04 2025
Die Studierendenrevolte als letzte Rettung vor dem Abgrund
Anlässlich der Ereignisse in Serbien und der Studierendenproteste, die nun schon in den fünften Monat gehen, schreibt Boris Buden über deren Originalität und Bedeutung über nationale Grenzen hinaus. Gleichzeitig verweist er auf die Tatsache, dass das Establishment und die Mainstream-Medien sowohl im Westen als auch im Osten immer noch unsicher zu sein scheinen, welche Haltung sie zu diesen Protesten einnehmen sollen, die an die universellen Werte der Rechtsstaatlichkeit und des Funktionierens der Institutionen appellieren. „Sie wissen nicht, was sie mit den rebellischen Serb_innen machen sollen - ob sie sie unter die Fahne der Europäischen Union stellen sollen, bzw. unter das, was nach Trumps Wiederauferstehung vom Westen übrig geblieben ist, oder unter die Fahnen von Putin, China und Iran. Sie sind nicht in der Lage, an etwas anderes zu denken oder sich etwas anderes vorzustellen, weil sie sich mental bereits im Krieg befinden, und sehen die Welt ausschließlich durch das Prisma des binären Verhältnisses zwischen Freund und Feind“.
Herr Buden, Sie haben die Studierendenproteste in Serbien mit großem Interesse kommentiert und interpretiert. Ihrer Einschätzung nach handelt es sich dabei nicht nur um ein beispielloses Ereignis in Serbien, sondern auch in der modernen Geschichte Europas. Wie unterscheidet es sich von den Jugendprotesten, die wir in den vergangenen Jahren in Griechenland, Kroatien oder anderen EU-Ländern erlebt haben?
Es unterscheidet sich jedenfalls deutlich von den „farbigen Revolutionen“ in Osteuropa wie auch von der serbischen „5. Oktober“-Revolution des Jahres 2000. Heute „pumpen sich“ die Studierenden in Serbien, wie man hört, „auf“, sie werden nicht von außen aufgepumpt, wie es um 2000 zum Beispiel bei Otpor [„Widerstand“] der Fall war. Erinnern wir uns daran, wie dieses „Regimewechsel“-Projekt, vor allem als Projekt zum Sturz von Milošević, Investitionen in Höhe von Millionen von Dollar erhielt. In einer koordinierten Aktion der Geheimdienste, vor allem des CIA, westlicher philanthropischer Stiftungen und von außen finanzierter zivilgesellschaftlicher Organisationen, wurde die serbische Anti-Milošević-Opposition nach dem Rezept einer so genannten „Psyop“ ideologisch, finanziell, logistisch und medial „aufgepumpt“. Und mit dem Sturz von Milošević wurde das Ziel erreicht. Natürlich schmälert dieses Aufpumpen von außen in keiner Weise die Authentizität des demokratischen Willens und der Energie der Bürger_innen, die Otpor mobilisiert hat. Die große Mehrheit derjenigen, die damals auf die Straße gingen, tat dies im aufrichtigen Glauben an die Ideale der Demokratie und war sogar davon überzeugt, dass sie diese Ideale mit dem so genannten „Westen“ teilten. Das Problem lag natürlich in der Ideologie der „farbigen Revolutionen“ selbst, die nicht darauf abzielten, tatsächliche Widersprüche zu lösen, sondern lediglich deren Personifikationen, wie Milošević und sein Regime, zu beseitigen und durch westliche Marionetten zu ersetzen. Đinđić war sicherlich keine Marionette und war auch nicht bereit, diese Rolle zu akzeptieren, aber die Frage ist, ob er eine andere Möglichkeit hatte. Die Anführer von Otpor hingegen waren tatsächlich Marionetten des Westens und haben in Dutzenden von Ländern weltweit farbige Revolutionen „aufgepumpt“. Wir können sehen, wie sehr sie ihr Glück in Libyen, Ägypten, Syrien, dem Irak oder der Ukraine versucht haben. Und wenn Sie heute etwas erfahren wollen und auf Wikipedia gehen, werden Sie auf ein Paradoxon stoßen: Der englische Artikel über Otpor ist fast dreizehnmal so lang wie die serbische Version. Es gibt also keinen Zweifel darüber, wer Geschichte schreibt, über wen und für wen.
