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03 2018

Biometrische Filmbilder

Eine neue Weise, in der audiovisuelle Aufzeichnungen die Wirklichkeit berühren?

Brigitta Kuster

Wenn harraga bedeutet, die Distanz zu verbrennen, die einen Abstand, einen messbaren Zwischenraum, einen metrischen Raum generiert, dann ist dies – und insbesondere im Zuge der Deterritorialisierung und der Digitalisierung der Grenze – nicht einfach eine Frage der Topographie oder der Geographie, sondern der Zeit und der Intensität. Indem sich die harragaa uf den Weg einer Zukunft ohne Vergangenheit setzen, das Narrativ der Identität verbrennen und ihren Körper auf hohe See bringen, machen sie ihn zu einer Zone der Unbestimmtheit, offen für das Virtuelle wie ein Segel, in das der Wind fährt. Wie Attraktoren bieten sich die harraga in den von ihnen produzierten und zirkulierten Handyfilmen wieder und wieder der maschinischen Diskursivität der Kamera an. Es ist eine absolute Deterritorialisierung, die von diesen kleinen Filmen ausgedrückt wird: Harragabedeutet, sich gleichermaßen zum Geschoß machen wie schießen. Harrag-Sein ist eine Frage der absoluten Geschwindigkeit.[1]

Film gilt als ein bildgebendes Verfahren, das – etwa einen Körper – darstellt, wobei im Verlaufe dieses Darstellungsprozesses beispielsweise dessen Geschlecht entsprechend konstruiert wird, was – in Teresa de Lauretis’ Worten – sowohl das Produkt als auch den Prozess der Repräsentation umfasst. Biometrie ist dagegen ein Verfahren, das einen Körper für informatische Apparate lesbar macht, Biometrie extrahiert Informationen aus einem Körper nach einer bestimmten Mustererkennung. Die gegenwärtig zur Anwendung gebrachten biometrischen Identifikationstechnologien setzen voraus, dass Apparate eine wahrhaftigere Auskunft über die Körper zu geben vermögen als eine Körper-Person selbst, deren Selbstdarstellung entsprechend der Unaufrichtigkeit oder zumindest der mangelnden Präzision oder ganz einfach – wie etwa bei den aktuell propagierten Fingerprint- statt Passwort-Lösungen für Android-Handys oder Laptops – der Unzulänglichkeit verdächtigt werden muss.

In Zeiten intelligenter Archivsuchen und forensischer Audio- und Videoanalysen haben wir es mit einer zunächst vielleicht paradox erscheinenden ‚Rückkehr‘ der Paradigmen von Kontakt und Abdruck („image-empreinte“, Georges Didi-Huberman) zu tun.[2] Mit der Proliferation nahezu ubiquitärer, multifunktionaler Bildschirme in Wissenschaft und helllichtem Alltag statt vor allem zur freizeitlichen Zerstreuung in einer dunklen Projektionsbox sowie durch die postmediale Bedingung konvertierbarer, kleiner mobiler Medien, die content schnell und verallgemeinert transportieren können, erlebt das digital aufgezeichnete audiovisuelle Bewegtbild eine Revitalisierung seiner Zeugniskraft: Die bildtechnisch kodifizierte Indexikalität audiovisueller Dokumente wird nicht nur im explizit biometrischen Bild zunehmend zu einer Angelegenheit von juristischem Belang. Sie bezieht sich zudem explizit auf die Alltagswelten eines erweiterten Kinos oder Post-Cinema. Daher scheint mir die Frage, was ein biometrisches Filmbild „ist“ oder was es „bedeutet“, weit weniger brisant als vielmehr das Entwickeln von Rechercheperspektiven, die anhand von Konfigurationen untersuchen, wie biometrische Filmbilder funktionieren, wodurch sie sich ereignen und, vielleicht, welche Fluchtlinien sie entwerfen.

