07 2007
Kommentare zu Branka Ćurčić: Autonome Räume der Deregulierung und Kritik: ist eine Kooperation mit neoliberalen Kunstinstitutionen möglich?
Was ist eine „neoliberale Kunstinstitution“? Eine Institution der neoliberalen Hegemonie? Oder eine Institution unter der neoliberalen Hegemonie?
Bekanntlich hatten Hayek & Co. den Kampf um die Verwirklichung ihrer neoliberalen Ideen zuerst als Kampf um diese Ideen selbst – als Kampf um „hearts and minds“ – angefangen. Und tatsächlich absolvierten diese Ideen einen „langen Marsch durch die Institutionen“, bevor sie die politische Macht ergriffen haben: durch Universitäten, Schulen, Kirchen, Medien, professionelle Vereinigungen, diverse Kunst- und Kulturinstitutionen, also durch das, was man Zivilgesellschaft nennt. So hat auch die heute so mächtige neoliberale Hegemonie klein angefangen, nämlich als eine kulturelle Hegemonie. Einst wurde auf diese Weise der ideologische Einfluss gesichert, fing man an, die politische Sphäre zu erobern, politische Parteien zu infiltrieren und endgültig ganze Staaten zu übernehmen. Zuerst wurden die Menschen überzeugt, dass es keine Alternative zum Neoliberalismus gibt, danach wurde die Alternative politisch (oder auch putschistisch bzw. militärisch) ausgeschaltet und „the neoliberal turn“ politisch vollendet. Schließlich hat sich durch diesen politischen Sieg die neoliberale Hegemonie in der Form eines epochalen Zustands etabliert.
Eine Institution der neoliberalen Hegemonie ist demnach eine Institution, die sich mit den neoliberalen Ideen identifiziert und sie in ihrer Tätigkeit offen artikuliert und systematisch verbreitet, also ein Apparat der neoliberalen Hegemonie.
Aber eine Institution unter der neoliberalen Hegemonie muss nicht unbedingt neoliberale Ideen befürworten, sie womöglich in die Tat umsetzen. Sie mag sie sogar verachten oder offen in Frage stellen, doch selbst wenn sie die neoliberale Hegemonie bekämpft, kann sie ihr nicht entweichen. Diese bestimmt die Art und Weise ihrer Reproduktion als Institution. Es gehört zur Natur einer Hegemonie, dass man sie nicht einfach umgehen oder sich freiwillig in ihr Außen absetzen kann. Gerade dadurch, dass sie selbst ihr eigenes Außen bestimmt, ist sie eben eine Hegemonie. In dieser und nur in dieser Hinsicht sind unter der neoliberalen Hegemonie alle Institutionen neoliberal, auch jene, die sich dieser Hegemonie widersetzen.
Die Vorstellung, man könnte sich aus freien Stücken außerhalb der neoliberalen Welt institutionalisieren, gehört gänzlich dieser neoliberalen Welt. Wer also glaubt, die Frage, ob man neoliberal ist oder nicht, sei bloß a matter of free choice, muss diese Frage gar nicht stellen, weil er sie schon beantwortet hat. Free choice ist die Form, in welcher der Neoliberalismus den freien Willen hegemonisiert – oder um dem neoliberalen Jargon treu zu bleiben – privatisiert bzw. patentiert hat. So wie Wasser, Pflanzen oder sogar genmanipulierte Lebewesen kann man heute auch den freien Willen privatisieren bzw. patentieren. Gerade in der Form von free choice besitzt der Neoliberalismus das ausschließliche Urheberrecht am freien menschlichen Willen. Wer also von ihm heute Gebrauch macht, leistet nolens volens einen Unterwerfungseid unter die neoliberale Hegemonie. Kurz: Freiheit ist heute eine Übersetzung geworden, deren Original sich im exklusiven Besitz des Neoliberalismus befindet.