Was sich heute in Serbien abspielt, ist nicht Teil dieser Geschichte. Es geht nicht um Kontinuität, um einen zweiten oder besser gesagt dritten Versuch, Serbien endlich in einen demokratischen Staat zu verwandeln, egal wie überzeugt die bürgerliche Opposition davon sein mag. Die aktuellen Proteste finden nicht mehr im ideologischen Kodex des postkommunistischen Übergangs statt, in dem uns am Ende des Weges eine Art demokratische Normalität erwartet, wie sie im Westen angeblich bereits erreicht wurde - eine Fantasie der Harmonie zwischen den Klassen unter den Bedingungen eines wohlwollenden globalen Kapitalismus, der allen wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt unter Bedingungen des ewigen Friedens garantiert. Was die Studierenden dazu gebracht hat, heute in Serbien auf die Straße zu gehen, sind nicht die Illusionen einer fremden Vergangenheit, sondern die Anforderungen ihrer eigenen Zukunft, einer radikal anderen Zukunft. In diesem Sinne ähneln sie eher den Studierendenprotesten in Kroatien vor 15 Jahren oder den Protesten gegen das Regime in Bosnien-Herzegowina als den farbigen Revolutionen – in der Logik, nicht aber in den Dimensionen, wo sie alle drei bei weitem übertreffen.
In Anlehnung an den berühmten Slogan der Studierendendemonstrationen von 1968 haben Sie geschrieben, dass die Forderungen der serbischen Studierenden „unrealistisch sind, weil sie das Mögliche wollen“: die Einhaltung der bestehenden Gesetze und dass dies öffentlich geschehen soll. Nach mehr als vier Monaten der Proteste und des Beharrens auf der Erfüllung der Forderungen stellt sich die Frage, was für die Studierenden einen Sieg oder eine Enttäuschung bedeuten würde.
Ich weiß es nicht, und es scheint mir, dass das an dieser Stelle nicht wichtig ist. Die Frage ist für mich nicht, was sie enttäuschen wird, sondern vor allem, was sie in ihren Bann gezogen und all den großen Willen, die Energie und die sozial kreative Intelligenz aktiviert hat. Ich glaube nicht, dass es eines der Ideale aus dem Begriffsarsenal der herrschenden liberal-demokratischen Ideologie war, wie z.B. „Rechtsstaatlichkeit“, „freie und unabhängige Medien“, „Institutionen, die ihre Arbeit machen“ und ähnliche Phrasen, die durch dieses Projekt des unendlichen Übergangs völlig abgenutzt sind. Aber es ist auch nicht das Recht, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Dieses Recht als einziger so genannter Wert, auf den sich die Proteste explizit beziehen, ist keineswegs ideologisch neutral oder der kleinste gemeinsame Nenner des Protests, sondern im Gegenteil, es ist sein weitestes gemeinsames Ideologem – so etwas wie die letzte Bastion der liberalen bürgerlichen Ideologie. Hinter diesem Recht liegt ein Abgrund, der die Vernunft erstarren lässt, und die Vernunft ist natürlich eine historische Kategorie – die Rationalität innerhalb ihrer epochalen und lokalen Grenzen, also die Rationalität des ganz handfesten Machtwillens von jemandem, des Profits von jemandem, der skrupellosen Realpolitik von jemandem. Es ist natürlich möglich, das Recht zu respektieren. Es ist jedoch unrealistisch zu erwarten, dass dadurch eine zerfallene Gesellschaft wiederhergestellt, die Souveränität des Volks bestätigt oder die Ideale der Gerechtigkeit endlich verwirklicht werden. Und die Menschen wissen das aus eigener Erfahrung. Sie machen sich keine Illusionen über das Recht, mit dem die serbischen Kriegsverbrecher verurteilt wurden, denn sie wissen, dass sie nur verurteilt wurden, weil sie Serben sind, und nicht, weil sie Verbrecher sind. Wären sie keine Serben gewesen, hätten sie es unbeschadet überstehen können. Sie hätten nicht nur 8.000 Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren töten können, sondern auch doppelt so viele Kinder und Zehntausende von Frauen und alten Menschen; sie hätten Sarajevo in Schutt und Asche legen können und wären ungestraft geblieben, wenn sie – was nicht der Fall war – unter Schutz eines allmächtigen Souveräns gestanden hätten, der über dem Gesetz steht und der jeden zu vernichten droht, der es wagt, dieses Gesetz auf seine Vasall_innen anzuwenden. Kurzum, das Recht, auf das sich die Studierendenproteste berufen, ist kein normatives Ideal, das endlich verwirklicht wird, wenn die Opposition an die Macht kommt, sondern stellt den letzten Strohhalm der Rettung vor einem Abgrund dar, der auf seinem Grund kein Gesetz mehr hat, auch nicht das Volk als Souverän, das dieses Recht schafft und durchsetzt, und auch nicht eine Gesellschaft, deren Leben durch dieses Recht geregelt wird. Sie hat nur noch diesen einen Strohhalm, und sonst nichts mehr.
