03 2000
Süßstoffland ist abgebrannt. Österreich im Zeitalter des Zuckers
Eine Replik auf Slavoj Žižek
"Diese politische Wahl - Sozialdemokraten oder Christdemokraten
in Deutschland, Demokraten oder Republikaner ... - erinnert
uns zwangsläufig an das Dilemma, wenn wir in einer amerikanischen
Cafeteria Süßstoff verlangen: Überall gibt
es nur die Alternative zwischen Nutra-Sweet und Sweet and
Low, zwischen blauen und roten Tütchen. Und jede(r) hat
die eine oder andere Vorliebe (vermeide die roten, sie enthalten
krebserregende Substanzen oder vice versa), wobei dieses lächerliche
Festhalten an der eigenen Wahl die völlige Bedeutungslosigkeit
der Alternative betont" (Slavoj Žižek in: "Warum
lieben wir es alle, Haider zu hassen?").
Hier am phantasmagorischen Zentrum der Kaffeekultur, hier
in Wien, ist noch immer Zucker angesagt. Nicht immer freiwillig,
aber nahezu ohne Alternative. Du bestellst eine Melange mit
Süßstoff; serviert wird ein Kaffee mit Zucker.
Du urgierst, du hättest Süßstoff bestellt;
die Antwort ist: "Ja, bitte vielmals um Entschuldigung,
bring ich gleich." Nach weiteren fünf Minuten beeilst
du dich, den Zucker in deinen Kaffee zu werfen, damit er -
nun nicht wegen des Zuckerersatzes, sondern wegen der zunehmenden
Abnahme der Wärme - nicht ungenießbar wird. Das
ist, ich schwör's, kein Einzelfall: Vielfältige
Empirie meinerseits und meiner Umgebung legt nahe, dass, soviel
und welcher Süßstoff auch bestellt wird, fast immer
nur Zucker serviert wird.
Es gibt Menschen, die die Grundlage dieses Phänomens
in der Struktur der Denkschemata von professionellen KellnerInnen
suchen, die angeblich das Wort Süßstoff oder das
hier gebräuchliche Synonym Kandisin nicht in ähnlicher
Weise im "Programm" haben wie etwa die Melange,
den kleinen Braunen oder die Sachertorte. Das sei in der jahrhundertelangen
Tradition der Kaffeehäuser einfach ein bisschen zu progressiv.
Andere meinen wiederum, dass es eine gefinkelte kleinkapitalistische
und Suchtmittel verbreitende Taktik sei, bei der Bestellung
von Verlängerten automatisch - und auch gegen die Regeln
der Zubereitung der Wiener Melange - Schlagobers einzusetzen,
bei der Bestellung von Kandisin automatisch Zucker. Das wolle
der Kunde so, weil er seine Erfüllung jenseits der vorgeschriebenen
Moden spartanischer Zurückhaltung doch im süßen
Glück suche.
So sicher wie die Wiener KellnerInnen mir den Kaffee als Zwangsmaßnahme
nur mit Zucker servieren und auch davon ausgehen, dass das
dem unbewussten Subcode der Bestellung des Kunden entspricht,
so mündete die intellektuelle Herbeiwünscherei der
"Wende" in Österreich geradezu zwangsläufig
in einen conservative turn, in die Machtübernahme der
extremen Rechten unter der beschwichtigenden Decke mit den
"Christlich"-"Sozialen" und damit erst
in die wahre Wahllosigkeit. Es gibt keinen Pluralismus von
einander sehr ähnlichen Möglichkeiten mehr, eine
angeblich bedeutungslose Alternative zwischen blauen und roten
Sackerln, sondern - spätestens aufgrund der Festlegung
eines konservativen Parteichefs - nur eine einzige Variante:
die taktisch motivierte "Normalisierung" der rechtsextremen
FPÖ durch die "christlich"-"soziale"
ÖVP. Selbst und gerade wenn ich noch so stark für
oder gegen Natreen, Saccharin oder deren Ununterscheidbarkeit
auftrete, ich entkomme dem Zucker nicht: Die FPÖ ist
an der Regierung, Österreich die Avantgarde Europas,
die die Exklusion der extremen Rechten aus den Regierungen
aufhebt und damit möglicherweise einen Dammbruch zu ungekannten
Formen politischen Extremismus in Europa, sicher aber die
beschleunigte Forcierung neoliberaler, kontrollgesellschaftlicher
Mechanismen vorbedingt.
