04 2025
Streik, Widerstand, Boykott - Die aktuellen Proteste in der Türkei
Die neueste Protestbewegung in der Türkei entstand in Reaktion auf die Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoğlu durch Erdoğans Schergen am 19. März. Die Festnahme kam eigentlich nicht überraschend: Imamoğlu gilt als aussichtsreichster Gegenkandidat zu Erdoğan bei anstehenden Präsidentschaftswahlen. Gegen ihn liefen schon zahlreiche politische Verfahren. Mitte März war eigentlich auch ein sehr guter Zeitpunkt: Die USA unter Trump sind sowieso pro-Erdoğan eingestellt und sogar Portale wie Euractiv oder Politico berichten darüber, dass Erdoğan nicht viel von der EU zu fürchten hatte – man braucht nämlich die türkische Rüstungsindustrie und türkische Truppen im Zuge der Aufrüstung der EU, und potenziell als „Friedenstruppen“ in der Ukraine. Den Kampf „Demokratie gegen Autoritarismus“ gibt es eben nur gegen Putin. Aber auch innenpolitisch war es eine günstige Zeit: Es laufen Verhandlungen mit der PKK; die nächsten Wahlen stehen erst in zwei, drei Jahren an.
Das wirklich Überraschende war daher auch etwas anderes, nämlich die breite Reaktion gegen den „Putsch vom 19. März“, wie er mittlerweile in Oppositionskreisen genannt wird. In kürzester Zeit entstand die größte Massenbewegung in der Türkei seit den Gezi-Aufständen im Sommer 2013; Hunderttausende gingen täglich auf die Straßen und forderten alles Mögliche: den Rücktritt Erdoğans und der Regierung, die Freilassung Imamoğlus, vorgezogene Neuwahlen. Wie war das möglich? Und was hält die Dynamik am Laufen?
Zwischen dem Katheder und der Straße
Ginge es nach der Hauptoppositionspartei in der Türkei, der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP), der auch Imamoğlu angehört, wären die Proteste vermutlich relativ schnell abgeebbt. Seit zwei Jahrzehnten betreibt die CHP Opposition in einer stets zum Scheitern verurteilten Form: ein paar entrüstete Reden, die Anrufung der Gerichte, vielleicht 1-2 von der CHP kontrollierte Kundgebungen, ein bisschen Nationalismus – dann Warten auf die nächsten Wahlen. Basta.
So wäre es sicher auch diesmal gelaufen. Ursprünglich hatte die CHP zu Demonstrationen vor dem Istanbuler Rathaus und im angrenzenden Saraçhane-Park aufgerufen. Aber die Menschen in der Türkei, angeführt von der Jugend und den Studierenden, hielten sich nicht an Verbote, Ermahnungen oder Grenzen. Bereits am 19. März mobilisierten zehntausende Studierende fast aller öffentlichen Elite-Universitäten des Landes – von ODTÜ und Bilkent in Ankara bis zu Boğaziçi, Marmara, der Istanbul Universität und der Technischen Universität in Istanbul – angeführt von linksrevolutionären Jugendorganisationen zu unabhängigen Demonstrationszügen und Kundgebungen, oft ausgehend von ihren jeweiligen Campussen. Und dies seit dem 19. März tagaus, tagein. Gleichzeitig mobilisierten sich Jugendliche mit diffus-nationalistischen Überzeugungen – teils eigeninitiativ, teils unter der Führung rechtsextremer nationalistischer Gruppen – ebenfalls in Zehntausenden, Tag für Tag. Überall im Land, von konservativen Hochburgen in Zentralanatolien bis hin zu den ebenfalls konservativen Küstenregionen am Schwarzen Meer, formierten sich teils spontane, teils von lokalen CHP-Abteilungen organisierte Demonstrationszüge. In Istanbul breiteten sich die Proteste schließlich in verschiedene Stadtviertel aus, etwa in Kadıköy, wo zehntausende Menschen ihre Stimmen erhoben – parallel zur täglichen Hauptkundgebung am Rathaus.
