffekt der Fotografie in besonderer Weise attraktiv für die unteren Klassen der Gesellschaft sei, weil er den Ambitionen einer funktionalistischen Ästhetik entgegenkäme. Und an dieser Stelle verläuft aus seiner Sicht die Scheidelinie zwischen legitim und illegitim: Solange die Fotografie ihre „Rechtfertigung im fotografierten Gegenstand findet“[17] – in der Selektion in Hinsicht auf das Fotografierbare –, befinden wir uns jenseits des Reichs der Ästhetik, in dem es um die Fotografie um der Fotografie willen geht. Mit anderen Worten, nicht die Fotografie als Technik entbehrt der Möglichkeit einer Anerkennung in der legitimen Welt der Hochkultur, sondern ihr sozialer Gebrauch als demokratisches Medium des Objektivismus: Für jeden/jede zugänglich, ohne aufwendige Vorbereitungen benutzbar – dies lässt die Anerkennung in einer auf Distinktion beruhenden, geschichteten Gesellschaft misslingen. Entgegen dem Vermögen der Fotografie, die herkömmliche Ordnung des Sichtbaren durch ihren flüchtigen Charakter zu verwirren, dient sie als populäres Medium der Bestätigung des Sichtbaren. Dadurch verfehlt sie die Imperative der Kant’schen Ästhetik des „interesselosen Wohlgefallens“. Folglich ist sie dem Kant’schen „barbarischen Geschmack“ ausgeliefert, weil sie in idealer Weise Aufgaben übernehmen kann, die außerhalb ihrer selbst liegen bzw. durch den Ethos der BenutzerInnen zu prägen sind.

Bourdieu macht sich diese Kant’sche Konstruktion des „interesselosen Wohlgefallens“ keineswegs zu eigen, wie in der Literatur hin und wieder unterstellt wird. Sie stellt für ihn einen typischen Ausdruck des bourgeoisen Ethos und Habitus dar; die „Interesselosigkeit“ basiert auf materieller Sicherheit sowie auf moralischer und intellektueller Superiorität und fungiert deshalb als zentrales Instrument der Distinktion. Interessant ist, wie Bourdieu diese Distinktionslogik auf der Basis seiner empirischen Befunde in Bezug auf die Fotografie darstellen kann. Denn das Fotografieren lässt sich tatsächlich in allen sozialen Klassen nachweisen (außer bei den Bauern und Bäuerinnen; aber selbst in dieser Gruppe dürfen die Bäuerinnen schließlich ihre Kinder fotografieren), und ebendieser oberflächliche Eindruck ist typischerweise von den TheoretikerInnen der Massenkultur aufgenommen worden, um damit einen generellen Kulturverfall zu assoziieren. In der Tat findet Bourdieu, dass die Praktiken der Fotografie in der Oberschicht genauso funktionalistisch wie die des Kleinbürgertums oder der Arbeiterklasse ausgerichtet sind. Nichtsdestotrotz zeigen sich die feinen Unterschiede, wenn die Befragten ihre Einstellungen über die ästhetischen Qualitäten von Fotografie äußern, bzw. in der Art und Weise, wie sie Fotografie in der Praxis gestalten. So unterscheidet Bourdieu zwischen den „SaisonkonformistInnen“, die in allen Schichten dominant sind und die im Wesentlichen das Außeralltägliche zur Integration der familialen Welt abbilden, und den „passionierten AmateurInnen“, die im Sinne Durkheims anomisch gepolt sind, nämlich jung, unverheiratet und kinderlosen Familien angehörig. Sie bilden ästhetische Ambitionen aus, an denen sie aber regelmäßig scheitern. Die Logik der Distinktion kommt in dem Moment ins Spiel, in dem im Versuch der Herstellung von Andersartigkeit ein Bruch mit der gesellschaftlich verbreiteten SaisonkonformistInnenfotografie versucht wird. Teile der aufsteigenden Mittelklasse verzichten bewusst auf familiale Zwecksetzungen, während die Oberschicht ebendieses Engagement in geringerem Ausmaß entwickelt, weil der Fotografie das „Odium des Gewöhnlichen“ anhaftet. Die ArbeiterInnen, die es mehrheitlich ablehnen, die Fotografie für eine Kunst zu halten, sind zugleich bereit, die Fotografie über der Malerei anzusiedeln; für sie ist die Frage nach dem ästhetischen Wert der Fotografie eigentlich ein Unsinn, weil ihr Klassenethos es nicht vorsieht, Adornos Satz über die Funktion der Kunst zu folgen: „Soweit von Kunstwerken eine gesellschaftliche Funktion sich prädizieren läßt, ist es ihre Funktionslosigkeit.“[18] In der Angestelltenwelt herrscht dieses „glückliche Verhältnis zur Fotografie“ nicht mehr; auf sie fällt der Schatten der großen Künste; ihre Kommentare sind ambivalent, einerseits ist ein „Foto letztendlich wie ein Gemälde“, andererseits werden die eigenen Bemühungen, zu fotografieren, regelmäßig negativ sanktioniert, „das hat keinen Stil“[19]. Die Distinktionslogik treibt ihrem Höhepunkt entgegen, wenn in den Bezirken der gebildeten Pariser Oberschicht, die auffällig wenig fotografiert, eine, wie Bourdieu sagt, „regelrechte spontane Soziologie […] aus satirischen Anekdoten und kritischen Halbreflexionen über die Lächerlichkeit bestimmter Fotoenthusiasten“ zu finden ist.[20] Beginnend mit dem ironischen Satz von Emile Zola, dass etwas erst als gesehen gelten könne, wenn es fotografiert sei, entwickelt sich ein ganzes Arsenal von Distanzierungen, die aus der Sicht von Bourdieu ein habituell verankertes Überlegenheitsgefühl zum Ausdruck bringen sollen; in späteren Schriften subsumiert Bourdieu diese Verhaltensweisen unter dem Begriff „Klassenrassismus“. Die Fotografie ermöglicht es also durchaus, die ästhetische Attitüde auf der Basis einer bestimmten, schon vorhandenen Disposition zu aktualisieren, wenn diese auch in der eigenen fotografischen Praxis nicht umgesetzt wird. Zugleich eröffnet die populäre Fotografie aber auch den oberen Schichten die Chance, durch eine Diffamierung solcherart vulgärer „Volkskunst“ ihren Status zu untermauern. Insgesamt entwirft dieser Blick von Bourdieu auf die Differenzierungsprozesse in der Aneignung der Fotografie eine Gegenposition zu den Theoretikern der Massenkultur, die insbesondere die homogenisierende Wirkung dieses Mediums beklagt haben.