Der Topos von der vorgetäuschten Wahlmöglichkeit
zwischen zwei ununterscheidbaren Übeln begleitete die
globale Hausse des Neoliberalismus durch die 90er Jahre. Vom
Bestandteil einer Kritik am Rechtsruck der Sozialdemokratie
(von Blair bis Schröder und hierzulande Vranitzky und
Klima) entwickelte er sich mit den Jahren allerdings mehr
und mehr zu einer neuen Hülle für alte Hüte:
Gemeinplätze und Kulturpessimismen, die alle möglichen
Diskurse zu übernehmen und ihren Zwecken anzupassen im
Stande waren.
In der trashigen Welt der Simpsons klingt das anno 1996 so:
Während des Präsidentschafts-Wahlkampfes werden
Bill Clinton und Bob Dole von Aliens entführt, in unappetitlichen
Flüssigkeiten konserviert und durch Außerirdische
substituiert. Homer Simpson leidet unter schlechtem Gewissen,
weil er die Aliens auf die Fährte von Clinton und Dole
gebracht hat, und versucht die Welt zu retten, indem er sie
über die Fälschung der Kandidaten aufklärt.
Aber "Kang" und "Codos", die zwei quasi-identischen
Außerirdischen in den Hüllen von Clinton und Dole,
verlachen selbst nach erfolgter Demaskierung ihre WählerInnen
und ganz besonders die bloße Denkmöglichkeit eines
Dritten.
Wenn Slavoj Žižek diesen Topos aufgreift, das Dritte
(mit seinen Worten "die neue populistische Rechte")
im Gegensatz zur Simpson-Story jedoch als konstituierend für
die liberale Hegemonie und die durch sie vorgetäuschte
Wahl bezeichnet, dann ist zunächst auf die Differenz
zwischen dem US-amerikanischen Zweiparteien-System und der
Mehrparteien-Situation in den meisten europäischen Staaten
hinzuweisen. Zweitens ist es gerade in Österreich nach
ein paar Monaten schwarzblauer Regierung schon nachvollziehbar,
wie einschneidend die politischen Auswirkungen des staatlichen
Rechtsrucks auf die Gesellschaft sind, wie strategisch sinnvoll
daher der Ausschluss der extremen Rechten ex post erscheinen,
wie sehr Žižeks Argumentation andererseits partikulare
Analyse ohne Konsequenz bleiben muss. Und drittens, und das
hat bei Žižek Methode, klammert er jede politische
Praxis (und Theorie) jenseits eines eng verstandenen Politikbegriffs
aus, dessen Extension in seinen Überlegungen auf die
Grenzen der repräsentativen Demokratie beschränkt
ist. Diese Fixierung auf staatliche und parteipolitische Institutionen
verstellt den Blick auf andere Konzepte des Politischen, das
etwa bei Claude Lefort weit über die Institutionen von
Staat und Parteien hinausgeht und sich auf eine (relativ)
autonome Zivilgesellschaft ausdehnt, die auf der Grundlage
von Konflikten Macht über sich selbst ausübt und
die Stelle der Macht gleichzeitig symbolisch leer hält.
Nun ist Žižeks verengte Argumentation aber durchaus
gerade für österreichische Ohren nichts Ungewohntes.
In Österreich haben über Monate vor und nach den
Nationalratswahlen im Oktober 1999 Medien und Intellektuelle
die Wende getrommelt, und zwar aus sehr verschiedenen Beweggründen
und mit sehr verschiedenen Argumenten. Gemeinsam war ihnen
die Ausgangsposition ihrer Kritik, die unechte Wahlfreiheit
im verwaschenen Brei der neuen, leeren Mitte, nicht aber die
Schlüsse und strategischen Vorschläge, die sie den
erstarrten Verhältnissen entgegensetzten. Um mit dem
Erfreulicheren zu beginnen: Beim politischen Theoretiker Oliver
Marchart heißt Kritik am neokorporatistischen Staat
zunächst auch die Kritik an staatlicher Verordnung, bürokratischer
Verwaltung und sozialpartnerschaftlicher Verhandlung. Der
entscheidende Kick an Marcharts Argumentation in seinem Buch
Das Ende des Josephinismus ist aber das, was er dagegensetzt
- in Anlehnung an Lefort und Laclau/Mouffe -: mitnichten eine
alternative Konstellation von politischen Parteien an der
Regierung, sondern eine agonale politische Öffentlichkeit
und die (Selbst-)Aufklärung und Emanzipation der Zivilgesellschaft
qua Konflikt. Politik heißt dann schlicht Antagonismus
und der Umgang mit der fundamental antagonistischen Verfasstheit
von Gesellschaft. Marcharts Adressat ist nicht der zu reformierende
Staat oder das System der repräsentativen Demokratie,
sondern eine repolitisierte, vernetzte "freie Opposition".