In Ihren Kommentaren kommt eine kritische Haltung gegenüber den serbischen Oppositionsparteien zum Ausdruck, die Sie als im Abseits stehend und nur auf einen günstigen Moment wartend beschreiben. In den letzten Tagen hat sich in Serbien die Diskussion darüber verschärft, ob die Studierendenproteste konkrete Ergebnisse erzielen können, wenn sie darauf bestehen, sich von allen politischen Parteien zu distanzieren. Kann es eine Demokratie ohne Institutionen geben?
Und was wäre ein konkretes Ergebnis? Welche Oppositionspolitiker_innen und -parteien werden Vučić und sein Regime ersetzen? Wer wird welches Ministerium von Korruption säubern? Welche von Vučićs Boulevardzeitungen werden sich über Nacht in seriöse Medien verwandeln, die objektive Informationen veröffentlichen, die ausschließlich auf verifizierten Fakten beruhen? Welche lokalen Oligarchen werden sich auf Kosten der Armen bereichern, und zwar ausschließlich auf der Grundlage von Gesetzen, die in erster Linie in ihrem Interesse erlassen wurden? Welches ausländische Kapital wird die Gesundheit, das Wohlergehen und den Fortschritt des serbischen Volks über den Profit stellen? Gegen wen werden Serbiens Mirage-Jets fliegen, wenn Serbien endlich der EU und der NATO beitritt – Russland, China oder Gaza? Welche Islamisten wird Serbien als Terroristen bezeichnen und welche als Freiheitskämpfer? Zu wessen Verbrechen wird es schweigen und wen wird es als grausam bezeichnen? Warum sollten sie sich heute mit diesen konkreten Fragen auseinandersetzen, wenn sie keinen Einfluss auf die Antworten haben werden? Die abstrakte Distanzierung vom gesamten parteipolitischen und parlamentarischen System ist der Kern ihres demokratischen Protests. Und diese Abstraktion ist keine Lüge, sondern eine unbestreitbare Dimension der Wahrheit, ein Ausdruck authentischer demokratischer Praxis.
Sie fragen, ob es eine Demokratie ohne Institutionen geben kann. Gibt es Institutionen ohne Demokratie? Und was ist, wenn die bestehenden politischen Institutionen ihr emanzipatorisches Potenzial ausschöpfen und ihre demokratische Legitimation erschöpfen? Wenn sie auch nur noch Latein sprechen, das die Menschen nicht mehr verstehen, weil ihr Leben und ihre konkreten Probleme eine Sprache sprechen, für die die Institutionen taub und stumm sind? Es sind die Menschen, die die Institutionen gründen oder die alten einreißen, wenn sie ihre Daseinsberechtigung aus den Augen verlieren. Was wäre, wenn der Soziologe und politische Theoretiker Peter Mair Recht hätte, der schrieb, dass die westlichen Demokratien in Wirklichkeit nur noch die Leere regieren, d.h. dass ihre politischen Institutionen bar jeden demokratischen Inhalts sind und dass die politischen Parteien, die alle gegenseitigen Differenzen ausgelöscht haben, sich nie wieder dem Volk annähern werden, das sie wählt und von dem sie sich unendlich weit entfernt haben? Was also, wenn diese Proteste der Studierenden in Serbien nicht ein weiterer Versuch sind, den alten Institutionen neues Leben einzuhauchen, sie wieder in Ordnung zu bringen, sie aufzupolieren, sondern im Gegenteil die Schaffung neuer Institutionen ankündigen? Vielleicht wollen die Studierenden nicht die Institutionen wiederherstellen, sondern die Demokratie. Denn wenn sich die Demokratie immer an die bestehenden Institutionen und Gesetze halten würde, wäre sie schon längst verschwunden.
Die Studierenden in Serbien, ihre Versammlungen und ihre Aufrufe zur Selbstorganisation der Bürger_innen scheinen von einigen Philosophen am besten verstanden worden zu sein. Abgesehen von Ihnen selbst haben sich kürzlich auch die französischen Philosophen Alain Badiou und Jacques Rancière zu den Ereignissen geäußert. Für die übrige Öffentlichkeit, die Medien und vor allem das Establishment, sowohl im Westen als auch im Osten, sind die Studierenden in Serbien keine „breaking news“. Warum ist das so?