Biometrische Bilder sind rechnende Bilder. Wir tun etwas anderes mit ihnen, als sie anzuschauen. Obwohl sie nicht repräsentieren, sondern simulieren, sind sowohl in der Stimmbiometrie als auch der Verhaltensbiometrie Rückschlüsse auf das Geschlecht zentraler „operativer“ Bestandteil (gender detection). – Geht das biometrische Bild folglich trotz seiner angeblichen Neutralität und Unvoreingenommenheit einher mit einer gewichtigen Re-Ontologisierung von Zweigeschlechtlichkeit in Verwaltungskontexten?[3] Biometrische Bilder sind mathematisch erfasste und ausgewertete Bilder. In einem subtraktiven Verfahren werden aus Filmstreams (Stream statt Sequenz!) spezifische Qualitäten herausgerechnet, die dann z. B. als eine Identität oder als ein abweichendes Verhalten gelten. Lässt sich das, was aus Filmbildern herausgerechnet wird, auch wieder in diese hinein rechnen? Und was ist der Überschuss der Biometrie? Softwarelösungen wie 3VR VisionPoint™ VMS benutzen Gesichts- und Objekt-Tracking sowie Kennzeichen- und demographische Analysen, sodass Nutzer*innen Video-Datenbanken nach Farbe, Geschwindigkeit, Richtung, Größe, Alter und Geschlecht, einer Kennzeichen-Nummer oder einem Gesicht durchsuchen können.

Unser Alltags- und Unterhaltungsbereich ist zunehmend von biometrischen Filmbildern durchdrungen, von der Personenerkennungssoftware, die in Kameras im Amateur*innen- und Hobbybereich eingebaut ist, bis zur zunehmenden Videoüberwachung. Vielleicht reflektieren etwa der Boom der sog. Reaction Videos oder Erscheinungsbilder wie jenes der BBC-Fernsehserie Sherlock mit der Visualisierung von aus dem bildlichen Augenschein heraus extrahierten und für die Ermittlung jeweils relevanten Informationen als Schrift im Film eine solche biometrische Alltagsästhetik. Indem sie allerdings weniger dabei helfen, sich ein Bild von einer bestimmten Sache zu machen, sind biometrische Bilder geradezu post-ästhetisch, sie sind operative Bilder, wie Harun Farocki in seiner filmischen Auseinandersetzung mit dem Golfkrieg beobachtete, mathematisch-technische Operationen, die vollständig in prozessualen Vollzügen aufgehen. – Können sie dann überhaupt noch als Bilder gelten?

Gerade jenseits der narrativen Verarbeitung biometrischer Identifikationen und Verifikationen im Hollywood-Kino scheint mir insbesondere die alltagskulturelle Dimension biometrischer Filmbilder bisher noch unzureichend untersucht. In diesem Sinn wird es wichtig zu analysieren, wie biometrische Bilder Identitäten einerseits vermitteln und verkörpern, und andererseits, wie sie interpretiert werden, wie ihre vermeintliche Richtigkeit, Wahrhaftigkeit und Transparenz gegen Ambivalenzen und Ungewissheiten abgewogen werden. Wenn wir biometrische Filmbilder verstehen wollen, erfordert es eine genauere Analyse sowohl ihrer Entstehung und Herstellung als auch ihrer Erfahrung und Praxis in der Anwendung.

Ähnlich wie in Allan Sekulas Beschäftigung mit der Photographiegeschichte und dem Aufkommen einer kulturellen Ordnung im 19. Jahrhundert, in der der Gesellschaftskörper zunehmend durch die Identifikation von Migrant*innen und Vagabund*innen abgesichert wurde (etwa in „The Body and the Archive“ von 1986), wird es notwendig, eine Geschichte des biometrischen Filmbildes zu entwickeln. Während Sekula das aufkommende juristische Potenzial des photographischen Realismus, d. h. die dem quantitativen Paradigma zuzuschlagende denotative Eindeutigkeit, die ein Bild vermag, herausgearbeitet hat, gehe ich davon aus, dass sich der biometrische „Kontakt“ zum einen analytisch als anthropologische Konstante der Bilderzeugung als Existenzbezeugung aufgreifen lässt. Zum anderen interessiert mich eine genealogische Untersuchung der objektivistischen und in technische Neutralität gehüllten Matrix des biometrisierten Körpers im Rückgriff auf den rassialisierten und nach Zweigeschlechtlichkeit differenzierten Körper, wie er etwa in Körperabformungen für koloniale Panoramen oder in für die Geschichte der medizinischen Anthropologie so typischen Moulagen zum Tragen kam, die gerade deswegen nicht als Bilder verstanden wurden, weil sie und ihre Wirkung nicht aus der Distanz des Blicks, sondern aus der Nähe des Kontakts herrührten. In Bezug auf die Ontologie des Körpers, der, mit Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung gesprochen, jener Ort ist, wo wir (Andere) (und wie sie sehen und gesehen werden) sehen und selbst gesehen werden, ist der (biometrische) Code als audiovisueller Eindruck zugleich der Abstand, der es der Wissenschaft erlaubt, mit den Dingen zu hantieren, ohne sie zu bewohnen, wie Merleau-Ponty in seiner Kritik am „operativen“ Denken der Wissenschaften bemerkt, welches er nicht zuletzt im binären Takt kybernetischer (Kontroll-)Maschinen am Werk sah. – Eine Genealogie biometrischer Filmbilder geht entsprechend mit filmphilosophisch-phänomenologischen Überlegungen einher. – Und sie sollte nicht nur das Verbrennen mit aufnehmen, sondern unter Berücksichtigung des Verschwindens gedacht werden, von etwas, das Alexander Galloway als „Blackness“ bezeichnet, die er als Möglichkeitsbedingung kybernetischer Gesellschaften versteht.[4]

