02 2011
Über Chto Delat?s Songspiele
Übersetzt von Christoph Brunner
„Derart
produziert das Stück einen neuen Zuschauer, jener Akteur,
der beginnt, wenn das
Spiel endet, der nur beginnt, um es – aber im Leben – zu vollenden.“[1]
Louis Althusser
Chto Delat?
/ What is to be done ist eine 2003 in St. Petersburg (Russland) gegründete,
selbstorganisierte Plattform. KünstlerInnen, KritikerInnen und PhilosophInnen
aus St. Petersburg, Moskau and Nizhny Novgorod arbeiten hier an der
Schnittstelle von politischer Theorie, Kunst und politischem Aktivismus. Ihre
Praxis basiert auf Prinzipien der Selbstorganisation, der Solidarität und des
Kollektivismus sowie auf einer von David Riff, einem Mitglied des Kollektivs,
als „kollektive Neuüberlegung des kritischen Realismus“ bezeichneten Methode,
die von einer konkreten (materiellen) Analyse und der kritischen Anwendung
mimetischer Handlungsweisen herrührt.[2]
Diese Ansichten werden beständig politisch und theoretisch artikuliert. Sie
finden sich in englisch/russischen Zeitungsausgaben wieder – meist im Kontext
von (westlichen) Kunstausstellungen oder Konferenzen und in Verbindung mit
Projekten, die in verschiedenen Konstellationen von den Mitgliedern des
Kollektivs organisiert werden. Die Zeitungen und Videos von Chto Delat? werden
im Internet publiziert und kostenlos auf Konferenzen, Ausstellungen und
Demonstrationen verteilt. In Anbetracht des entpolitisierten russischen
Glitzer-Kunstmarkts ist es wenig überraschend, dass ihre Behauptungsquelle und
(ökonomische) Unabhängigkeit in den Westen verlagert und in ein Netzwerk von
Non-Profit-Organisationen eingebunden wurde. Ihre Projekte sollen als
Doppelagenten fungieren: Zum einen liefern sie politisierte Inhalte, die sich
passender Weise an den methodischen Prinzipien der russischen Avantgarde und an
den Sowjets orientieren. Zum anderen
hauchen sie der Möglichkeit der öffentlichen Rede neues Leben ein. Dies
geschieht durch die Fokussierung auf Kernfragen des gegenwärtigen politischen
und intellektuellen Lebens in Russland in einem aktiven internationalen Kontext
und der gleichzeitigen Infragestellung ideologischer und geo-kultureller Konstellationen
von Kunstinstitutionen und der Institution Kunst an sich. Es ist nicht
verwunderlich, dass ein solches ambitioniertes Programm von Kritik auf lokaler
und internationaler Ebene begleitet wird. Dabei handelt es sich um Kritik, die
sich – jeweils abhängig von den politischen Neigungen und Strömen des
gegenwärtigen künstlerischen Mainstreams –über zu wenig oder zu viel „Kunst“
beschwert.[3]
Wesentlich wichtiger als diese Gepflogenheiten, die explizit politischen
Kunstpraxen folgen und regelmäßig den Handlungsspielraum von
KulturarbeiterInnen in der Gesellschaft beeinflussen, welche zutiefst von ihrem
Verhältnis zum Westen belastet sind, ist es wichtig, die provokativen Prozesse
politischer Artikulation, präziser Analyse und Selbstkritik hervorzuheben, in
die Chto Delat? seit Jahren systematisch investiert. Ein Serie von kollektiven
Videoarbeiten, Songspiel Triptych:
Perestroika-Songspiel; The Victory over the Coup, (2008); Partisan Songspiel. A Belgrade Story (2009);
und The Tower: A Songspiel (2010),
besteht aus opernartigen, musikalischen Dramen mit einem aggressiv-populären
Musikstil, der durchzogen ist von Chto Delat?s Beziehung zur Politik und Poetik
Bertolt Brechts und einer Form des Songspiels,
das Brecht zusammen mit Kurt Weill in den späten 1920ern als Form der sozialen
Kritik entwickelt hat.
