05 2008
Können Zeugen sprechen?
Zur Philosophie des Interviews
Der Spielfilm „Tout va bien“ von Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin (1972) zeigt ein ungewöhnliches Interview: Während eines wilden Streiks in einer Wurstfabrik unterhält sich eine Reporterin, gespielt von Jane Fonda, mit den Arbeiterinnen. Sie erkundigt sich über Arbeitsbedingungen, Hausarbeit und andere Aspekte ihres Arbeitslebens. Aber Godard und Gorin lassen uns nicht direkt an diesem Interview teilhaben. Wir sehen zwar das Interview, hören aber einen anderen Ton, nämlich den inneren Monolog einer Arbeiterin, die schweigend daneben steht. Sie hört zu, wie auch von ihren Arbeitsbedingungen Zeugnis abgelegt wird. Aber obwohl alle Fakten darin richtig sind, kommt ihr dieses Interview falsch vor. Mit dem Tonfall stimmt etwas nicht. Das Interview wird wieder einmal alle Klischees über Arbeiterinnen bestätigen. Es wird genauso wirken wie alle anderen auch – und nichts mitteilen. Obwohl die Fakten stimmen, ist die Tonalität falsch. Kurz gesagt: Das Interview ist blanker Kitsch. Trotz bester Absichten gelingt es der Reporterin Jane Fonda nicht, die Stimme der Arbeiterinnen zu vermitteln – gerade weil sie in den Medien zu hören ist.
In einem Interview in dem Film „La politique et le bonheur“ artikuliert Godard selbst noch einmal das Problem. Die Arbeiter selbst reden zu lassen, sie an der Produktion des Filmes partizipieren zu lassen, heißt nicht unbedingt, sie zu Wort kommen zu lassen. Ein Arbeiter oder eine Arbeiterin, die für sich selbst sprechen, werden in den Medien als leicht minderbemittelte, jedenfalls eher bemitleidenswerte Exemplare wahrgenommen. Sie werden zu Objekten eines voyeuristischen Blicks, der an „Echtheit“ interessiert ist, nicht aber an Veränderung. Was auch immer sie erzählen, ihre Rollen stehen von vornherein fest: Sie sind Betroffene, und als solche muss man sie nicht ernst nehmen.[1] Sie können reden, so viel sie wollen, aber irgendwie fehlt der Ton. Godard und Gorin sind sich dieses Dilemmas bewusst: In „Tout va bien“ hören wir zwar die Stimme einer Arbeiterin – aber nur in Form ihrer stummen Gedanken.
Dokumentarische Zeugen
Wenn, wie Godard und Gorin behaupten, Interviews allerdings unter bestimmten Umständen vergeblich sind, hat das für dokumentarische Formen katastrophale Konsequenzen. Denn niemand kann glaubwürdiger von einem Ereignis berichten als Zeugen, die es mit eigenen Augen gesehen oder mit eigenen Ohren gehört haben.[2] Daher gehören der Augenzeugenbericht, das Experten- oder Zeitzeugeninterview zu den verbreitetsten Methoden, die den dokumentarischen Anspruch auf die Wiedergabe von Fakten rechtfertigen sollen.
Das Misstrauen gegen die Zeugen ist trotzdem chronisch. Denn ein Zeuge kann zwar die Wahrheit sagen. Er oder sie kann aber auch lügen. Um sich gegen diese Unwägbarkeiten abzusichern, haben Rechtssysteme immer wieder neue Systeme der Überprüfung erfunden. So lautet eine alte römische Rechtsregel: Testis unus, testis nullus – ein Zeuge ist kein Zeuge. Mindestens zwei Zeugen müssen übereinstimmende Aussagen abgeben, um einem Bericht Glaubwürdigkeit zu verleihen. Dokumentarische Formen kopieren solche Regeln durch die Gegenüberstellung von mehreren Zeugenaussagen und Perspektiven, um durch dieses Verfahren „Objektivität“ zu schaffen – ein Begriff, über den in der Dokumentarfilmtheorie chronischer Streit herrscht.[3] Aber auch diese Methode kann statt Sicherheit nur Wahrscheinlichkeit schaffen. Denn was ist, wenn beide Zeugen lügen? Eben jene Figur des Zeugen oder der Zeugin, durch die sich der Zuschauer der Wahrhaftigkeit des Gezeigten versichern soll, ist in sich selbst ungesichert. Sie balanciert an ihrer Erinnerung entlang, wie an einem Geländer, das nur in der Einbildung vorhanden ist.