Weil sie konzeptuell unvereinbar mit dem herrschenden ideologischen Diskurs sind, der die aktuelle politische Realität in der globalen Dimension auf einen Konflikt zwischen so genannten Demokratien und so genannten Autokratien reduziert, als ob es sich dabei, wie die alten Griechen sagen würden, um eine Gigantomachie handeln würde, einen Kampf der Giganten, der über das Schicksal der Welt entscheiden wird. Deshalb wissen sie auch nicht, was sie mit den rebellischen Serb_innen machen sollen – ob sie sie unter die Fahne der Europäischen Union oder das, was nach Trumps Auferstehung vom Westen übrig geblieben ist, oder unter die Fahnen von Putin, China und dem Iran stellen sollen. Sie sind nicht fähig, an etwas anderes zu denken oder sich etwas anderes vorzustellen, denn sie befinden sich mental bereits im Krieg und sehen die Welt ausschließlich durch das Prisma des binären Verhältnisses zwischen Freund und Feind. Aber sie sind blind für die Bedeutung dessen, was heute in Serbien geschieht, und das schließt teilweise auch die Teilnehmer_innen selbst ein, die gelegentlich verschiedene Kombinationen von Flaggen schwenken. Einmal war das zum Beispiel die ukrainische zusammen mit der palästinensischen, ein anderes Mal die palästinensische, und jetzt es ein Arrangement mit der russischen und der nordkoreanischen Flagge. Im ersten Fall geht es um die Illusion der Möglichkeit, eine unpolitische und unideologische Position der reinen Solidarität mit den Opfern einzunehmen, so als wären wir in einem Gerichtssaal und wir die Geschworenen, während sie, die Täter_innen, auf der Anklagebank sitzen. Tatsächlich aber befinden wir uns in einer politischen Realität, in der diejenigen, die ukrainische Fahnen schwenken, politisch und militärisch gleichzeitig den Völkermord an den Palästinenser_innen unterstützen. Genauso wie diejenigen, die von einer Einheitsfront gegen den westlichen Imperialismus fantasieren, vergessen, dass ihr Putin ein großer Bewunderer von Netanjahu ist, der am liebsten mit seinen Gegner_innen so verfahren würde wie mit den Palästinenser_innen. Deshalb lehnen die Studierenden die Flaggen zu Recht ab, vielleicht sogar in einem viel tieferen Sinne. Vielleicht spüren sie, dass Nationalflaggen keine Buchstaben des Alphabets mehr sind, mit denen man noch Texte über Freiheit, Gerechtigkeit und Emanzipation schreiben kann. Wenn Sie mich fragen, würde ich auch die letzte, die serbische Flagge, abschaffen. Wenn sie keine „farbigen Revolutionäre“ sind, brauchen sie auch kein farbiges Tuch über ihren Köpfen.
Meinen Sie damit, dass es auch ganz praktische Gründe geben könnte, die Augen vor den Ereignissen in Serbien zu verschließen? Auf die Frage, was aus deutscher Sicht in Serbien am sichtbarsten ist, antworten Sie: „Aus Berliner Sicht ist in Serbien nichts zu sehen, außer Lithium natürlich“.
Deutschland ist nicht mehr das, was es einmal war, eine Art real existierende Utopie; ein Ort, an dem die Ideale des kapitalistischen Fortschritts und der Demokratie in einem sogenannten „geordneten Staat“ verwirklicht wurden – eine Phrase, die die bürgerlichen Eliten in ihrem Projekt, ein „unvollendetes“ Serbien endlich zu vollenden, unermüdlich wiederholen. Sie erinnern uns an die von Danilo Bata Stojković dargestellte germanophile Figur in Šijans „Who's Singin' Over There?“ – Welches Problem auch immer auf der Straße auftaucht – er hat eine Lösung: Deutschland, wo Ordnung herrscht, wo Regeln eingehalten werden und wo, um noch einmal die Lieblingsfloskel unserer autoritären Eliten zu wiederholen, „Institutionen ihre Arbeit machen“. Diese Parodie ist nicht spezifisch für Serbien, sie findet sich bei allen Menschen auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien. Damals wie heute hat dieses Ideal jedoch einen dunklen Unterton. Was Olaf Scholz nach der russischen Aggression gegen die Ukraine verkündete – „Zeitenwende!“ – ist nichts anderes als die Ankündigung eines schleichenden Ausnahmezustands, der sich in den letzten Tagen bestätigte, als der Deutsche Bundestag in seiner alten Zusammensetzung eilig für eine massive Kreditaufnahme für Investitionen stimmte, sowohl für den Wiederaufbau der Infrastruktur als auch in erster Linie für die Wiederbewaffnung Deutschlands. Eine weitere Phrase, mit der die deutsche Staatspolitik heute ihre pathologischen Widersprüche legitimiert, ist die machiavellistische „Staatsräson“, die einen Euphemismus für die totale Willkür politischer Entscheidungen jenseits aller moralischen Grundsätze oder völkerrechtlichen Normen darstellt. Warum schwört Deutschland auf die Unverletzlichkeit der Grenzen und die territoriale Integrität souveräner Staaten, wie es in der Ukraine der Fall ist, während es gleichzeitig dieselben Grundsätze mit Füßen tritt, wenn es um Israel geht? Warum predigt es Menschenrechte und unterstützt gleichzeitig Völkermord? Warum leistet es politische und finanzielle Unterstützung für islamische Extremisten in Syrien, während diese das alevitische Volk massakrieren? Warum sagt Deutschland das eine und tut das andere? Die Antwort würde sich nicht von der eines zynischen Straßenrowdys unterscheiden: „Weil ich es kann“, was die wahre und einzige Wahrheit dieser „Logik des Staatsinteresses“ ist. Letztlich gibt es heute mehr Demokratie auf den Straßen Serbiens als im deutschen Bundestag.
