05 2008
Ursachenmetaphysik
Von den Wahrheiten der Anderen
Subalterne können nicht sprechen und Wilde haben keine Kultur. Worin gleichen sich diese Behauptungen, die doch aus scheinbar so unterschiedlichen diskursiven Kontexten gerissen sind? Während die letztere eine imperiale Geste kolonialer Selbstherrlichkeit in Begriffe zwängt, bringt die erstere eine postkoloniale Kritik am hegemonialen Selbst(miss)verständnis auf eine – vielfach unverstandene – Formel. Dennoch funktionieren beide wie zwei Seiten derselben Münze, desselben Tauschgelds, das die Maschinerie der globalisierten Unrechtsverhältnisse schmiert.
Subalterne können nicht sprechen, sagt Gayatri Spivak und fügt später erklärend hinzu, „das meint also, dass sogar dann, wenn die Subalterne eine Anstrengung bis zum Tode unternimmt, um zu sprechen, dass sie sogar dann nicht fähig ist, sich Gehör zu verschaffen.“[1] Es geht demnach weniger darum, ob Subalterne sprechen, als vielmehr darum, ob sie gehört werden und – genauer noch – von wem sie wie gehört werden. Aber gilt nicht für die Idiotie des Eingangsstatements ‚Wilde haben keine Kultur‘ genau dasselbe? Ebenso wenig wie beim Sprechen geht es dabei um ‚Kultur‘, sondern vielmehr um die Wahrnehmung/Anerkennung von etwas, das einzig dafür erfunden scheint, um die (subalternen) Anderen aus der Hegemonie des Sprechens auszuschließen und sie zu ‚Wilden‘ zu stempeln.
In gewisser Hinsicht erscheint die hier aufgeworfene Problematik von Artikulation und Anerkennung wie ein verspätetes Nachbeben einer von der gegenwärtigen neoliberalen globalisierten Welt(un)ordnung verschütteten Dialektik. Die aktuelle Form der Anerkennung der/s Anderen entspricht viel eher einer konsumierbar gemachten Produktivität von Differenz. Grob gesprochen stellt sich die Krise des globalen Kapitalismus in sozialer Hinsicht etwa so dar: Die rastlose Ausbreitung der Kapitalien bedient sich an den Bruchstücken beliebiger ‚kultureller‘ Differenz, um die Monotonie – und Unerträglichkeit – der ausbeuterischen Hegemonie konsumierbar zu machen. Ein schillernder Schleier von Multikulturalität, der aus einer möglichst globalen Vielfalt von produktiv gemachter Differenz gewebt ist, soll die Verwandlung von gesellschaftlichen Verhältnissen in warenförmige verdecken. Anders ausgedrückt: Differenz zu den bestehenden Machtverhältnissen wird in einem Prozess der Assimilierung von Differenz selbst verwertbar gemacht. Die gleichzeitige Produktion und Konsumption von Differenz ermöglicht es dem Kapitalismus, seine eigene Grenze stets vor sich her zu schieben, und erklärt auch, warum Konzepte wie die von Homi Bhaba vorgeschlagene Hybridität[2] durchaus nicht problemlos als politisch subversiv zu feiern sind.
Ich werde im vorliegenden Text versuchen, einige in dieser Einverleibung von Differenz wirksamen Mechanismen freizulegen, um dann der Frage nachzugehen, welche möglichen Folgerungen für die Politiken von Differenz und Subjektivität sich daran knüpfen lassen. Ich werde mich auf die Darstellung von zwei konkreten Fällen von (subalternem) Sprechen im zeitgenössischen Zentralamerika beschränken, doch die Notwendigkeit der Selbstverortung macht zunächst einen kleinen Umweg über das kontinentale Festland des okzidentalen Denkens erforderlich.