Das Interview steht daher immer schon unter Verdacht. Historisch leiten sich Michel Foucault zufolge Techniken wie diese von fragwürdigen Prüfungen wie etwa dem Gottesurteil oder der Beichte ab.[4] Laut Foucault verlief die Produktion von Wahrheit im Mittelalter ungleich rabiater als heute. Man warf jemanden ins Wasser – schwamm er, so hatte er Recht, wenn nicht, so hatte er gelogen. In Wahrheitstechnologien wie dem Gottesurteil oder dem Duell entschieden der Zufall oder höhere Mächte über das Ergebnis. Neuere Wahrheitstechnologien wie das wissenschaftliche Experiment, religiöse wie die Beichte oder juristische wie die Folter oder das Geständnis[5] haben zwar komplexere Regeln, funktionieren nach Foucault letztendlich aber nach ähnlichen Prinzipien. In dieser Tradition stehen auch dokumentarische Techniken wie die Zeugenaussage oder das Interview. Sie berufen sich auf historische, juristische oder journalistische Wahrheitstechnologien.
Zeugen zu Garanten dokumentarischer Wahrheit zu machen bedeutet also, das Risiko eines eigentlich bodenlosen Vertrauens einzugehen. Denn stellen Zeugen wirklich einen ungefilterten Zugang zur Realität her? Oder ist das Zeugnis nicht fundamental opak – subjektiv gefärbt, von Interessen geprägt, von Sprachbildern verführt, in Rechthaberei verliebt? Bezeugt es nicht vielleicht eher die Realität, wie sie gewesen sein soll, als die Realität, wie sie wirklich war? Kann es von dokumentarischen Artikulationen nicht aus dem Kontext gerissen, verstümmelt oder falsch wiedergegeben werden? Zum Beispiel ohne Ton, wie das Interview der Arbeiterinnen aus „Tout va bien“?
Epistemische Gewalt
Dass das, was gesagt wird, nicht immer gehört wird, behauptet auch die feministische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak. Denn bestimmte Bevölkerungsgruppen werden prinzipiell von der gesellschaftlichen Artikulation ausgeschlossen. Sie können zwar reden, aber wir überhören sie einfach. Die Frage, die sie daher stellt, lautet: „Können Subalterne sprechen?“ [6] Mit den Subalternen meint Spivak insbesondere Frauen in gleichermaßen kolonial wie patriarchal geprägten Situationen. Und die apodiktische Antwort auf ihre eigene Frage lautet: Nein. Als Beispiel für die Stummheit der Subalternen zieht sie Akten aus dem kolonialen Archiv heran, die belegen sollen, dass indische Frauen sich während der britischen Kolonialzeit „freiwillig“ der grausamen Sitte der Witwenverbrennung unterzogen haben. Für Spivak beweisen diese Akten jedoch nicht den Willen der betreffenden Frauen, sondern nur die Unmöglichkeit, diesen überhaupt zu äußern. Denn wenn eine Frau in Opposition zu den Werten der Kolonialherren treten wollte, blieb ihr nur der Bezug auf die Werte des einheimischen Patriarchats übrig, das ihr vorschrieb, sich „freiwillig“ zu verbrennen. In beiden Wertesystemen waren ihre eigenen Interessen somit unartikulierbar, und ein anderes gab es nicht. Spivaks Fazit: Die Subalterne spricht nicht, sie ist nicht in der Lage, von sich selbst Zeugnis abzulegen. Interviews mit ihr sind also zwecklos.