Einmal mehr avancierte die Jugend zur Speerspitze des popularen Aufstands, trieb diesen über sich hinaus und entfesselte eine in alle Richtungen sich verästelnde soziale Kreativität und Energie. Die Demonstrationen trugen wieder die karnevalesken Züge, die wir von Gezi kennen: Banner mit augenzwinkernden Slogans wie „Liebe Polizei, bitte kein Tränengas – mein Mascara geht kaputt“; IT-Studierende, die versuchen, Erdoğan per Funktionsgleichungen zu widerlegen; und Menschen, die als Pikachu verkleidet in der ersten Reihe mitlaufen. Da ist ein Demonstrant, der unter den Strahlen von Wasserwerfern einen Fisch nachahmt, während die harten Jungs in einem Wettstreit um die meisten Liegestützen vor der hochgerüsteten Polizeireihe antreten, und verliebte Paare sich direkt vor der Polizeikette zärtlich ihre Heiratsanträge zuflüstern. Inmitten von Tränengas tanzt ein Derwisch in Gasmaske seinen sufistischen Semazen, während kollektive Volkstänze, Chöre, das Klopfen von Töpfen und hupende Autos das vielstimmige Lied des Aufstands untermalen – das ist das Mosaik des Widerstands, das sich Tag für Tag neu erschuf.
Die CHP hat diesen aufbrausenden Strom der Massenproteste nicht selbst entfacht – und sie konnte ihn auch nicht mühelos in ihre Bahnen lenken. Doch diesmal schafften die Jugendlichen etwas, das meiner Generation während der Gezi-Aufstände im Sommer 2013 verwehrt blieb: Nach anfänglichem Zögern öffnete sich die Führung der CHP der Dynamik der Straße. Özgür Özel, der Vorsitzende, rief dazu auf, Polizeibarrikaden zu überwinden und drohte, mit einem Marsch auf den symbolträchtigen Taksim-Platz zu ziehen, sollte die Polizeigewalt nicht nachlassen.
Eine weitere bedeutende Errungenschaft der Mobilisierungen hängt unmittelbar damit zusammen. Erdoğan hat sich zumindest kurzfristig verkalkuliert; mit einer solch gewaltigen Massenreaktion haben er und seine Schergen nicht gerechnet. Sie gingen vielmehr davon aus, dass sich der Widerstand auf die CHP und einige Kundgebungen vor dem Istanbuler Rathaus beschränken würde – eine Annahme, die angesichts der bisherigen Widerstandskraft der CHP gar nicht so abwegig schien. Doch diesmal ging diese Rechnung nicht auf. Wut und Empörung, vor allem der oppositionellen Teile der Bevölkerung und der perspektivlosen Jugend, entluden sich in einer Massendynamik, in der sich der kollektive Unmut unaufhaltsam überschlug, manifestierte, reproduzierte, konkretisierte. Welcher Tropfen das Fass in solchen historischen Momenten zum Überlaufen bringt, ist von Natur aus unvorhersehbar – eine fundamentale Eigenschaft von Massen-„Ereignissen“, wie wir sie heute in der Türkei erleben. So ähnlich war es ja auch beim Gezi-Aufstand von 2013.
Ohne diese mobilisierende und um sich greifende Massendynamik wäre der Zorn zusammengeschrumpft zu atomisiertem Frust, Depolitisierung und Apathie – wie es in der Vergangenheit oft der Fall war. Hätte die CHP lediglich symbolisch protestiert und einen Anlauf zum Verfassungsgericht unternommen, genau das wäre dabei herausgekommen. Doch die Bewegung hat – wenn auch in kleinerem Maßstab – wahre Berge versetzt. Erdoğan musste gleich zwei Vorhaben zurückziehen: Einen von ihm kontrollierten Zwangsverwalter mit Verfügung über die Istanbuler Stadtverwaltung, und einen mit Verfügung über die ganze CHP als Partei einzusetzen.
Darüber hinaus zeigt sich eine dritte unmittelbare Errungenschaft dieser Massendynamik: Sie hat einen Meinungsumschwung manifestiert. In der Türkei sind die Ergebnisse von Wahlen nahezu sakrosankt – ein Umstand, der aus demokratietheoretischer Sicht problematisch ist, denn eine bürgerliche Demokratie besteht nicht allein aus Wahlen, sondern auch aus Gewaltenteilung, Grundrechten und ähnlichen Institutionen. Überhaupt sollte Demokratie viel mehr sein als eine bürgerlicher Demokratie. Aber sogar die Elemente bürgerlicher Demokratie sind in der Türkei entweder stark geschwächt oder existieren nur noch in verkümmerter Form; die Wahlen sind nicht fair und auch oft nicht wirklich frei. Trotzdem: Erdoğan mag tun, was er will – sein Handeln hängt letztlich von seiner elektoral abgesicherten Position ab. Zwar arbeiten Erdoğan und seine Gefolgsleute aktiv mit illegitimen und unfairen Mitteln daran, die Wahlergebnisse in ihrem Sinne zu beeinflussen, doch trotz all der Repression und Unfairness gelingt ihm dies nicht immer.