In erster Linie ist festzuhalten, dass die oben beschriebene Assimilierung von Differenz keinesfalls für einen postmodernen Trick des Neoliberalismus gehalten werden darf. Die Mechanismen zur – nicht nur diskursiven – Einverleibung der/s Anderen speisen sich vielmehr aus den untergründigen Quellen des okzidentalen Denkens selbst. Darum ist es auch so schwer, den Schlichen der Vernunft zu entkommen, ihre Fallen sind inmitten des Bewusstseins aufgestellt. Wenn etwa Hegel über die Prinzipien dessen, was er ‚Geist‘ nennt, räsoniert, liest sich das wie ein koloniales Handbuch zur Weltherrschaft: „Das Princip des europäischen Geistes ist daher die selbstbewusste Vernunft, die zu sich das Zutrauen hat, dass Nichts gegen sie eine unüberwindliche Schranke sein kann, und die daher Alles antastet, um sich selber darin gegenwärtig zu werden. Der europäische Geist setzt die Welt sich gegenüber, macht sich von ihr frei, hebt aber diesen Gegensatz wieder auf, nimmt sein Anderes, das Mannigfaltige, in sich, in seine Einfachheit zurück.“[3] Vermutlich ist mit der von multikultureller Politik erhobenen Forderung nach Integration wenig anderes gemeint als die rückhaltlose Unterwerfung unter diese zwingende Mechanik hegemonialer Einverleibung.
Doch auch wer nicht im Brustton Hegel’scher Überzeugung das Hohelied des (eigenen) Geistes deklamieren will, wird es schwer haben, die Möglichkeit des Denkens – und vernehmbaren Sprechens – Anderen einzuräumen, ohne an die Eckpfeiler des okzidentalen Selbstverständnisses zu rühren. Merleau-Ponty etwa gibt zu bedenken, dass emanzipatorische Menschenfreundlichkeit dafür keine ausreichende Bedingung ist: „Ich schließe mit dem Anderen einen Pakt, ich bin zum Leben in einer ‚Mitwelt‘ entschlossen, in der ich dem Anderen so viel Platz einräume wie mir selbst. Doch dieser Entwurf der Mitwelt bleibt der meinige, und es wäre schlechterdings unaufrichtig, zu meinen, ich wollte das Wohl des Anderen so wie das meine, da auch diese Verhaftung an das Wohl des Anderen noch von mir her kommt.“[4]
Welche Fluchtlinien gibt es aus dem sich im Kreis drehenden, sich selbst setzenden Denken, das für den/die Anderen nur Leerstellen und Schweigen bereithält? Was bleibt von den Konstruktionen der abendländischen Philosophie stehen, wenn wir an den Schlussstein des Descartes’schen cogito sum rühren? Einer der am weitesten reichenden Kollateralschäden einer solchen Dekonstruktion trifft zweifellos identitäre Politik. Bemühen wir uns also im Folgenden, das Ich als Gedankenursache einzuklammern, jenen „Subjekt- und Ich-Aberglaube[n]“, den Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse als „folgenreichste Ursachenmetaphysik“ denunziert.[5] Vergessen wir nicht, dass sich Intelligibilität, d. h. die Fähigkeit zu denken, sprechen, hören etc., nicht aus sich selbst konstituiert, sondern immer nur im Verhältnis zu Anderen herstellt. Sie bewegt sich, „indem sie das verändert, was sie aus ihrem ‚Anderen‘ – dem Wilden, der Vergangenheit, dem Volk, dem Wahnsinnigen, dem Kind, der Dritten Welt – macht.“[6]
Wer sind die Toten?