Die Lage ist ähnlich wie in „Tout va bien“. Selbst wenn die Arbeiterinnen Zeugnis ablegen, werden sie nicht verstanden. Denn ähnlich wie den subalternen Frauen wird auch ihnen nur die Übermittlung „konkreter Erfahrung“[7] zugetraut. Aber jemanden nach der „konkreten Erfahrung“ zu befragen setzt implizit voraus, dass diese Person über nichts anders verfügt, dass diese Erlebnisse roh und unreflektiert sind und dass sie ihr selbst wie auch dem Publikum erklärt werden müssen. Der Begriff der „konkreten Erfahrung“ diktiert eine bestimmte Form der hierarchischen Arbeitsteilung: zwischen denen, die etwas erleben, und anderen, die dieses Erlebnis verstehen und interpretieren können. Ihre angebliche Authentizität hat unmittelbare politische Effekte: Ausgerechnet die Stimmen, die ganz „echt“ klingen, werden strukturell entmündigt. Auch in der feministischen Film- und Wissenschaftskritik sind diese Probleme seit den 1970er Jahren immer wieder beschrieben worden. Im feministischen Film könne die Unterdrückung von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft nicht einfach eingefangen oder aufgezeichnet werden, da eben die so genannte einfache Aufzeichnung schon Teil des Problems sei, argumentierte Claire Johnson schon 1975.[8]
Der Schmerz des Anderen
Aber der strukturelle Zweifel am Zeugnis macht uns auch zu Autisten. Wenn das Zeugnis in bestimmten Fällen vergeblich ist, zieht dies nicht nur dokumentarische Formen in Mitleidenschaft, die auf Zeugnisse angewiesen sind, um bestimmte Ereignisse so gut wie möglich zu vermitteln. Das Problem liegt viel tiefer. Denn Zeugnisse berichten nicht nur über die Welt, sondern stellen diese in einem sozialen und politischen Sinn erst her. Wenn wir den Solipsismus unserer individuellen Erfahrung überwinden wollen, können wir nicht auf das Zeugnis verzichten. Wenn wir wissen wollen, was in einem weit entfernten Krieg vor sich geht, müssen wir uns in der Regel auf Zeugnisse verlassen. Ein Zeugnis wahrzunehmen stellt ganz allgemein den Versuch dar, sich den Erlebnissen von Anderen zu öffnen. Es ist ein Schritt in die Richtung, jene paradoxe Aufgabe zu bewältigen, die Wittgenstein einmal so plastisch beschrieben hat: den Schmerz im Körper des Anderen zu fühlen.[9] Aber auch jenseits der individuellen Erfahrung nimmt das Zeugnis eine wichtige Rolle ein. Hannah Arendt hält die „Tatsachenwahrheit“, die das Zeugnis belegen soll, für die Bedingung des Gesellschaftlichen schlechthin. Sie ist, so Arendt, nichts weniger als der „Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt“[10]. Kurz gesagt: Das Zeugnis ist zwar unzuverlässig und verunsichernd – es ist jedoch auch unverzichtbar.
Das Zeugnis wird zwar oft unterbunden oder – wie in „Tout va bien“ – gar nicht gehört. Andererseits kann es auch das bezeugen, was innerhalb dieser Machtbeziehungen nicht ausgesprochen werden darf. „Selbst tödlich zerkratzt, vermag ein kleines Rechteck von 35 Millimetern die Ehre der gesamten Wirklichkeit zu retten“, schreibt Jean-Luc Godard.[11] Es kann das Unvorstellbare, das Zum-Schweigen-Gebrachte, Unbekannte, Rettende und sogar Ungeheuerliche zum Ausdruck bringen – und somit die Möglichkeit zur Veränderung schaffen.
Und entgegen aller Wahrscheinlichkeit finden sich auch in der offiziellen Geschichtsschreibung, in den hegemonialen Medien, Archiven, Diskursen und Geschichten Beispiele von Zeugnissen, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Sie stellen zwar nicht die Regel dar. Aber wie Spivak zu behaupten, dass sie gar nicht möglich seien, bedeutet, sie schlichtweg aus der Geschichte zu tilgen – und selbst die stummen Gedanken der Arbeiterin aus „Tout va bien“ abzuwürgen.
Ich bin ein Muselmann
„Das Zeugnis enthält eine Lücke.“[12] – Zu diesem Schluss kommt Giorgio Agamben, als er die Zeugenaussagen von Überlebenden der Shoah untersucht. Diese Aussagen stellen einen absoluten Grenzfall von Zeugenschaft dar. Denn an ihrem Grund liegt ein unüberwindliches Paradox: Diejenigen, die das Konzentrationslager überlebt haben und Zeugnis ablegen, sehen sich nicht als befugt dazu an. So schreibt Primo Levi, dass nicht die Überlebenden die wirklichen Zeugen seien, sondern die Toten.[13] Über die Vernichtung können demnach nur diejenigen Zeugnis ablegen, die ihr zum Opfer gefallen sind. Aber sie sprechen nicht mehr.