Brecht war schon vor den oben genannten Arbeiten Thema, konkret seit einer 2006 erschienen Zeitungspublikation unter dem Titel „Why Brecht?,“ in welcher der Versuch unternommen wurde, Brecht aus der von Frederic Jameson in seinem Bahn brechenden Werk Brecht and Method so benannten „Brecht fatigue“ zu lösen.[4] Grundlegend für die Arbeit Chto Delat?s sind Brechts ästhetische Methoden der Analyse konkreter historischer Situationen und „philosophischer Positionen im geheimen Einverständnis mit einer Marxistischen Vorahnung.“[5] Basierend auf diesen Methoden befasst sich Chto Delat?s Unternehmen mit einer Antwort auf die Frage, wie man in Zeiten des kulturellen Imperialismus intellektuelle und kulturelle Aktionen hervorbringt, die eine radikale soziale Transformation entfachen können. Brecht galt in dieser Phase als Ausgangspunkt für eine Kritik „subversiver Affirmation“ im Sinne einer taktisch-aktivistischen Methode, die nicht nur spontan gelebte Ideologien – blind für die Notwendigkeit einer Veränderung historischer sozialer Verhältnisse – zerrüttet; eine Kritik, die Chto Delat? einige Jahre später mit wunderbarer Klarheit und in Anlehnung an Brechts prägnanten Stil geäußert hat: „Es ist nicht genug, Scheiße beschissener aussehen und stärker stinken zu lassen. Es ist entscheidender, den Betrachter davon zu überzeugen, dass es noch etwas anderes als Scheiße gibt.“[6] Im Video Angry Sandwich People or In Praise of Dialectics (2006) theatralisieren ortsansässige AktivistInnen den Protest im öffentlichen Raum, indem sie Poster mit Fragmenten von Brechts Gedicht „Lob der Dialektik“ tragen und somit einen Prozess der kollektiven Subjektivierung verkörpern. Drei Jahre später wird die dialektische Methode in der Zeitung The Great Method im Detail analysiert und als Beitrag für ein zweites Songspiel-Video, Partisan Songspiel. A Belgrade Stroy, produziert.
In der Zwischenzeit haben zwei weibliche Mitglieder des Kollektivs, Olga Egorova (Tsaplya) und Natalia Pershina (Glucklya), die auch in einer anderen Kollektivkonstellation, der „Factory of Found Clothes“ arbeiten, eine Form des Songspiels in dem Film Three Mothers and a Chorus (2007) realisiert. Das von ihnen entwickelte Hauptmerkmal wird auch in darauf folgenden Songspielen angewendet: Eine Geschichte wird durch Lieder erzählt, und ebenso wie in Brechts Stücken wird durch diese Methode der repräsentative Modus der Anrede umfunktioniert. Dieser war lange Zeit eine Standardfunktion in den meisten Formen des Musiktheaters, wurde aber vom modernen Schauspiel verworfen, nachdem Naturalismus und Realismus die „Vierte Wand“ eingerissen hatten. Auf Brecht liegt eindeutig das Hauptaugenmerk der Verfahren des Kollektivs, ebenso wie auf dem von Jameson in Relation zur „Brecht fatigue“ diskutierten „Brecht“ der 1960er und 1970er Jahre. Eine weitere Referenz ergibt sich aus der 2007 erschienenen Zeitung Make Films Politically, in welcher Bezug genommen wird auf Godards Gruppe Dziga Vertov, laut welcher es „nicht genug sei, politische Filme zu machen sondern Filme politisch zu machen“. Dieser Prozess hat nichts zu tun mit einem Erreichen Brechts oder von irgendwelchen monolithisch vorgefertigten Prinzipien, sondern zielt viel eher auf eine Abstimmung mit der dialektischen Methode ab, die sich von einer konkreten Artikulation des Alltäglichen und ihrer Position in ihr herleitet.
Das von Dmitry Vilensky, einem Mitglied des Kollektivs, geschriebene Manifest Chto Delat and Method: Practicing Dialectic mit dem Motto der „Vermischung unterschiedlicher Dinge“ besitzt eine gute Prise Humor, ohne zynisch zu sein und kommt in fast aphoristischer Form daher. Der Kern der Aussage liegt in der methodologischen Aufgabe, die „richtigen Verhältnisse zu finden“ zwischen den widersprüchlichen Festlegungen der Beziehungen zwischen der Totalität von Kapital, Kunst, Institutionen, Finanzwesen, Universalität, der Unterteilung in Disziplinen, Selbststudium, Kompromissen, FührerInnen, Klassen, und vielen weiteren Bezugspunkten ihrer Arbeit. Durch dieses Vorgehen schlägt Vilensky eine flexible Offenheit vor, die in einer präzisen Positionierung unter den spezifischen Bedingungen jeder einzelnen Situation resultiert. In seinen Worten: „Meister Bertolt und Meister Jean-Luc haben gezeigt, dass Kunst aus Problemen entsteht und uns zu Handlungen treibt.“[7] Der rote Faden der Methode besteht in eben dieser Ambition, die als dialektisch-kritischer Realismus zum Leben erwacht und sich mit der Gegenwart unter dem Gesichtspunkt einer angenommenen Zukunft innerhalb einer transhistorischen Idee des Kommunismus befasst.