„Um die Lebenden zu verstehen, muss man wissen, wer ihre Toten sind. Und man muss wissen, wie ihre Hoffnungen geendet haben: ob sie sanft verblichen, oder ob sie getötet worden sind. Genauer als die Züge des Antlitzes muss man die Narben des Verzichts kennen.“[7]
Wer sind die Toten des guatemaltekischen Bürgerkriegs, der nach dem Versuch einer Enteignung der United Fruit Company durch eine von Honduras aus befehligte US-amerikanische Militärintervention entfacht wurde und während seiner gesamten 36-jährigen Dauer von den Mitteln der US-Aid und der anglikanischen Kirchen Nordamerikas mitgetragen wurde? Die vom „Projekt zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung“ erhobenen Zahlen sprechen eine drastische Sprache – 200.000 Tote, 1 Million Vertriebene.[8] Von den 20.000 Vermissten, die nach über 600 Massakern an den Bevölkerungen ebenso vieler Dörfer in Massengräbern verscharrt wurden, ist heute, nach dem seit mehr als 10 Jahren unterzeichneten Friedensabkommen, erst ein verschwindender Teil wieder ausgegraben worden.[9] Aber die Sprache der Statistik ist unzulänglich, um ‚die Narben des Verzichts‘ nachzuzeichnen; die Spuren dieser Narben im Begehren der Überlebenden zu entdecken ist die einzige Form, wie die zum Schweigen gebrachten Hoffnungen vernehmbar gemacht werden können. Sie verweisen uns auf einen Diskurs der ZeugInnenschaft, in dem weniger die Wahrheit über die Anderen zur Sprache kommt als vielmehr eine Wahrheit der Anderen. Ein berühmt gewordenes Zeugnis des guatemaltekischen Bürgerkrieges vergegenwärtigt sowohl das Töten als auch den Anblick der Toten aus der Perspektive der indigenen Landbevölkerung:
„Wie auch immer, sie [die Soldaten der guatemaltekischen Armee] stellten die Gefolterten in einer Reihe auf und übergossen sie mit Benzin; und dann zündeten die Soldaten jeden einzelnen an. Vielen baten um Gnade. Einige schrieen, andere bewegten den Mund, aber brachten keinen Laut hervor – bestimmt, weil ihnen der Atem abgeschnitten war. Aber – und für mich war das unglaublich – viele Leute hatten Waffen dabei, die, die auf dem Weg zur Arbeit waren, hatten Macheten, andere hatten gar nichts in den Händen, aber als sie sahen, wie die Armee die Gefangenen anzündete, wollten alle zurückschlagen und dabei ihr Leben riskieren, trotz all der Waffen der Soldaten … Im Anblick ihrer eigenen Feigheit begriff selbst die Armee, dass alle Leute bereit waren zu kämpfen. Man konnte sehen, dass sogar die Kinder wütend waren, aber sie wussten nicht, wie sie ihre Wut ausdrücken konnten … Der Offizier gab der Truppe schnell den Befehl zum Rückzug.“[10]
Die geschilderte Exekution ereignete sich auf dem Marktplatz von Chajul, einer Kleinstadt im Hochland der K’iche. Unter den gefolterten und getöteten Gefangenen befand sich auch ein Bruder jener Frau, die vom Geschehen berichtet – Rigoberta Menchú, und eben diese Passage aus ihrer testimonialen Erzählung Ich heiße Rigoberta Menchú und so begann mein Bewusstsein wurde zur bevorzugten Zielscheibe einer sich über Jahre hinziehenden Debatte über Authentizität und Legitimation des Sprechens der Anderen. David Stoll hatte in seinen ethnographischen Forschungen herausgefunden, dass Menchú während des Vorfalls nicht persönlich dabei gewesen war und nahm diese – von Menchú bestätigte Tatsache – zum Vorwand, um die Wahrhaftigkeit der gesamten Erzählung in Zweifel zu ziehen.[11] Was Stoll mit der Anrufung einer (vermeintlich) unhintergehbaren Autorität der Fakten inszeniert, ist ein interessantes Lehrstück über hegemoniales Sprechen: Ein weißer Mann beschützt indigene Männer vor den Artikulationen einer indigenen Frau.[12] Stoll, der befürchtet, Menchús Zeugnis könnte Sympathie für die Befreiungsbewegung wecken, will die indigene Landbevölkerung vor dem Widerstand gegen die Staatsgewalt bewahren. Für ihn selbst ist Guerillakrieg per se nichts anderes als „eine städtische Romantik, ein Mythos, der von Linken aus der Mittelklasse aufgebracht wurde, die davon träumen, auf dem Land wahrhafte Solidarität zu finden“[13]. Rebellierende Subalterne würden demnach von Nicht-Subalternen instrumentalisiert – und wer dagegen spricht, wird in die Subalternität zurückverwiesen. „Die Debatte zwischen Menchú und Stoll dreht sich nicht so sehr um das, was sich wirklich ereignet hat, als darum, wer über die Autorität des Erzählens verfügt“, konstatiert John Beverley treffend in einer seiner Analysen dieser Auseinandersetzung.[14]