Und es versteht sich von selbst, dass diese Opposition und
ihre Organisationsformen über die engen Grenzen der Staatlichkeit
hinaus immer transnational verstanden werden wollen, wie im
Derridaschen Konzept einer "Neuen Internationalen";
oder in Bourdieus Forderung nach einer Vernetzung der sozialen
Bewegungen, nach der Einberufung von Generalständen der
sozialen Bewegungen in Europa mit dem Ziel, eine internationale
Struktur zu schaffen, die alle möglichen organisatorischen
und intellektuellen Formen des Widerstandes gegen die neoliberale
Politik bündelt.
Wo diese alternativen Denk-Möglichkeiten nicht genannt
wurden, da verschwamm die Kritik der österreichischen
Medienintellektuellen an den Ausformungen der sozialpartnerschaftlich
dominierten Koalition mit dem Herbeireden einer (nationalen)
"Erneuerung", die aufgrund der Kräfteverhältnisse
des österreichischen Parteiensystems groteskerweise nur
eine konservative Restauration sein konnte. Denn schon vor
den Wahlen war klar: Da es kaum Chancen für eine Mehrheit
links der Mitte gab, war die Alternative zur alten SPÖ-ÖVP-Koalition
schlicht und einfach eine Regierungsbeteiligung der rechtsextremen
FPÖ.
Nicht für Robert Menasse, seit langem Kritiker der Sozialpartnerschaft
("ein undemokratisches, das Parlament entmachtendes,
die Verfassung unterlaufendes System mit einem Hang zur infantilen
Selbstdarstellung"), seit kürzerem auch Wendefanatiker
("Es ist die Frage, ob es so eine große Katastrophe
für Österreich wäre, wenn Haider Kanzler wird.
Es wäre immerhin ein Wechsel ...", Der Standard,
13. 9. 1999). Menasse errechnete noch am Tag vor der Wahl,
also am 2. Oktober, eine Mehrheit der Wendebefürworter
und präsentierte als Alternative die Ampel-Formation
ÖVP, Grüne, LIF. Post festum wissen wir, dass nach
dem Herausfallen der Liberalen grade noch 34 Prozent der Stimmen
für diese Variante verblieben. Neben einer wahrlich fiktiven
Ministerliste für seine Lieblingskonstellation lancierte
Menasse auch die denkwürdige - wenn auch damals noch
konjunktivische - Bemerkung: "Ein Kanzler Schüssel
stünde für seriöse Kontinuität ..."
Und weil im Jänner immer noch keine Wende herbeigeführt
war, half der Autor noch einmal nach, bezeichnete das Scheitern
der unendlichen Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ
und ÖVP als Glückstag für Österreich,
um dann für die noch unwahrscheinlichere Variante einer
sozialdemokratischen Minderheitsregierung (33 Prozent) zu
plädieren.
Im Nachhinein betrachtet, das Zappeln eines Promotors der
Wende um der Wende willen.
Traditionell leichter nachvollziehbar, weil von einer wesentlich
behäbigeren Spielart, ist da die verlässlich unverbesserliche
Penetranz der "gewendeten Linken", die ihre innere
Wende jetzt endlich auch nach außen kehren können.
Weil Österreich halt auch so gerne einen Walser und einen
Sloterdijk hätte, käuen Konrad Paul Liessmann und
Rudolf Burger das wieder, was bei Menasse ideologisch noch
herumzappelt. Im Prozess des Wiederkäuens werden einige
kulturkonservative Klassiker eingestreut, die letzten Ansätze
von Dialektik zu Tode verdaut und die neue Zeit willkommen
geheißen: "Eine Regierung unter maßgeblicher
Beteiligung, wenn nicht unter der Kanzlerschaft Haiders -
wäre dies eine Gefahr, wie allenthalben behauptet wird?",
so fragt Rudolf Burger in einem Standard-Kommentar vom 11.
12. 1999 und antwortet schließlich erwartungsgemäß:
"Eine Koalition mit Haider sollte man tunlichst vermeiden,
aber wenn man sie eingeht, wäre dies auch kein großes
Malheur." Aus der sicheren Distanz des Philosophen, id
est: Aus der strukturellen Sicherstellung als Universitätsprofessor,
der nicht darauf vergisst, noch etwas über die "parasitäre
Erregung" derer nachzuschieben, die nicht endlich den
Deckel des Vergessens über den Holocaust-Topf stülpen,
oder über die zu zetern, die den Tod Omofumas und der
Bombenopfer von Oberwart nicht verharmlosen, lässt sich
trefflich Alarmismus und Moralismus bekämpfen, besonders
dort, wo keiner ist.