***
Das erste Songspiel, Perestroika-Songspiel. The Victory over the Coup, beschäftigt sich mit dem Moment des triumphalen Sieges der Demokratie über den restaurativen Staatsstreich im August 1991 mithilfe eines öffentlichen Aufstands. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als der Weg zu einer gerechteren Gesellschaft frei schien und nur wenige – und diese wahrscheinlich auch noch aus falschen Gründen – daran glaubten, dass dieser Prozess in einem ungerechten, ineffizienten, nicht-egalitären, betrügerischen, heuchlerischen Regime enden könnte, das nur wenig besser als das vorherige wäre. Das Manuskript basiert auf recherchierten Dokumenten und Augenzeugenberichten dieser Zeit. Ein weiteres Resultat der Recherche ist der Film Chronicles of Perestroika (2008) von Dmitry Vilensky, in welchem s/w Dokumentarfilmmaterial aus den St. Petersburger Dokumentarfilmstudios neu arrangiert und mit der Musik von Mkhail Krutik, dem Komponisten aller Songspiele, unterlegt wurde. In diesem Film hat Musik nach wie vor die Funktion, heroische Ereignisse mit Emotion und Pathos aufzuladen.
Das Perestroika-Songspiel macht sich den von Brecht geprägten Bergriff des „Gestus“ zu nutze. Für Brecht definiert „Gestus“ grundlegende menschliche Züge, nicht einfach „Gesten,“ sondern alle Zeichen sozialer Beziehungen, soziale Haltungen in deutlichen und stilisierten Formen. Im Songspiel tritt dies durch eine Typologie von Charakteren der Perestroikazeit zu Tage – als Demokrat, Geschäftsmann, „Revolutionär,“ Nationalist und Feministin. Die Bedeutung des grundlegenden Gestus ergibt sich aus den Elementen der narrativen Strukturierung im Sinne Brechts, unterteilt in unterschiedliche Episoden, deren Zweck es ist, die nahtlose Kontinuität des naturalistischen Theaters und die Illusion einer natürlichen Ordnung zu brechen. Portraitbilder Sacharows und Jelzins hängen im Zimmer eines Demokraten, westliche Konsumgüter liegen in Raum des Geschäftsmannes, Bilder Stalins und Nikolaus II. finden sich im Raum des Nationalisten, ein Transparent mit dem Aufruf zum Generalstreik hängt im Zimmer des Revolutionärs und weitere Episoden tragen sich unter dem „stürmischen Himmel“ im öffentlichen Raum der Stadt zu. Die Proklamationen, Pläne, Hoffnungen und Träume der HeldInnen werden von einem Chor in der „Geschichte der nicht wahr gewordenen Hoffnungen“ kommentiert.
Der Chor spricht aus der komfortablen Perspektive der Gegenwart mit der nachträglichen Einsicht, dass es allzu einfach sei, die Taten und Gedanken der „fünf HeldInnen der Perestroika“ dafür einstehen zu lassen, dass das Ende der staatlichen Umverteilung nicht gleichbedeutend war mit Freiheit. Die Erfahrung der tatsächlichen, in das politische Denken involvierten, Massen war von Beginn an nicht darauf ausgerichtet, in den Kapitalismus als einzigem Ausgang der Perestroika zu münden. Die Erzählung lädt ein zu Momenten der Empathie gegenüber den am Ausdruck kollektiver Hoffnung beteiligten Taten in dieser noch nie da gewesenen Woge öffentlicher Erhebung; jedoch verläuft sich diese Erhebung, die ein Unterdrückungsregime zum Umsturz zwang, bald in der Aneignung, Aufspaltung und Kanalisierung ihrer Kraft in einer entpolitisierten Darstellung der Demokratie. In der Polyphonie seiner Stimmen proklamiert der Film die Perestroika als Ausdruck einzigartiger emanzipatorischer Impulse, die sowohl vom sowjetischen Staat also auch von seinen kapitalistischen Nachfolgern unterdrückt wurden.