Ich möchte in diesem Gefüge von Subalternität, ZeugInnenschaft und autorisiertem Sprechen, in diesem strategisch betretenen Kampfplatz der Identität, eine etwas andere Problematik zur Diskussion stellen. Kehren wir zum Beginn des Textes zurück, um die Frage aufzuwerfen, in welcher Weise Rigoberta Menchús Differenz zu den bestehenden (guatemaltekischen) Machtverhältnissen in einem Prozess der Assimilierung von Differenz selbst verwertbar gemacht wurde. Zunächst gilt es zu klären, ob es sich dabei überhaupt um Differenz handelt, und wenn ja, ob deren Anerkennung stattgefunden hat. Alle Indizien identitärer Logik sprechen dafür, beide Fragen bejahend zu beantworten: Menchú ist Frau, indigen, stammt aus einer Familie von marginalisierten LandarbeiterInnen, deren Angehörige fast alle im Krieg umgebracht wurden, sie spricht K’iche, hat Spanisch, das in Guatemala als hegemoniale Sprache gelten muss, erst spät gelernt, und sie drückt sich in ihrem zitierten Testimonio durch die Vermittlung einer argentinisch-französischen Anthropologin aus. Die Anerkennung dieser Differenzen ist bereits 1992 durch die Verleihung des Friedensnobelpreises erfolgt, und sogar die oben referierte Debatte kann als eine Art von negativem Beweis der Anerkennung gelten: Immerhin wurde ihrem Sprechen zugemutet, Differenz zum repressiven Staatsapparat hervorzubringen.
Lässt sich aber auch davon sprechen, dass diese Differenzen in einem Assimilierungsprozess produktiv gemacht worden sind? Offensichtlich. Der Nobelpreisträgerin wurde in Mexiko politisches Asyl gewährt und sie hat seitdem kaum eine Gelegenheit versäumt, den zapatistischen Aufstand im Süden Mexikos als verspätete, übernächtige und unangemessene Rebellion gegen eine humanitär fortschrittliche Verwaltung zu denunzieren.[15] Nach Guatemala zurückgekehrt, distanzierte sie sich von den organisierten sozialen Bewegungen des Landes, selbst von dem – von ihrem Vater mitbegründeten – Comité Unidad Campesina (CUC; Komitee der bäuerlichen Einheit), dem sie zur Zeit der Verfassung ihres testimonio noch eng verbunden gewesen war. Stattdessen verschaffte sie der damaligen rechtskonservativen Regierung unter Präsident Oscar Berger in ihrem Amt als staatliche ‚Botschafterin des guten Willens‘ in der internationalen Politik einen Anschein von Offenheit gegenüber den Anliegen der indigenen Mehrheitsbevölkerung.
Dieser assimilierten Differenz ist erst unlängst die Anerkennung verweigert worden, und dies von einem Agenten, dem in den bisher referierten Auseinandersetzungen immer nur die Rolle von schweigenden (und manipulierten) Subalternen zugewiesen worden war – nämlich den indigenen Bevölkerungen Guatemalas. Rigoberta Menchú hatte im Herbst 2007 – als einzige Frau und als einzige Indigene – für die Präsidentschaft des Staates kandidiert und erhielt im ersten Wahlgang weniger als 3% der abgegebenen Stimmen. Anfang November desselben Jahres entschieden sich die WählerInnen für Álvaro Colom, den Kandidaten der politischen Nachfolgeorganisation der vereinigten Guerrillagruppen (URNG; Revolutionäre Nationale Einheit von Guatemala). Hat die Bevölkerung des Landes ihrer wohl berühmtesten Bürgerin die Anerkennung versagt, weil sie genau das nicht – oder in ungenügender Weise – gemacht hatte, was Stoll ihr vorwarf: nämlich die Forderungen der sozialen Bewegungen und Guerillagruppen zu unterstützen?