Ein Bekannter von mir, Fischer in den städtischen Außenbezirken von Dakar, der mehrfach mit dem Boot nach den Kanaren gefahren und wieder abgeschoben worden war, beschrieb mir, wie man mit grisgris die Schiffe auf dem Radar von Frontex zum Verschwinden bringt: „Wenn du dorthin gehst, dann hast du keinen Ring, keine Uhr, kein Telefon mehr, es wird alles sauber gemacht, alles lässt du zurück. So fährst du dann los. Es gibt kein Licht, kein Licht... Wenn du einen besuchst, dann macht er dir – es sind Seher, sie sagen dir, was morgen passieren wird oder was in fünf Jahren passieren wird. [...] Oder ein mara [Marabout] sagt dir, dass du heute nicht losfahren sollst, sonst wirst du nichts haben, sondern nur alles verlieren, aber ab dem morgigen Tag würdest du viele Fische fangen. Du müsstest aber dieses und jenes Opfer erbringen und so und so viel bezahlen. Sie haben etwas, man nennt es... eine Gabe Gottes. Für die Pirogen geben sie dir die grisgris, mit denen man Frontex täuscht. Frontex, das sind die Kontrolleure, aber sie werden dich nicht einmal sehen. Du wirst ihnen entkommen. Sie werden zwar in die Zone des Lärms eintreten, aber sie werden das Boot nicht ausfindig machen können, sie werden es nicht orten können. Nein, das grisgris wird ihre Maschine verfälschen. Es verzerrt ihre Maschine. Die Maschine wird zwar den Lärm anzeigen, sie wird sehen, dass da ein Motor ist, aber sie werden keine Verbindung dazu herstellen können. Nun, sie werden sich sicher sein, dass sich in diesem und jenem Bereich ein Boot mit einem eingeschalteten Motor befindet, aber sie werden nicht wissen, ob es hier oder da ist. Und da das Meer groß ist, werden sie das Boot nicht lokalisieren. Aber sobald die grisgris entfernt werden, sobald du ankommst, werden sie dich sehen, sie werden das Boot sehen. Aber solange die grisgris an der Piroge festgemacht sind, werden sie die Piroge nicht sehen. Das grisgris wird aus einer schwarzen Katze gemacht, eine wie die, die vorhin dort lag [zeigt auf die Stelle]. […] Die Marabouts machen die grisgris aus der Haut von schwarzen Katzen oder Ziegen und legen die Opfer dahinein […]. So ist das.“

Am 10.01.2017 registrierte Sachbearbeiter D. Joos aus der Organisationseinheit SB 33 der Bundespolizeidirektion Stuttgart unter dem Aktenzeichen 33 – 13 02 06 – 761500106008/Harrag eine sog. „öffentliche Zustellung“ für ein*e Person, die unter dem Namen HARRAG, El Mahfoud verzeichnet war, mit der Begründung, dass eine direkte Zustellung nicht möglich sei oder keinen Erfolg verspreche.