Im darauf folgenden Film, Partisan Songspiel, A Belgrade Story, nimmt eine kritisch reflektierte Erinnerung der kommunistischen Vergangenheit die konkrete Situation der Unterdrückung der Roma durch die Stadtbehörde zum Ausgangspunkt. Da angrenzend an den wohlhabenden Belgrader Stadtbezirk Belleville, sollte die benachbarte Roma-Siedlung zu Gunsten des Spektakels der „Sommer-Universiade 2009“ zerstört werden. Das Drehbuch wurde in Zusammenarbeit mit den AktivistInnen und KünstlerInnen Vladan Jeremic und Rena Rädle und basierend auf einer präzisen Analyse der Situation entwickelt. Im Grunde jedoch könnte Belgrad jede postkommunistische Stadt nach dem Krieg sein, die mit ihrem Status der Halbperipherie kämpft und durch die Produktion von Mega-Events zur Unterstützung des Tourismus und eines investorenfreundlichen Klimas, ihre geo-politische Position aufwerten will. Die Geschichte propagiert eine universelle, auf der Idee des Klassenkampfes basierende, Botschaft. Kriegsprofiteure, Stadtbeamte und korrupte Geschäftsleute stehen den unterdrückten RepräsentantInnen verschiedener Interessengruppen (ein Arbeiter, eine Romafrau, eine lesbische Aktivistin und ein versehrter Veteran) gegenüber. Der aus toten Partisanen bestehende Chor kommentiert die Konfrontationen zwischen den Lagern und äußert gleichzeitig die eigentliche Botschaft des Films: die Notwendigkeit, Identitätspolitiken aufzugeben zugunsten eines vereinten Aufbegehrens für soziale Gerechtigkeit. Der Film endet in einer Art Klage der toten Partisanen über die gegenwärtige Uneinigkeit. Gleichzeitig lässt ihr Aufruf „Sucht nach neuen Partisanen!“ die Hoffnung entstehen, dass ein universeller emanzipatorischer Kampf in der Zukunft möglich wäre.
Das nächste Songspiel, The Tower: A Songspiel, untersucht den Konflikt um das Okhta-Center in St. Petersburg, einem Neubau für die örtliche Niederlassung des berüchtigten Gazprom-Konzerns. Durch den Bau eines 403 Meter hohen Hochhauses wird die berühmte St. Petersburger Skyline aus niedrigen Gebäuden ruiniert. Der Zusammenbruch des Widerstands ist total. In ihren Deklamationen von Klischees erzeugen die Charaktere keine Sympathie – und daher unterscheidet sich die Gruppe mächtiger Entscheidungsträger, Bürokraten und Handlanger (ein PR-Manager, ein Politiker, ein Sicherheitschef, ein orthodoxer Priester, eine Galeristin und ein Künstler), für die das Hochhaus eine Möglichkeit für Profit und soziale Bestätigung bedeutet, wenig vom Chor, der die Meinungen jener vereint, deren Meinung nicht berücksichtigt wurde (die Intelligenzija, Pensionäre, ArbeiterInnen, Angestellte, MigrantInnen, MenschenrechtsaktivistInnen, etc.). Die Spielart des Films verändert sich in der letzten Szene vom Satirischen hin zum Tragischen. In dieser Szene erstarren alle Charaktere plötzlich in einem Tableau vivant und ihre erstickten, unbeweglichen Körper werden von einer roten Telefonschnur – synonym für die Rettungsleine der Netzwerke des Kapitalismus – ineinander verwickelt. Während in den Perestroika und Partisan Songspielen das Scheitern als Lektion und Schritt in die Zukunft aufgefasst wird, zeichnet A Tower ein Bild ohne den Horizont eines historischen Bewusstseins und ohne die Antagonismen in Bezug auf eine progressive Einschließung des Gemeinsamen. Dieses ist nicht notwendigerweise an die Frage sozialer Gerechtigkeit im gegenwärtigen Kapitalismus gebunden, weshalb es scheitert, auch wenn es nicht komplett ineffizient in der Verwirklichung seiner bestimmten Ziele ist.