Das Magma des Sozialen
Gewiss, soweit sich das im beschränkten Rahmen des vorliegenden Textes erkunden lässt, haben sich die eingangs skizzierten Bedenken an den Politiken der Identität bestätigt. Nicht nur dass die hegemoniale Rechtsetzung durch ihr Unverständnis für die Wahrheit der/s Anderen in jenen haltlosen Strudel der Selbstvergewisserung gerät, der die Autorität des eigenen Sprechens auf einen Nomos der Universalität zutreibt, um schließlich das Subjekt der Aussage – einer Kant’schen Formel folgend – ‚vermöge eines Vermögens‘ zu behaupten.
Auch das nicht-hegemoniale Sprechen verheddert sich bei der Verteidigung seiner in Frage gestellten Identität, und zwar durch die Anrufung einer Kollektivität, die der Vielfalt einen anderen Namen gibt und damit die Heterogenität und Differenz des Eigenen in eine größere – und unübersichtlichere – Dimension verschiebt.
Doch diese Mikroskopie theoretischer Abstraktion hat den Blick auf das historisch-politische Gefüge verloren, in dem sich die Auseinandersetzung von Anspruch und Anerkennung entfaltet. In der Sprache der gegenwärtigen politischen Hegemonie kritisieren die Erben von Expansion, Kolonialismus und Rechtsetzung, die historisch sowohl im Namen der Identität der Macht als auch der Macht der Identität erfolgte, das Aufbegehren der Unterworfenen, Marginalisierten und Subalternisierten, die das Recht auf eine eigene äquivalente und zugleich differente Identität einfordern. Ironischerweise wird die Kritik der Identität umso lauter, je mehr es den ‚Verdammten dieser Erde‘ gelingt, sich aus den Politiken der Identität Waffen in ihrem Kampf um Anerkennung zu schmieden.
Führen wir uns eine solche prekäre Umkehrung der Subjektpositionen an einem konkreten Beispiel vor Augen. Der betreffende Vorfall ereignete sich im an Guatemala angrenzenden mexikanischen Chiapas kurz nach den Attentaten von 9/11, und auch dabei ging es um die Frage ‚Wer sind die Toten?‘ Ich war dort zu dieser Zeit mit einem Medienprojekt für kommunale Kommunikation beschäftigt und hatte für eine anstehende Wanderkinotournee eine videographische Zusammenfassung der Fernsehberichterstattung über die viel diskutierten Ereignisse erstellt. Diesmal bestand die Besonderheit der Bilderprojektionen für rebellische BewohnerInnen abgelegener Regenwalddörfer in der Teilnahme eines jungen Mannes aus New York, der Augenzeuge des Zusammenbruches des World Trade Centers geworden war. Der New Yorker war für einige Monate in die aufständische Region gekommen, um soziale Arbeit zu leisten, und freute sich über die ihm gebotene Gelegenheit, persönlich Zeugnis eines anderen Amerika ablegen zu können. Er wurde in den Dörfern freundlich begrüßt und nach der Projektion der Fernsehbilder um seinen Bericht gebeten. Tatsächlich konnte der Augenzeuge von erstaunlichen Dingen berichten, die in der satellitalen Informationsdiffusion mit keinem Wort erwähnt worden waren. Er konzentrierte sich darauf, von den im Anschluss an die Ereignisse stattgefundenen Demonstrationen zu erzählen, die seiner Auskunft zufolge ganz anders verlaufen waren, als es ihre mediale Repräsentation suggeriert hatte. Er verbreitete die Nachricht von tausenden Menschen, die trotz der hegemonialen identitären Politik, die im Handumdrehen Personen, Namen, Fundamentalismen und Schurkenstaaten zur Projektionsfläche des Hasses machte, Frieden forderten, Vergeltung ablehnten und zur Reflexion aufriefen.