Der am häufigsten genannte Einwand gegen Eine illegitime Kunst dürfte lauten, dass zumindest bestimmte Segmente der Fotografie in den vergangenen vier Jahrzehnten zu einer legitimen kulturellen Praxis vorangeschritten seien. Jean-Claude Chamboredon hat in Eine illegitime Kunst den Part übernommen, die sogenannte „künstlerische Fotografie“ zu analysieren, also jenen Bereich, der um künstlerische Anerkennung kämpft.[21] Er beschäftigt sich mit den „virtuosen Fotografen“ und ihren Legitimationsstrategien; zu Wort kommen insbesondere Brassaï, Henri Cartier-Bresson und Man Ray. Alle Versuche, einen eigenen ästhetischen Diskurs zu begründen, enden in einem Wirrwarr von Statements, denen nur gemeinsam ist, dass sie eine künstlerische Ambition zum Ausdruck bringen, die aber nicht durch die Apparatur selbst begründet ist. Die Legitimität wird – so Chamboredon – konstruiert, indem Konzepte der hohen Künste vergeblich ausgeborgt werden. Insofern befindet sich die Fotografie Anfang der 1960er Jahre in einer ähnlichen Lage wie z. B. der Jazz oder die Filmkritik, mit der zusätzlichen Schwierigkeit, gegen die enorme Verbreitung der fotografischen Praxis als art moyen eine andere Aneignung des Mediums formulieren zu müssen. Gleichwohl geht Chamboredon davon aus, dass die „virtuosen Fotografen“ zum Beispiel durch ihre „einhellige Forderung nach Einrichtung eines Museums der Photographie“[22] den Weg für eine legitime Spielart der Fotografie bereitet hätten. Interessanterweise erhält die Fotografie just zum Zeitpunkt des Erscheinens von Eine illegitime Kunst einen erheblichen Nobilitierungsschub. Während im Museum of Modern Art in New York mit John Szarkowski als Nachfolger des Populisten Edward Steichen ein Leiter der Fotoabteilung berufen wird, der mit einem formalistischen Vokabular die Modernismustheorie von Clement Greenberg auf die Fotografie zu übertragen versucht – um damit seine AusstellungsfotografInnen ( z. B. Gary Winogrand, Diane Arbus, Lee Friedlander und William Eggleston) in einen künstlerischen Kontext zu bringen –, taucht das Medium Fotografie in den 1960er Jahren zunehmend auch bei zeitgenössischen KünstlerInnen auf (z. B. John Baldessari, Ed Rucha, Dan Graham). Aber die valorisierte Fotografie entwirft eine Praxisform, die vor allem den Bruch, die Verneinung mit der professionellen, technisch definierten Fotografie zu vollziehen hatte, um sich damit paradoxerweise der Amateurfotografie anzunähern. In einer jüngst erschienenen Publikation zum Verhältnis von Kunst und Fotografie wird festgestellt: Die Kunst ist fotografisch geworden, nicht aber: Fotografie ist eine Kunst geworden, denn damit würde eine Einheit suggeriert, die es faktisch nicht gibt.[23] Diese interne Differenzierung im Umgang mit Fotografie insbesondere im Feld der künstlerischen Produktion wird von Chamboredon Anfang der 1960er Jahre nur unzureichend erkannt. Die Redeweise von einem „fotografischen Feld“ hätte ebendiese Kämpfe um kulturelle Legitimität aus der Perspektive der ProduzentInnen aufzeigen können. Bekanntlich widmete sich Bourdieu erst Anfang der 1970er Jahre der Entwicklung einer Feldtheorie, und so werden im Kontext von Eine illegitime Kunst eher ideologiekritische „Entlarvungen“ im Diskurs der AkteurInnen vorgenommen. In den 1960er Jahren gelingt es John Szarkowski, durch seine Tätigkeit am MoMA die ErbInnen der amerikanischen Dokumentartradition mit einer „ästhetisierten AutorInnen-Stimme“ auszustatten und Fotografie als Kunst zu präsentieren, und wenn der einflussreiche Kunsttheoretiker Benjamin Buchloh diese FotografInnen später als „PseudokünstlerInnen“ bezeichnet, um sie von KünstlerInnen abzusetzen, die Fotografie für ihre Kunst verwenden, dann zeigt dies nur, dass wir es mit einem Feld zu tun haben, in dem es um etwas geht; es ist ein Kampf um Anerkennung, um Inklusion und Exklusion, nun aber im Zentrum der legitimen Kultur.[24] Auf diese Weise können wir zwei „legitime“ Subfelder fotografischer Produktion bezeichnen, die in den 1960er Jahren Teil des künstlerischen Feldes werden: musealisierte Dokumentarfotografie und KünstlerInnen, die das Medium Fotografie verwenden, um damit eine neue künstlerische Position aufzuzeigen.