Wie lassen sich die Potentialitäten und Ontologien migrantischer „ana-cinematic practices“ (Fred Moten) des Entkommens in ihrem konstitutiven Anteil an der Herausbildung biometrischer postkinematographischer Konstellationen ausloten? Mit „ana-kinematographischen Praxen“ meine ich Filmpraktiken, die bereits länger als eine Art „Untersinn“ und Störung des kinematographischen Apparates bzw. als dessen Exzesse existieren, die von den Rändern kommen, die sich gegen das Primat des narrativen Films richten und buchstäblich vom Grenzübergang („harraga“) oder der Transitsituation herrühren. Migration ermöglicht eine andere Art von Kino.[5] Als Konversationsraum, als „in-act“ (Erin Manning), der nicht notwendigerweise auf ein kinematographisches Objekt zielt, folgt sie einem performativen filmischen Modus oder, anders gesagt, kinematographischen Vorgängen, die nicht mit einer überwachenden, beobachtenden Aufmerksamkeit zu tun haben. Vielmehr bestehen diese Vorgänge darin, eine ausdrucksvolle audiovisuelle Form für einen gewissermaßen unentzifferbaren Affekt zu schaffen, der, indem er versendet und geteilt wird und zirkuliert, grenzüberschreitende Mobilität produziert. Das ist es, was ich unter „mobile undercommons of migration“ verstehe. Innerhalb des Paradigmas des biometrischen Filmbilds, das von einer dystopischen Kontrolle der globalen Mobilität handelt, ist die Haptik ana-kinematographischer migrantischer Praktiken flüchtig, zwischen Code und Decodierung als kultureller Logik und maschinischer Operation.

 

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[1] Zur Bedeutung von harraga als Bezeichnung für die Flucht über das Mittelmeer sowie zu ihren audiovisuellen Ausdrucksformen vgl. Brigitta Kuster, Grenze filmen. Eine kulturwissenschaftliche Analyse audiovisueller Produktionen an den Grenzen Europas, Bielefeld: Transcript 2018 (Anm. d. Hg.).

[2] Inwiefern das Paradigma des Abdrucks, wenngleich in veränderter Form, für die aktuell entwickelten, möglichst wenig invasiven und daher kontaktlosen biometrischen Verfahren Gültigkeit hat, wäre argumentativ genauer zu klären.

[3] Vgl. hierzu auch Dean Spade, Normal Life. Administrative Violence, Critical Trans Politics, and the Limits of Law, Durham: Duke University Press 2015.

[4] Alexander R. Galloway, „The Black Universe“, in: ders., Laruelle. Against the Digital, Minneapolis: University of Minnesota Press 2014, S. 132–150; Alexander R. Galloway, „‚Black Box, Black Bloc‘. A lecture given at the New School in New York City on April 12, 2010“, http://cultureandcommunication.org/galloway/pdf/Galloway,%20Black%20Box%20Black%20Bloc,%20New%20School.pdf.

[5] Die Bewegungen der Migration werden bereits seit langem von bewegten Bildern begleitet. Mehr noch, die kinematogaphischen Praktiken der Migration können als eine spezifische Ausformung eines erweiterten Kinos verstanden werden: improvisierte, prekäre Kinomanifestationen in Gemeindezentren, diasporischen Kinoräumen, Clubs oder Privathäusern der städtischen Einwanderungsgesellschaften oder heute mehr und mehr auch als Teil des Video- und Medienaktivismus im Internet. Die Bilder der Migration umfassen Kopien, vom Weg abgekommene Zitate, Neo-Exotismen und städtische Subkulturen. Sie entstehen als Aneignungen, Cut-and-paste-Strategien, Remakes von machtvollen Erzählungen und Stereotypen und als Home Movies der Räume der Diaspora und der migrantischen sozialen Netzwerke oder auch als deregulierte Gegenstücke größerer Kino-Ökonomien, darunter etwa digitale Raubkopien und ihre analogen Vorgänger. Daher erzählen die Geschichten der Migration immer auch Geschichten von Technologien. Das neueste Zubehör für die Verbreitung, technologische Erfindungen in Verbindung mit behelfsmäßigen Konstruktionen, Reparaturen („bricolage“), Downloads, Satellitenschüsseln und billige Fernsehsender – sie alle sind Teil einer Distribution von Kino durch die und mit der Migration, die sowohl als Quelle der Bildproduktion fungiert als auch als Ort der Bilderkonsumption. Migration schafft gleichzeitig Bilder, ein neues Kino und ein Publikum. Sie spielt also eine wichtige Rolle für das, was etwa Sean Cubitt den „Cinema Effect“ genannt hat.