Dieser konstitutive Widerspruch ist das Leitmotiv für Agambens Überlegungen über die Rolle der Zeugen. Denn infolgedessen „beruht die Gültigkeit des Zeugnisses wesentlich auf dem, was ihm fehlt, in seinem Zentrum enthält es etwas, von dem nicht Zeugnis abgelegt werden kann, ein Unbezeugbares, das die Überlebenden ihrer Autorität beraubt“[14]. Das Zeugnis ist demnach gleichzeitig notwendig und unmöglich, es bezeugt seine eigene Unmöglichkeit. Diese Unmöglichkeit wird laut Agamben in der Gestalt des Muselmanns verkörpert. Der Muselmann ist ein Häftling, der seinen Lebenswillen verloren hat und an der Grenze zum Tod dahinvegetiert. Er ist nicht mehr in der Lage zu sprechen – und was der Überlebende in seinem Namen bezeugen kann, ist nur vermittelt und unvollständig.
Agamben kommt zu dem Schluss, dass die Spaltung des Zeugnisses nicht aufgehoben werden kann. Der Zeuge wird zum Zeugen insoweit, als er über die Unmöglichkeit des Zeugnisses berichtet. Was diese Zeugen zum Ausdruck bringen, ist das Dilemma, das gleichzeitig ihre Aufgabe bildet. Das Zeugnis ist also nicht nur unmöglich. Es ist gleichzeitig auch unentbehrlich. Auch wenn der Muselmann nicht spricht, muss jemand für ihn sprechen.
Damit aber nicht genug: Agambens Buch endet mit den überraschendsten aller Zeugenaussagen, nämlich Zeugnissen, die es eigentlich gar nicht geben darf. Eines von ihnen beginnt mit den Worten: „Ich bin ein Muselmann.“[15] In diesen Zeugnissen berichten diejenigen, von denen behauptet wird, dass sie dazu nicht in der Lage seien. Wie durch ein Wunder sind aber einige von ihnen ins Leben zurückgekehrt und berichten über ihr Dasein als „Muselmänner“. Diese unwahrscheinlichen Berichte bezeugen gleichzeitig das punktuelle Versagen faschistischer Gewalt wie auch ihre äußerste Wirksamkeit. Als absolute Ausnahmen bestätigen sie die Regel. Sie heben, so Agamben, das Paradox nicht auf, sondern bestätigen es „aufs Genaueste“[16]. Obwohl sie eigentlich nicht möglich sind, gibt es sie.
Bilder trotz allem
Von einem anderen Fall, diesmal in Bezug auf Bilder, berichtet der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman.[17] In seinem Text „Bilder trotz allem“ („Images malgré tout“) beschreibt er Bilder, die eigentlich unwahrscheinlich sind: die einzigen vier überlieferten Bilder, die von Lagerinsassen des KZ Auschwitz gemacht wurden. An anderen Bildern von Auschwitz herrscht kein Mangel. Obgleich das Lager ein Territorium war, in dem unkontrollierte Fotografie strengstens verboten war, gab es dort nicht nur eine, sondern zwei Dunkelkammern. Der größte Teil der Fotos, die dort gemacht wurden, diente polizeilichen Zwecken. Etwa 40.000 Bilder haben die Zerstörung der Archive vor der Befreiung des Lagers überdauert.
Die einzigen vier erhaltenen Bilder, die von Häftlingen gemacht wurden, stehen dagegen in einem ganz anderen Zusammenhang. Sie wurden von einem Mitglied des so genannten Sonderkommandos gemacht, um einen visuellen Beweis für die Massenvernichtung zu erbringen. Damit die Fotos gemacht werden konnten, schmuggelte der polnische Widerstand zunächst eine Kamera ins Lager. Dann wurde ein komplizierter Plan entworfen, um die SS-Wachen abzulenken. Erst dann gelang es einem Mann namens Alex, die vier Fotos aufzunehmen. Auf zwei der Fotos sind Verbrennungen von Leichen unter freiem Himmel zu sehen. Ein weiteres zeigt Frauen auf dem Weg zur Gaskammer. Das letzte Foto ist das rätselhafteste. Es zeigt Äste und ein Stück Himmel.[18]
Diese Fotos bilden nicht nur die Tatbestände des Massenmordes ab, sondern bringen auch die Umstände und den Blickwinkel ihrer eigenen Entstehung zum Ausdruck. Vor allem im vierten Bild, das nur verwackelte Äste und Himmel zeigt, haben sich Hast und Gefahr nahezu unmittelbar im fotografischen Korn selbst abgedrückt. In diesem Bild kommt die historische Konstellation, die Situation totaler Überwachung, Verfinsterung und Bedrohung, in der diese Fotos entstanden sind, zum Ausdruck: durch Blickwinkel, Unschärfe, Verlust der Kontrolle über den Kader.