Es ist dementsprechend entscheidend und zwar besonders in der so genannten postkommunistischen oder postsozialistischen Situation, das „noch nicht völlig Neoliberale“ oder das „nach dem Umsturz des Sozialismus Ruinierte bzw. Vernachlässigte“ nicht im Sinne eines Raumes zu verstehen, der sich außerhalb der neoliberalen Hegemonie befindet. Die systemische Vernachlässigung der ehemals sozialistischen Institutionen bzw. ihr systematisches Ruinieren ist auch schon ein Effekt der neoliberalen Hegemonie. Es hilft uns also nicht viel, zwischen der alten („noch nicht liberalen“) und neuen („schon völlig liberalen“) Institution zu unterscheiden. Es ist wiederum diese Hegemonie selbst, die arbiträr entscheidet, was alt ist, der Vergangenheit gehört und deshalb vernachlässigt oder ruiniert werden soll, und was neu, zukunftsträchtig, oder auch unausweichlich bzw. notwendig ist. Dasselbe gilt für die angeblich eigentliche Verortung dieser Differenz: der entwickelte kapitalistische Westen sei eine Art historischer Ursprung der neoliberalen Hegemonie, ein geographisch-kultureller Ort, an dem sie in ihrer authentischen und höchst entwickelten Form vorkomme, während sie im Osten (im postkommunistischen Osten Europas zum Beispiel) noch versuche, Fuß zu fassen, das Alte in die Rumpelkammer der Weltgeschichte zu werfen und es mit dem Neuen zu ersetzen. Die neoliberale Hegemonie funktioniert nicht nach dem alten Muster einer Kolonialmacht, die wilde, naturwüchsige und in die historische Zeit noch nicht integrierte Gebiete erobert. Für diesen Westen selbst kann man auch sagen, dass er nichts als eine historische Ruine ist – die Ruine des Wohlfahrtstaates, des ideologischen und politischen Keynesianismus, der für den industriellen Modernismus typischen kollektiven Solidarität, der Sozialdemokratie, der Kampfinstitutionen der Arbeiterklasse, ihrer Gewerkschaften und politischen Bewegungen, etc. Ist nicht umgekehrt der Osten Europas heute der Ort, an dem die neoliberale Idee ihr „authentisches“, ihr „natürliches“ politisches Umfeld findet: Tsunami-artige Privatisierungswellen, in denen das ehemalige Eigentum des Volkes buchstäblich über Nacht zum Eigentum der wenigen Neureichen wird, und zwar ohne nennenswerten Widerstand? Im Gegensatz wird im Osten erst an die Grundprinzipien der neoliberalen Ideologie – an die Allmacht der Privatinitiative, an die selbstregulative Kraft des Marktes, an das Heilmittel „Deregulierung“, kurz and die ungezähmte Marktwirtschaft als die endgültige Verwirklichung der Freiheit – richtig blind geglaubt. Erst hier, wo sich ihm selbst seine Opfer mit Begeisterung unterwerfen, ist der Neoliberalismus wirklich zu Hause.
Fazit: Der Unterschied zwischen dem Westen und dem (postkommunistischen) Osten heute ist kein Unterschied zwischen einem hoch entwickelten neoliberalen Kapitalismus und einem unterentwickelten noch-nicht-neoliberalen Postsozialismus, also zwischen einem verwirklichten Neoliberalismus und seinem Außen. Diese Unterscheidung findet gänzlich innerhalb der neoliberalen Hegemonie statt. Die so genannte ungleiche Entwicklung (uneven developement) gehört zum modus operandi dieser Hegemonie schlechthin.
Das Problem mit der Idee der Autonomie, bzw. mit der Vorstellung eines autonomen Agenten der Kritik, des politischen Kampfes und radikaler Veränderung liegt darin, dass sie in ihrem Kern das ideologische Entstehungsmodell einer modernen, (neo)liberaldemokratischen Gesellschaft nachahmt. Sie ist eine Art Gegenrobinsonade zum berüchtigten „contrat-social-Märchen“ in seinen Versionen von Hobbes und Rousseau bis hin zu Rawls: Das Subjekt einer radikalen Veränderung des heutigen neoliberalen Kapitalismus entstehe in der Form einer unabhängigen und selbstorganisierten Gruppe, deren Mitglieder (allesamt freie und unabhängige Individuen) anfangs nichts als ihren authentischen Willen zum Besseren (etwa „soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit für alle“ etc.) besitzen – und noch dazu eventuell eine Immobilie, etwa ein Häuschen, wo man, wie auf der Insel Robinsons ein autarkes (Über-)Leben mitten im Ozean des neoliberalen Kapitalismus organisieren kann.