Die Missachtung von Wahlergebnissen löst auch nicht überall gleichermaßen Empörung aus. In den kurdischen Regionen etwa werden die Resultate seit langem mit Füßen getreten – ein Umstand, der im übrigen Teil der Türkei oft nur mit lauwarmem Interesse wahrgenommen wird. Für die Kurd*innen hingegen hat dies eine grundlegende Bedeutung; hier verläuft die „racial line“ des Lands. Doch es gibt Momente, in denen Wahlbetrug oder das Ignorieren von Wahlergebnissen auch jenseits dieser Linie für heftige Empörung sorgen – insbesondere in Istanbul.
Bereits bei den Lokalwahlen am 31. März 2019 scheiterte der Versuch, den Sieg von Imamoğlu durch den Einsatz der politischen Justiz zu unterdrücken. Bei der Wiederholung der Wahl in Istanbul am 23. Juni 2019 errang Imamoğlu einen überwältigenden Vorsprung. Bei den Lokalwahlen 2024 wuchs Imamoğlus Vorsprung noch mehr.
Angesichts dieser Umstände war es von Anfang an ein riskantes Unterfangen gewesen, einen solch deutlichen Wahlsieg gewaltsam unterdrücken zu wollen. Doch die Dynamik auf der Straße trug den kollektiven Zorn weit über die Protestierenden hinaus und manifestierte sich als ein massives Bewusstsein für Unrecht und den legitimen Widerstand. Alle bisherigen Umfragen sind eindeutig in dieser Hinsicht: Eine ganz große Mehrheit der Bevölkerung findet die Proteste legitim, die Verhaftungen hingegen ungerecht; eine große Mehrheit verlangt zudem vorgezogene Neuwahlen.
Streik, Boykott, Widerstand!
Die wahre Herausforderung beginnt jetzt: Es wird darauf ankommen, das Mobilisierungsniveau nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern es weiter auszubauen. Erdoğan zwingt man nicht in zwei Wochen in die Knie, außerdem schläft er nicht: Prompt entfesselt er überall die Macht der von ihm kontrollierten politischen Justiz und droht den „Straßenterroristen“ mit Gewalt und Repression; zudem hat er die Feiertage um das Zuckerfest um fast eine ganze Woche verlängert, um ein Abebben der Aufstandsdynamik herbeizuführen. Ohne anhaltende Präsenz auf den Straßen droht die Einschüchterungsmacht des Repressionsapparats ungebrochen zu bleiben, während zugleich der Mut der Menschen und ihr Empfinden für das Unrecht allmählich verblassen könnten. Deshalb braucht es neue, kreative Protest- und Aktionsformen, die über symbolische Gesten hinausgehen und konkrete politische Wirkung entfalten; dabei aber zugleich neue Energie einbringen und neues Potenzial entfesseln.
In diesem Sinne ist der Vorstoß der CHP, eine landesweite Unterschriftenkampagne für Neuwahlen zu starten, eine gute Idee. Ziel ist es, mehr Unterschriften zu sammeln, als Erdoğan bei der letzten Präsidentschaftswahl Stimmen erhalten hat – also etwa 27 Millionen. Die ersten Schritte in diese Richtung sind bereits getan: Mit spontan einberufenen Solidaritätsurnen konnte sie landesweit 15 Millionen für Imamoğlu als Präsidentschaftskandidat erringen. 27 Millionen sind eine ehrgeizige, aber möglicherweise transformative Schwelle. Gelingt es, eine solche Masse zu mobilisieren, würde der Druck auf Erdoğan gewaltig steigen. In Kombination mit anhaltenden Demonstrationen wäre selbst für Erdoğan und seine Entourage eine vollständige Niederschlagung der Bewegung kaum noch realistisch.