Natürlich stellen diese Fotos allein noch keine Beweise im kriminalistischen oder im strengeren historischen Sinne dar. Erst aus einer Rekonstruktion des historischen Umfeldes lässt sich bis zu einem gewissen Grad ersehen, was die Fotos genau repräsentieren, wo sie aufgenommen wurden, wann und in welchem Kontext.[19] Aber wenn dieser Kontext selbst einen bildlichen Ausdruck hat, zeigt er die unendliche Anstrengung, die es erforderte, diese wenigen und fragmentarischen Bilder herzustellen.
Diese Bilder sind ebenso unwahrscheinlich wie die Zeugenaussagen der so genannten Muselmänner. Zu ihrer Verhinderung wurde eine nicht nur epistemische Gewalt ungeheuren Ausmaßes aufgeboten – und trotzdem existieren sie. Zu behaupten, dass dies gar nicht möglich ist, ist schlicht falsch. Das Ergebnis einer solchen Behauptung: Auch die Dokumente, die trotz aller Widerstände produziert wurden, werden aus der Geschichte ausgelöscht. Aber auch die vier Bilder der Häftlinge sind, wenn man so will, stumm geblieben. Denn obwohl sie aus dem Lager geschmuggelt werden konnten, blieben sie ohne Wirkung.
Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem
soeben erschienenen Buch: Hito Steyerl, Die Farbe der Wahrheit, Wien: Turia + Kant 2008.
[1] Elisabeth Cowie beschreibt die dokumentarische Identifikation mit „Betroffenen“ dementsprechend als ambivalente Empathie, mit der das fürsorgliche und mitfühlende Selbstbild der Zuschauer bedient wird. Dafür werden weniger Zeugen benötigt als Opfer. Diese Rolle schreibt vor, dass die Opfer „richtig hilflos“ und „stimmlos“ sein sollen und dass sie nicht in der Lage sein sollen, Argumente und Analysen vorzubringen, um nicht mit dem Zuschauer – und dem Film – als wissende Subjekte zu konkurrieren (vgl. Elisabeth Cowie, „Identifizierung mit dem Realen – Spektakel der Realität“, in: Marie-Luise Angerer / Henry P. Krips (Hg.), Der andere Schauplatz. Psychoanalyse – Kultur – Medien, Wien: Turia + Kant 2001, S. 151–181, hier: S. 169.)
[2] Vgl. z. B. Klaus Arriens, Wahrheit und Wirklichkeit im Film. Philosophie des Dokumentarfilms, Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 19. Die Zeugenschaft als Prinzip taucht schon im Lukas-Evangelium auf, wenn der Apostel behauptet, dass sein Bericht wahr sei, da ihn diejenigen überliefert hätten, die „es von Anfang an selbst gesehen“ haben.