Doch der eigentliche Durchbruch der Fotografie hängt nicht mit diesen mühseligen Kämpfen um Anerkennung zusammen, sondern mit einer Art Implosion ästhetischer Differenz in der Welt der Malerei und der Bildhauerei durch die Infragestellung von Originalität, subjektiver Expressivität und formaler Singularität durch den Einfluss der Fotografie.[25] Dieser kunsttheoretische Paradigmenwechsel, den Rosalind Krauss in ihren Arbeiten analysiert hat, basiert u. a. auf einer präzisen Lektüre von Eine illegitime Kunst. Krauss schreibt: „Für bestimmte Künstler und Kritiker öffnete die Photographie die geschlossenen Kategorien des älteren ästhetischen Diskurses für die schwerstmögliche Bedrohung und kehrte ihn vollständig um. Angesichts ihrer Kraft dies zu bewirken – also das ganze Konzept der Einzigartigkeit des Kunst-Objekts, der Originalität seines Autors, der Kohärenz des Œuvres, innerhalb dessen sie entstand und der Individualität des so genannten Selbstausdrucks in Frage zu stellen –, wird deutlich, dass es, bei allem gebotenen Respekt gegenüber Bourdieu, einen Diskurs gibt, der der Photographie eigen ist [was Bourdieu nicht für möglich hielt, CB]. Allerdings müssen wir ergänzen: Es handelt sich dabei um keinen ästhetischen Diskurs. Es geht um ein Projekt der Dekonstruktion, bei dem die Kunst von sich selbst entfernt und getrennt wird.“[26] Dieser Beitrag von Rosalind Krauss stammt aus dem Jahre 1983, wurde also fast zwei Jahrzehnte nach Erscheinen von Eine illegitime Kunst geschrieben. Er zeigt, dass Bourdieus soziologische Analyse der Fotografie in einer Phase der Bestimmung dessen, was legitime Kunst überhaupt noch sein kann, wenn sie gewissermaßen durch das Werkzeug der Fotografie entblößt worden ist, eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Ironie der Geschichte besteht darin, dass Krauss die präzise und entmystifizierende Analyse der Fotografie von Bourdieu nutzt, um sie als Instrument der Dekonstruktion gegen die legitime Kunst ins Feld zu führen, während Bourdieu Anfang der 1960er Jahre mit aller Selbstverständlichkeit von einem intakten, hochlegitimen ästhetischen Feld ausging, welches die Fotografie ausschloss, weil sie weder Originalität, Authentizität noch ein formales Vokabular entwickeln konnte. Ebendieser Mangel macht sie für ein bestimmtes avanciertes Feld der Kunst in den 1960er und 1970er Jahren interessant.