Noch unbefleckt von irgendwelchen egoistischen, oder, Gott bewahre, ökonomischen Interessen, haben dann diese sauvages nobles des anti-neoliberalen Widerstands free choice, ob sie mit der Außenwelt kommunizieren wollen oder nicht, ob sie wie in unserem Fall mit den neoliberalen Kunstinstitutionen kooperieren wollen oder nicht. Das Dilemma erscheint dann nur noch moralisch: soll man sich vom neoliberalen Kapitalismus beflecken lassen und, wenn ja, in welchem Ausmaß? Oder, wieviel neoliberalen Schmutz kann eine autonome Kunstinstitution ertragen, um ihren harten anti-neoliberalen Kern zu bewahren und einer Kooptierung seitens der neoliberalen Hegemonie nicht nachzugeben? Oft folgt derselben moralistischen Logik auch die so genannte Selbstkritik. Statt sich selbst in der eigenen historischen Realität und aus der eigenen Praxis des Widerstands zum Gegenstand einer kritischen Reflexion zu machen, fabriziert sie moralistische Kollaborationsvorwürfe. Das Leben der Kritik und Selbstkritik ist in dieser heilen Welt des Anti-Neoliberalismus ganz einfach: dort der Feind, bzw. die neoliberalen (Kunst)Institutionen, hier wir der Sache kompromisslos treuen Selbstorganisierten und Autonomen, und daneben die Verräter, die Kollaborateure des neoliberalen Kapitalismus. So wird Arbeit der Kritik und Selbstkritik zur moralistischen Denunziation.
Insgesamt ist dieser Moralismus das traurigste Kapitel im Kampf gegen die neoliberale Hegemonie. Er ist das notwendige Nebenprodukt der selbst proklamierten Autonomie, die glaubt, sich aus den eigenen Quellen mit einem positiven Inhalt aufrüsten und so den neoliberalen Kapitalismus herausfordern zu können. Diese selbst proklamierte Autonomie setzt den Zustand – bzw. den Raum – einer Urunschuld voraus und gründet darin den affirmativen Charakter seiner politischen Aktion. Mit anderen Worten braucht sie eine vorhistorische und vorpolitische – und deshalb auch universalistische – Identität, um sich überhaupt politisch subjektivieren zu können. Im Grunde genommen sind die beiden hier erwähnten Konzepte einer autonomen und affirmativen politischen Aktion, nämlich das von Badiou als auch von Žižek, ähnliche Gegenrobinsonaden. Beide artikulieren politische Autonomie im Sinne eines von der Reflexion oktroyierten Raumes, den es zu verteidigen bzw. zu expandieren gilt. So wird in diesem Kontext von den „unabhängigen, kulturellen, öffentlichen Räumen“ geredet, die man wiederbeleben solle, weil sie von den neoliberalen Privatisierungen weitgehend zerstört würden.[1] Aus dieser Perspektive erscheint der Kampf gegen die neoliberale Hegemonie ganz einfach: wir die Öffentlichkeit vs. sie das Private. Doch weder artikuliert sich diese Hegemonie ausschließlich durch Privatisierungen, noch lässt sich ihre Bekämpfung durch den simplen Antagonismus zwischen dem Öffentlichen als Guten und dem Privaten als Schlechten artikulieren. Im Gegenteil. Man beginnt, die neoliberale Hegemonie zu verstehen und zu bekämpfen, erst mit der Gewissheit, dass eine klare und normativ eindeutige Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und Privaten nicht mehr möglich ist, bzw. mit der Gewissheit, dass gerade im epochalen Verwischen einer klaren Grenze zwischen dem Öffentlichen und Privaten wie auch deren normativen Attributen die eigentliche Kraft dieser Hegemonie besteht.
Politische Praxis des Widerstands lässt sich nicht von fertigen philosophischen Konzepten herunterladen. Vielmehr sollten wir die Einsicht in unsere historische Lage durch die kritische Reflexion der eigenen Widerstandspraxis gewinnen.