Chto Delat?s Filme werden oft für ihr „preaching to the choir“ kritisiert, dafür, gleichsam offene Türen einzurennen, wegen eines schamlosen Didaktizismus. Und sie werden der Sprücheklopferei bezichtigt. Jedoch theatralisieren und spitzen ihre Filme den Akt der Konstituierung eines Publikums zu, in welchem Getrenntes zusammenfindet und sich der Raum öffnet für eine Wiederaneignung der entfremdeten Substanz durch eine radikale Transformation der intersubjektiven sozialen Beziehungen. Und dieses Phantom eines „Chors“ kann sicherlich nicht die Auseinandersetzung mit seiner Komplizität vermeiden, wenn er erreichen möchte, was Brecht die „Wahrheit unserer Situation“ nennt. Die Prinzipien von Brechts „epischem Theater“ sind hier Gegenstand einer ständigen Neuverarbeitung, um den so genannten Verfremdungseffekt zu perfektionieren. Dieser wird von Darko Suvin als „Spannung zwischen Utopie und Geschichte“ beschrieben, durch welche Ereignisse in ihrem historischen und daher wandelbaren Charakter präsentiert werden. Gleichzeitig stellt sich der gegenwärtige neoliberale Kapitalismus – obwohl er zunehmend Symptome der Krise seiner Legitimität (ganz zu schweigen von seinen Leistungen) aufweist – immer noch im Schutz einer umstrittenen „Natürlichkeit“ dar. In der Songspiel-Trilogie wird der V-Effekt erreicht durch ein Offenlegen der Widersprüche sozialer Mechanismen auf der Grundlage konkreten historischen Materials. Ebenso ergeben sich Konsequenzen einer deklarierten Referenz zu Brecht ohne Subtilität, Reservierung oder Umwege mittels einer flexiblen und konsistenten Anwendung formaler Brecht’scher „epischer“ Verfahren oder dem später von Brecht so bezeichneten „dialektisches Theater“ (die direkte Anrede der ZuschauerInnen durch Lieder, Kommentare des Chors, politische Slogans, die Verwendung von Requisiten usw.). Etwas scheint fast irritierend und unangebracht in der brutalen Aneignung des „Brechtkomplexes“, als ob kommunistische Regime nicht zerfallen wären und uns nicht Jahrzehnte des „Fortschritts“ von den Zeiten trennten, in denen politische Slogans das Ende des Kapitalismus angesichts der faschistischen Gefahr verlangten. Und als ob die Kunst, wie wir seitdem ständig überzeugt wurden, nicht jede Ideologie hinter sich gelassen hätte, über die sie je verfügte. Es geht hierbei weder nur um Brecht noch um einen generellen Unwillen, die Dinge beim Namen zu nennen, oder um die von Chto Delat? aufgerufene Wahrnehmung vielfacher Zeitlichkeiten, um der Zeit des Kapitals, die gemessen wird an der Ware und deren einzige Sprache das Geld ist, entgegenzuwirken. Vielmehr handelt es sich um eine widersprüchliche, nämlich dialektische, Position, die eine Kritik der liberalen „Zivilgesellschaft“ im sozial-politischen Komplex von Putins Russland ermöglicht, gestützt vom eigentlichen Akt der Kritik. Chto Delat?s Ansatz erliegt nie einem Jammern über die unterentwickelten Institutionen der „Zivilgesellschaft“ als angeblich wahres Subjekt der Demokratie, deren Effekte Selbstgefälligkeit auf der Siegerseite der neuen Machtbeziehungen im post-kommunistischen Übergang bedeuten würden. Viel eher zeigen sie, dass die liberale Option heutzutage nur von einer radikalen linken Position kritisiert werden kann, und dass diese Kritik eine der Aufgaben der radikalen Linken darstellt. Dies bedeutet auch, dass nur eine radikale Linke sie verteidigen kann.
[1] Althusser, Louis, „Das Piccolo Teatro’, Bertolazzi und Brecht,“ Alternative – Zeitschrift für Literatur und Diskussion 24, nr. 137 (1981), S. 73-86.
[2] David Riff, „Criticality or Truth?“, in: transversal 08 2006, http://eipcp.net/transversal/0806/riff/en.
[3] In einem kürzlich erschienen Artikel “A New Order. Reports from Moscow,” erklärt Ekatarina Degot, in welcher Art und Weise Chto Delat? von der jüngeren KünstlerInnengeneration wegen einer unzureichend radikalen künstlerischen Politik und wegen Opportunismus kritisiert wird: „Wenn Chto Delat? seine Hingabe zur kritischen Kunst bezeugt, setzt es wohl den Akzent auf kritisch, wohingegen junge russische KünstlerInnen als erstes Kunst hören.“ (Ekatarina Degot, Artforum, November 2010, S. 107-110). Auf der anderen Seite des Spektrums schreibt Michael Glover in einer Kritik zur Einzelausstellung von Chto Delat? am ICA, London, im Independent: „Ich hüte mich davor, diese Dinge Kunstwerke zu nennen, weil sie keine Kunstwerke sind.“ ((http://www.independent.co.uk/arts-entertainment/art/reviews/chto-delat-what-is-to-be-done-ica-london-2086845.html). [Übers. CB]
[4] Fredric Jameson, Brecht and Method, Verso, London, New York, 2000, S. 18.
[5] Darko Suvin, “Uvod u Brechta”, Školska knjiga, Zagreb, 1970, S. 275. [übers. v. CB]
[6] Dmitry Vilensky, “Chto Delat and Method: Practicing Dialectic,” in: The Great Method, 2009, http://www.chtodelat.org/images/pdfs/27_method.pdf. [übers. v. CB]
[7] Ebd. [Übers. CB]