[1] Franz Schultheis / Christine Frisinghelli (Hg.), Pierre Bourdieu. In Algerien. Zeugnisse der Entwurzelung, Graz 2003, S. 48.

[2] Pierre Bourdieu / Loïc J.D. Wacquant, Reflexive Anthropologie, Frankfurt a. M. 1996, S. 200.

[3] Mit „classes moyennes“ wurde die aufsteigende untere Mittelklasse – vor allem das Kleinbürgertum – bezeichnet, insbesondere assoziiert mit neuen Dienstleistungsberufen. Der französische Titel von Eine illegitime Kunst lautet in Anlehnung an diesen in der damaligen Soziologie heftig diskutierten Begriff Un art moyen.

[4] Pierre Bourdieu / Marie-Claire Bourdieu, „The Peasant and Photography“, in: Ethnography, Bd. 5(4), 2004, S. 601–616. Der Artikel erschien erstmals 1965 in der Revue française de sociologie, Bd. 6, Nr. 2, S. 164–174.

[5] Pierre Bourdieu / Luc Boltanski / Pierre Castel / Jean-Claude Chamboredon / Gérard Lagneau / Dominique Schnapper, Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt a. M. 1981.

[6] Ibid., S. 603. Die Textpassage hat Pierre Bourdieu später in Eine illegitime Kunst verwendet. Vgl. Pierre Bourdieu, „Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede“, in: Bourdieu et al. 1981, op. cit., S. 32.

[7] Ibid., S. 608. Auch dieses Zitat findet sich später in Bourdieu et al. 1981, op. cit., S. 61.

[8] In einem Text von aus dem Jahre 1963 wenden sich Bourdieu und Passeron gegen AutorInnen, die der Massenkultur eine homogenisierende Wirkung zuschreiben, und nennen sie „massmediologists“. Pierre Bourdieu / Jean-Claude Passeron, „Sociologues des Mythologies et Mythologies de Sociologues“, in: Les Temps Modernes, Nr. 211, Dezember 1963, S. 998–1021.

[9] Pierre Bourdieu, Ein soziologischer Selbstversuch, aus dem Französischen von Stephan Egger, mit einem Nachwort von Franz Schultheis, Frankfurt a. M. 2002, S. 116.

[10] Bourdieu / Bourdieu 2004, op. cit., S. 610 ff.

[11] Bourdieu et al. 1981, op. cit., S. 94.

[12] Ibid., S. 306.

[13] Ibid., S. 94.

[14] Siehe Bourdieu / Bourdieu 2004, op. cit., S. 612.

[15] Das Zitat entstammt Pierre Francastel, Peinture et Société, Lyon 1951, S. 47; zitiert in: Bourdieu et al. 1981, op. cit., S. 86.

[16] Siehe dazu William M. Ivins, Prints and Visual Communication, Cambridge 1953.

[17] Bourdieu et al. 1981, op. cit., S. 89.

[18] Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1970, S. 336.

[19] Bourdieu et al. 1981, op. cit., S. 72.

[20] Ibid., S. 79.

[21] Jean-Claude Chamboredon, „Mechanische, unkultivierte Kunst“, in: Bourdieu et al. 1981, op. cit., S. 185–202.

[22] Ibid., S. 201.

[23] David Campany (Hg.), Kunst und Fotografie, dt. Ausg. Berlin 2005. Siehe darin die Einleitung „Survey“ von David Campany.

[24] Benjamin H. Buchloh, „Allan Sekula. Photography Between Discourse and Document“, in: Allan Sekula, Fish Story, Düsseldorf 1995, S. 192.

[25] Dieses Argument ist von Rosalind Krauss entwickelt worden. Siehe Rosalind Krauss, „Eine Bemerkung über die Photographie und das Simulakrale“, in: Dies., Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998, S. 210–223.

[26] Ibid., S. 221.