Fragen wir deshalb offen: Wer hat eigentlich die Rettung bzw. Einrichtung jener Räume der Öffentlichkeit, Kritik und des Widerstands im Osten Europas unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Beginn der kapitalistischen Transformation ermöglicht? Haben wir es schon vergessen? Es war George Soros, einer der Koryphäen des Neoliberalismus, der seine Macht und sein Vermögen als Günstling und Anhänger von Margaret Thatcher erworben hat. Ausgerechnet er, bzw. seine Spenden, wurden damals oft zum einzigen Garant nicht nur der Unabhängigkeit der „nicht-neoliberalen“ Kunstinstitutionen, sondern auch der vom chaotischen Zerfall und nationalistischen Autoritarismus fast ausgelöschten Autonomie der kritischen Öffentlichkeit und eines antinationalistischen, pazifistischen, sogar linken politischen Aktivismus. Der Archipel OSI (Open Society Institute) bzw. SCCA (Soros Center for Contemporary Art), der sich von Budapest bis Omsk und weiter ausgestreckt hat, blieb oft die letzte Zuflucht der Modernität vor dem postkommunistischen Thermidor – einer Koalition der autoritären Politik, des kulturellen Konservativismus und der neoliberalen Privatisierung.
Schon damals wurde Soros zum Objekt der Kritik. Man sagte, hinter seinem angeblich philanthropischen Engagement in Osteuropa stecke eigentlich ein neokolonialistisches Interesse. Die Ideologie der offenen Gesellschaft, die er mit Hilfe seines Geldes verbreite, benütze er nur als Vorwand, um seinen Einfluss im postkommunistischen Osten zu sichern und sich auf diese Weise noch mehr zu bereichern. So wurde dem Willen Soros' und seiner neoliberalen Ideologie jede Authentizität aberkannt. Die Kritik glaubte, der Neoliberalismus denke an Macht und Geld, wenn er Freiheit sagt. Doch das ist eine nicht nur naive, sondern auch gefährliche Illusion.
Als Soros jene Milliarde Dollar, die er im Oktober 1993 innerhalb von zwei Wochen durch Spekulationen mit Währungen verdient hat, in die Zivilgesellschaften Osteuropas und ihre kulturelle, intellektuelle, künstlerische, aktivistische, etc. Tätigkeiten investierte, tat er das, weil er an die Macht der Ideen und insbesondere an die Macht der Idee der Freiheit glaubte. Macht über die Völker Osteuropas, über ihre Ölreserven, Industriepotenziale oder Banken interessiert ihn nicht. Soros und mit ihm die neoliberale Ideologie wollen nicht die Schätze der existierenden Welt, sondern jene einer möglichen ergreifen. Sie erobern weder politische noch soziale Räume, sondern eine Dimension, nämlich die der sozialen und politischen Kreativität und des Subjekts dieser Kreativität, die Dimension der Kritik.
Daher die tatsächliche Kooptierungskraft der neoliberalen Hegemonie. Sie liegt nicht so sehr im Begriff der Toleranz bzw. in ihrer moralisch-geistigen Fähigkeit, jede Kritik schmerzfrei zu absorbieren und dadurch zu entschärfen, sondern vor allem darin, dass sie in der Lage ist, sich der Kritik zu bemächtigen, sie so zu sagen patentieren und privatisieren. Wer im Besitz der Gesellschaftskritik bzw. ihrer heutigen Ausgabe, der Kulturkritik ist, kontrolliert auch die utopische Dimension der Gesellschaft. Gerade das ist das eigentliche Kernstück der neoliberalen Hegemonie – die Eroberung bzw. Kolonisierung der Utopie. Die Utopie ist 1989 nicht bloß mit dem Realsozialismus untergegangen, sie hat sich auch nicht in Luft aufgelöst. Wir leben nicht, wie man überall hört, in einer postutopischen Welt, sondern in einer Welt, in der die Utopie nur noch in ihrer neoliberalen Übersetzung vorkommt. In der neoliberalen Hoffnung der Freiheit ist die Freiheit der Hoffnung samt ihrem sozialkritischen Potenzial verstummt.
[1] Im Übrigen sollten wir endlich aufhören, Begriffe wie Autonomie, politischer Kampf, Affirmation und Negation als Freiheit im Sinne räumlicher Metaphern zu verstehen. Raum ist das ausgetrocknete Strombecken des historischen Zeitflusses, das Fossil einer schon längst zum Stillstand gebrachten Bewegung. Er ist von einer archäologischen, nicht von politischer Bedeutung.