In diesem Kontext ist der 1. Mai ein Marker: Ein Demonstrationszug zum geschichtsträchtigen Taksim-Platz, wo auch der Gezi-Aufstand 2013 begann, muss spätestens dann stattfinden, begleitet von Protesten in der gesamten Türkei. In der Zwischenzeit könnten regelmäßig Großkundgebungen organisiert oder auf einzelne Stadtviertel verteilte Proteste abgehalten werden. Die CHP scheint diesen Ansatz zumindest in Ansätzen zu verfolgen – wenn auch in vorsichtiger Dosierung: Jeden Mittwoch eine Kundgebung in einem Istanbuler Stadtteil, jedes Wochenende eine größere Versammlung in wechselnden Städten. Doch allein damit wird es nicht getan sein.
Parallel dazu verstärken wirtschaftliche Boykottmaßnahmen die Mobilisierung. Die CHP hatte zuerst zum durchgehenden Boykott von regierungsnahen Unternehmen aufgerufen. Die Studierenden hingegen schauten sich um und wurden fündig bei den Kämpfen in Serbien. Setzen sich eine Handvoll Studierender real oder virtuell zusammen und diskutieren einen landesweiten Boykott in normalen Zeiten, dann passiert nichts. In außergewöhnlichen Zeiten hingegen sprühen die Funken nur so durch die Gegend und plötzlich kann es zu einem sozialen Feuerwerk kommen. Erneut wurden daher die Studierenden zum Motor der Ausweitung einer Kampfmaßnahme, des Boykotts, auch über den Kreis von regierungsnahen Unternehmen hinaus. Schließlich profitierten die größten Kapitalist*innen der Türkei am meisten vom Neoliberalismus der AKP-Ära, auch wenn sie heute white washing betreiben, indem sie sich auf die Seite der Demokratisierung stellen. Warum sich also auf einen Kulturkampf einlassen, fragt zurecht die Urbanistin Aslı Odman, der auf dem Antagonismus zwischen „bösen“ konservativen Kapitalist*innen und „guten“ progressiven Kapitalist*innen aufbaut? Beide haben schließlich Teil an der Ausbeutung der Arbeitskraft und kolonisieren soziale Lebensmuster. Also General-Boykott!
Und in der Tat: Der erste General-Konsumboykott wurde am 2. April durchgeführt, ohne dass er davor geplant oder zentral koordiniert wurde. Auch hier besticht der Widerstand nicht nur durch die Negation des Bestehenden, sondern auch durch das Erblühen alternativer Praktiken: In spontanen Boykott-Cafés und Tauschbazaren trafen sich Menschen am Boykotttag zu alternativen Formen des Miteinanders jenseits der Warenbeziehungen, und diesseits der gemeinschaftlichen Rückeroberung von Öffentlichkeit und Gesellschaft. Boykott heißt nicht Rückzug ins Individuelle und Private, sondern Raus in die Gesellschaft – konnte man oft lesen und hören. Warum nicht in Zukunft auch Boykott-Restaurants, Boykott-Bars, Boykott-Konzerte auf den Straßen, an Ecken, in Parks und auf Plätzen? Ein Generalstreik scheint zwar schwierig durchzuführen; aber Streiks an Bildungseinrichtungen und vielleicht auch in Sektoren, in denen Gewerkschaften und die Linke stärker organisiert sind, wären sehr starke Mittel, um den Protest von der Produktionsseite her zu radikalisieren. Auch hier sind die Studierenden Vorreiter*innen: Sie bestreiken schon jetzt durchgehend die Universitäten. Das akademische Personal und ihre gewerkschaftlichen Vertreter*innen schließen sich dem an.
Die derzeitigen Proteste in der Türkei sind also vielfältig, kreativ, spontan und organisiert zugleich. Gerade darin besteht ihr Reichtum und ihre Schlagkraft. Ohne eine Verdichtung oppositioneller Kräfte werden die Proteste den institutionellen Panzer Erdoğans und die Reste seiner Hegemonie nicht sprengen können; ohne das Mosaik der vielgestaltigen sozialen Dynamik keinen Zauber, kein Charme entwickeln, den es nicht nur für die breite Popularisierung der derzeitigen Dynamik braucht, sondern vor allem für die Schaffung einer grundlegend anderen Vision von Gesellschaft. Beides wird man brauchen – um Erdoğan zu stürzen, und das ist realistisch und möglich; aber auch, um das Fundament einer ganz anderen Türkei zu schaffen.