Die serbischen Behörden reagieren auf die Proteste mit dem Vorwurf, es handele sich um eine importierte Rebellion, die Serbien destabilisiere. Passt das Modell der „farbigen Revolution“ in Serbien in ein geopolitisches Konzept?
Was aber ist Geopolitik? Sie ist weder eine neutrale Teildisziplin der objektiven Politikwissenschaft, noch ist sie einfach eine globale Perspektive auf die politische Realität. Die Geopolitik ist selbst eine Ideologie par excellence. Deshalb sind wir als Subjekte, die selbst über ihr Schicksal entscheiden, nicht in sie einbezogen. Denn alles wird von großen geopolitischen Akteuren wie Trump, Putin, dem Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas, den europäischen bürokratischen Eliten, den Petrodollar-Scheichen usw. entschieden. Es ist, als wären wir Schafe in ihren Ställen, die nicht wissen, welches geschoren und welches geschlachtet werden soll und welches weiter grasen darf. Deshalb ist es auch völlig logisch, dass die serbischen Studierendenproteste aus geopolitischer Sicht völlig unsichtbar sind. Wie gesagt, keiner der genannten Akteur_innen hat sie künstlich aufgepumpt, und wie können sie es wagen, sich selbst aufzupumpen? Wir werden sehen, ob es ihnen verziehen wird.
Sie sehen die Proteste in Serbien als eine Herausforderung für die liberale Demokratie. Sie schreiben: „Die Welt, wie sie heute ist, ist kein Ort mehr zum Leben, sondern eine Bedrohung für das Leben selbst. […] Sie (die Studierenden) haben keine Wahl. Entweder werden sie die Welt, in die wir sie geworfen haben, radikal verändern, oder es wird sie nicht geben“. Sollte eine Bewegung von Studierenden und Bürger_innen in einem Land an der Peripherie Europas glauben, dass sie die Welt verändern kann - obwohl dies in den viel weiter entwickelten und demokratischeren Ländern des Westens noch nicht gelungen ist?
Die Marginalität oder das Provinzielle ist kein Schicksal, sondern ein Klassenverhältnis. Die erste Lektion haben die Schüler_innen bereits gelernt, während sie die zweite Lektion mit professioneller Hilfe von Rio Tinto und der Europäischen Union gerade meistern. Inzwischen haben sie auch erkannt, dass es keinen Sinn mehr macht, das Leben aufzuschieben. Sie wollen einfach nicht das Schicksal ihrer Eltern wiederholen, die ihr Leben damit vergeudet haben, einem vermeintlich echten, authentischen Leben nachzuweinen, ihm hinterher zu laufen, sich dafür anzupassen oder es zu imitieren, ein Leben, das von anderen, besseren Menschen gelebt wird und das immer irgendwo anders ist, nämlich in den, wie Sie es ausdrücken, „viel weiter entwickelten und demokratischen Ländern des Westens“. Das ist auch der Grund, warum sie auf die Straße gegangen sind: um ihren Eltern beizubringen, was das Leben ist und wie es im Einklang mit der Menschenwürde gelebt werden sollte.
published in: CorD Magazine no. 246, April 2025
https://cordmagazine.com/interview/boris-buden-philosopher-and-publicist-student-rebellion-the-last-lifeline-above-the-abyss/