[3] Die so genannten Kognitivisten versuchen ein beschränktes Konzept von Objektivität oder „approximate truth“ (vgl. Brian Winston, Claiming the real: the Griersonian documentary and its legitimations, London: British Film Institute 1995, S. 247) zu retten. Dieser Auffassung werden implizit liberal-pragmatische und teils auch kommunitaristische Auffassungen von „common sense“ zugrunde gelegt (vgl. Carl R. Plantinga, Rhetoric and Representation in Non-Fiction Film, Cambridge: Cambridge University Press 1997, S. 212); so etwa in Noël Carrolls Artikel „Der nicht-fiktionale Film und ‚postmoderner‘ Skeptizismus“ (in: Eva Hohenberger [Hg.], Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin: Vorwerk 1998, S. 35–69). Es sei ein „vielverbreiteter Sport“ geworden, schreibt Carroll, den Anspruch auf objektive Informationen über die Welt in Zweifel zu ziehen. Dabei würden immer wiederkehrende Argumente benutzt, so etwa die Selektivität des organisierten filmischen Materials, das heißt die Arbitrarität der Wahl von Ausschnitt, Einstellung, Dauer und Montagerhythmus, die Ansprüche auf Objektivität hinfällig werden lasse. Carroll versucht dieses Argument zu widerlegen, indem er darauf verweist, dass es Standards der Objektivität gebe, die diese Selektivität nicht nur relativierten, sondern sie als ganz normalen Rahmungsvorgang des Arguments erscheinen ließen. Er meint, dass, solange bestimmte Objektivitätskriterien eingehalten werden, durchaus von einer objektiven Wiedergabe von Tatsachenrealitäten im dokumentarischen Medium gesprochen werden kann. Dass diese intersubjektiven Vertragskonstrukte jedoch auch als Machtverhältnisse gedeutet werden können, beschreibt Bill Nichols: „Objektivität verdeckt in diesem Falle den besonderen Standpunkt [point of view] der institutionellen Autorität selbst. Man findet hier nicht nur die unvermeidliche Sorge um Legitimation und Selbsterhalt, sondern auch historische und themenabhängige Formen von Eigeninteresse, die häufig nicht eingestanden werden, sondern sich viel wirkungsvoller als Neigungen und Voraussetzungen verkleiden“ (zit. nach Carroll 1998, S. 55) Demnach verweisen Objektivitätsstandards also weniger auf eine „gesunde Intersubjektivität“ (Carl R. Plantinga, Rhetoric and Representation in Non-Fiction Film, Cambridge: Cambridge University Press 1997, S. 219.) als auf gesellschaftliche Spezial-Interessen und Machtverhältnisse, die als Gemeinwohl ausgegeben werden. Raymond Williams hat die Herausbildung der Dichotomie zwischen Objektivität und Subjektivität im 19. Jahrhundert untersucht. Zu dieser Zeit wurde das Konzept der Objektivität mit dem der Faktizität verknüpft und somit auch mit positivistischen und realistischen Diskursen und Repräsentationsformen (vgl. Raymond Williams, Keywords: A Vocabulary of Culture and Society. London: Fontana 1976, S. 310 ff.).
[4] Vgl. Michel Foucault, „Technologien der Wahrheit“, in: Jan Engelmann (Hg.), Foucault – Botschaften der Macht. Reader Diskurs und Medien, Stuttgart: DVA 1999, S. 133–144; sowie Toby Miller, Technologies of Truth. Cultural Citizenship and the Popular Media, Minneapolis: University of Minnesota Press 1998, S. 4.
[5] Vgl. Michel Foucault, „Technologien der Wahrheit“, a. a. O., S. 134–137.
[6] In voller Länge lautet die Frage: „Auf der anderen Seite der internationalen Abspaltung der Arbeit vom sozialisierten Kapital, innerhalb und außerhalb des Kreislaufs der epistemischen Gewalt des imperialistischen Rechts und der imperialistischen Erziehung, die einen früheren ökonomischen Text supplementieren – können Subalterne sprechen?“ – Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant 2008, S. 47.
[7] Vgl. ebd., S. 27 f.
[8] Vgl. z. B.: „Es ist eine idealistische Mystifikation zu glauben, die Kamera könne ‚Wahrheit‘ einfangen […]“ (Claire Johnston, Notes on Women’s Cinema, London: Society for Education in Film and Television 1975, S. 28). Wie Rosi Braidotti in ihrem Buch Nomadic Subjects ausführt, erzeugt ein binäres Konzept von Geschlechtlichkeit auch eine binäre Weltsicht, in der Wissen einer normalisierten Subjektivität vorbehalten bleibt, die maskulin kodiert ist und mit Universalität, Rationalität, Abstraktionsfähigkeit, Bewusstsein und Unkörperlichkeit in Verbindung gebracht wird. Dieser Subjektposition gegenüber wird das Weibliche als Mangel konzipiert, als Nicht-Subjekt, als irrational, nicht zur Erkenntis fähig, unkontrolliert und mit dem Körperlichen identifiziert. Weitere Gegensatzpaare dieses vergeschlechtlichten Verhältnisses sind etwa: Objekt vs. Subjekt, aktiv vs. passiv, Herrscher vs. Unterdrückte etc. – Vgl. Rosi Braidotti, Nomadic Subjects, New York: Columbia University Press 1994, „Sexual Difference as a Nomadic Political Project“, S. 146–172; vgl. weiters Teresa De Lauretis, „The Technology of Gender“, in: Dies., Technologies of Gender. Essays on Theory, Film, and Fiction, Bloomington & Indianapolis: Indiana University Press 1987, S. 1–30, sowie Chandra Mohanty, „Under Western Eyes: Feminist Scholarship and Colonial Discourses“, in: Feminist Review, Nr. 30 (1988), S. 61–88. In diesen Texten wird die Subjektposition westlicher EthnologInnen gegenüber ihren Objekten im Rahmen einer Machtanalyse problematisiert, die dokumentarisches „Wissen“ als Verlängerung imperialer und kolonialer Wissensregimes interpretiert. Vgl. dazu auch Trinh T. Minh-Ha, „Cotton and Iron“, in: Madeleine Bernstorff / Hedwig Saxenhuber (Hg.), Trinh T. Minh-Ha. Texte, Filme, Gespräche, München, Wien u. Berlin: Kunstverein München / Synema Gesellschaft für Film und Medien 1995, S. 5–16, bes. S. 5.