Am schönsten fällt dieses Scheingefecht gegen eine
angeblich alarmistische Linke bei Konrad Paul Liessmann aus,
dem unerschrockenen Aufdecker, der nicht müde wird, die
wahren Schuldigen zu benennen, nämlich die Intellektuellen.
Nein, nicht er, sondern die anderen, die "kritische Intelligenz"
oder auch die "intellektuelle Elite", hätten
das Phänomen Haider befördert. Wie die Liessmannsche
Version vom Prinzip der Schuldumkehr funktioniert, wurde schon
ausführlich analysiert (vgl. gettoattack-Kommentar im
Standard vom 4. 11. 1999). Verkürztes Fazit: Die Relativierung
und Normalisierung von Ressentiments und Rassismus betreibt
nicht die kritische Intelligenz, sondern die unkritische -
unter anderem Liessmann.
Nun könnte das Ganze als völlig irrelevantes Scharmützel
zwischen den Intellektuellen-Generationen abgetan werden,
wie auch im Laufe derselben Debatte behauptet wurde: "Im
Feuilleton sind wir unter uns." Dem ist aber nicht so.
Die Effekte des intellektuellen Diskurses durchziehen als
Legitimationsgrundlagen andere Diskurse und wirken damit weit
über die Kommentarspalten hinaus.
Wie weit, zeigt sich an der Tatsache, in welchen Kontexten
Liessmanns Schattenboxen gegen "die Linke" rezipiert,
zitiert und wieder veröffentlicht wird: Einerseits befindet
Andreas Mölzer einen Text Liessmanns für würdig,
ihn (unautorisiert) in seiner rechtsextremen Postille abzudrucken
(Zur Zeit, Nr. 01-02/00), wohl vor allem deswegen, weil bei
Liessmann Faschismus und Kommunismus, Auschwitz und Gulag
undifferenziert nebeneinander stehen, was sich wiederum trefflich
neben die Frage stellen lässt, wann die "Erbschuld
erlischt". Andererseits - und hier schließt sich
der Kreis von der diskursiven Vorwegnahme der politischen
Wende über die erfolgte Regierungsbeteiligung der FPÖ
bis zur selbstlegitimierenden Regierungsbezugnahme auf die
Antizipation der Intellektuellen - wird die Wendetrommel der
österreichischen Medienintellektuellen-Trias auch prompt
vom neuen Kunststaatssekretär Morak (ÖVP) gerührt
und massiv zu einer Apologie für sein Zusammengehen mit
einer Partei verwendet, deren Chef er, Morak, noch fünf
Jahre zuvor mit einem deftigen "Raus mit Haider aus Österreich!"
bedacht hatte. Auf die Frage, weswegen er nun seinen Kopf
für Haider hinhalte, antwortet Morak in einem Standard-Interview
mit dem Titel "Ich glaube nicht, dass ich lüge"
vom 10. 2. 2000: "Ich bin überzeugt, dass wir Kritiker
des Systems wie Rudi Burger, Robert Menasse und Konrad Paul
Liessmann nicht ernst genug nehmen können. Es gab eine
Hermetik durch die lang anhaltende Koalition, durch die Vorherrschaft
einer Partei ..."
So viel also zur wundersamen Verwandlung von Intellektuellen
in Kellner, die statt der blauen und roten Sackerln eben nur
mehr Zucker servieren wollen und das noch als geringes Malheur
oder gar als Glücksfall verkaufen. Deren Frohmut gen
neue Zeiten teile ich - wiewohl zutiefst anti-alarmistisch
- nicht, ich halt's da eher mit Franz Schuh, der mithilfe
der antipolitischen Kategorie des (Un-)Glücks die politische
Lage Österreichs relativ gut beschreibt: "Den höheren
Standpunkt, von dem aus ein offensichtliches Unglück
ins zukünftige Glück führt, kann ich leider
nicht einnehmen." Ob sich die freie Opposition weiter
vernetzen kann über die Grenzen von Feldern und Nationen
hinaus oder ob die Restbestände zivilgesellschaftlicher
Organisation durch kontrollgesellschaftliche Mechanismen zerrieben
werden, das werden schon die kommenden Monate weisen. Sollten
die nächsten Wahlen allerdings wieder eine rechte Mehrheit
bringen, steht zu befürchten, dass das zerschlagene Porzellan
zu einem Scherbenhaufen anwächst, auf dem sich allenfalls
Fakire bewegen können.
Die freie Opposition trinkt den Kaffee einstweilen eben ungesüßt.
Gut für die Zähne, gut für den Biss.
PS: Ich entschuldige mich bei den Wiener KellnerInnen für die zugunsten metaphorischer Konzinnität erfolgten Zuspitzungen.