[9] Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 101995, Abschnitt 243 ff. (S. 356 ff.).
[10] Hannah Arendt, „Wahrheit und Politik“, in: Dies., Wahrheit und Lüge in der Politik, München: Piper 1967, S. 44–92, hier: S. 92.
[11] Jean-Luc Godard, Histoire(s) du Cinéma, Paris: Gallimard/Gaumont 1998, S. 86.
[12] Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 29.
[13] Vgl. ebd., S. 29 f.
[14] Ebd., S. 30.
[15] Ebd., S. 145.
[16] Ebd., S. 144.
[17] Der Text ist mittlerweile in Buchform auf Deutsch erschienen (Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München: Fink 2006). Ich beziehe mich jedoch noch auf ein unveröffentlichtes Transkript eines Vortrags, der 2003 an der Wiener Akademie der bildenden Künste gehalten wurde.
[18] Ebd.
[19] Der Kontext muss oft mühsam rekonstruiert werden, wie es am Beispiel der Kontroverse um den Umgang der Wehrmachtsausstellung mit einigen ihrer – Verbrechen dokumentierenden – Fotos nachzulesen ist. Nachdem von anderen Historikern in Frage gestellt worden war, ob die ausgestellten Fotos auch wirklich Verbrechen der Wehrmacht oder aber solche des sowjetischen Geheimdiensts zeigten, war eine akribische Rekonstruktion der Tathergänge erforderlich, die sich aus dem zu Sehenden keineswegs unmittelbar erschlossen, und den Historikern eben jene Aufgabe der genauen Lektüre und Beschriftung abverlangte, die Benjamin als Aufgabe des Fotografen bezeichnet hat: „die Schuld“ auf den Bildern aufzudecken und „den Schuldigen zu bezeichnen“ (Walter Benjamin, „Kleine Geschichte der Fotografie“, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, a. a. O., S. 368–385, hier: S. 385. Die Rekonstruktion führte dann nicht nur zur Neubeschriftung der fraglichen Bilder, sondern auch zu einer genaueren Reflexion über den Status von Fotografien als Dokumente: „Die Fotografie gilt als das Medium, das die Wirklichkeit unverfälscht und wahrheitsgemäß abbildet. Dabei ist das Bild immer nur ein Ausschnitt dessen, was vor dem Objektiv geschah, es zeigt einen kleinen Moment aus dem Zeitablauf. Wie jedes schriftliche Dokument verlangt auch die Fotografie einen quellenkritischen Umgang. Anders als der abstrakte Text suggeriert das gegenständliche Bild dem Betrachtenden, er oder sie sei Zeuge des Geschehens. Die Fotografie ist eine noch wenig genutzte Quelle. Zu vielfältig scheinen die Probleme bei der Überprüfung von Authentizität und Wahrheitsgehalt zu sein. Gleichzeitig verstärken die fehlenden oder widersprüchlichen Angaben in den Archiven die bestehende Unsicherheit im Umgang mit bildlichen Quellen. Das methodische Handwerkszeug zur angemessenen Deutung von Fotos ist bisher kaum entwickelt“ (Hamburger Institut für Sozialforschung, Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944, Ausstellungskatalog, Hamburg: Hamburger Edition 2002, S. 106).