Ein Lehrer der autonomen Bezirke erhob sich und unterbrach den Berichtenden höflich. Von welcher Reflexion denn die Rede war, fragte er, ob er vielleicht nicht wisse, dass sich die USA durch ihre eigenen Taten die Feindschaft der ganzen Welt eingehandelt hätten; und er begann ihm eine beeindruckende Reihe von Militärinterventionen, Staatsstreichen, Aufstandsbekämpfungen und ökonomischen Blockaden aufzuzählen, die allesamt von US-amerikanischen Regierungen gegen souveräne Staaten des globalen Südens orchestriert worden waren. Was für ein Frieden denn gefordert wurde, fuhr er fort, ob ihm nicht klar sei, dass überall auf der Welt permanenter Kriegszustand herrsche und es nicht weiter überraschend sei, wenn dieses Mal die Häuser, die mit den Profiten dieser Kriege gebaut wurden, den Kriegstreibern selbst auf den Kopf fielen. Und, so fuhr der Lehrer mit einer identitären Affirmation fort, die Ereignisse seien trotzdem bedauerlich, denn schließlich seien es doch ‚seine‘ Leute, die die Mehrzahl der Toten ausmachten, MigrantInnen aus Mexiko, Guatemala, Salvador, Nicaragua usw.
Viele der Anwesenden hatten sich während der flammenden Rede erhoben, und dem New Yorker war in seiner Rolle des Zeugen offensichtlich unwohl geworden; er wurde unvermutet für etwas verantwortlich gemacht, von dem er sich nicht zuletzt durch seinen Entschluss zu sozialer Arbeit im marginalisierten Krisengebiet freigesprochen glaubte. Doch die Ansprache endete versöhnlich: Er brauche keine Angst zu haben, hier in den aufständischen Dörfern seien alle willkommen, die sich die Mühe machten, hinzugelangen. Er bekäme hier zu essen und einen Schlafplatz, auch wenn er selbst, so der Lehrer, in New York wohl niemals so empfangen werden würde.
Das ‚Magma des Sozialen‘ – um einen von Cornelius Castoriadis geprägten Begriff aus dem verbreiteten Schweigen zu bergen[16] –, in dem sich die Instituierung von Gesellschaften und deren Kritik durch die Kämpfe um Anerkennung und Selbstbestimmung ereignen, droht in den gegenwärtigen politischen Diskursen hinter den Stratifizierungen und Segmentierungen von ‚Kultur‘ zu verschwinden. Die Übersetzung von sozialer Dissidenz in kulturelle Differenz bringt eine schleichende Essenzialisierung der Andersheit mit sich, die Raum für politische Indifferenz schafft und nicht-essenzialistische Gegenstrategien scheinbar problemlos assimiliert und konsumiert. „Der Begriff der Kultur verwandelt die Hierarchien globaler Privilegien in eine horizontale Anordnung einander indifferenter Kulturen. Er ersetzt den Begriff der Klasse – nicht aber ihre Herrschaft“, lautet die präzise Bestandsaufnahme von Hito Steyerl.[17] Hegemoniale Strategie zielt nicht so sehr auf den Ausschluss der Anderen ab – eine Gesellschaftsordnung, die kein Außerhalb zu kennen scheint, stellt Differenz notfalls auch künstlich her. Das befestigt die soziale (biopolitische) Kontrolle ebenso, wie es das Warenangebot verändert und erneuert. Auf dem Spiel steht vielmehr ein Zum-Schweigen-Bringen jener (Subalternen), die Gleichheit und Solidarität als eine Form der aktiven Anerkennung von Differenz einfordern.
Können wir demnach nichts anderes tun, als „einen strategischen Gebrauch des positivistischen Essenzialismus in einem deutlich sichtbaren politischen Interesse“[18] zu inszenieren, wenn wir den Umbau der bestehenden Verhältnisse vorantreiben wollen? Wenn der soziale Sinn der Existenz durch den gesellschaftlichen Zusammenhang gewährleistet wird, so gewinnt das individuelle Dasein seine Bedeutung in der Abweichung, der Differenz. Wie aber diese Differenz jenseits von kapitalisierender und kulturalisierender Assimilierung wahrnehmen? Anstelle einer Antwort möchte ich Merleau-Ponty paraphrasieren: Unser Begriff vom Menschen bleibt oberflächlich, solange wir nicht diesseits des Lärms der Worte das Schweigen ahnen und die Geste zu fassen vermögen, die dieses Schweigen bricht.[19]
[1] Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien: Turia + Kant, 2007, S. 127.
[2] Vgl. Homi Bhabha, The Location of Culture, London u. New York: Routledge 1994.
[3] G. W. F. Hegel, Die Philosophie des Geistes, in: System der Philosophie, Dritter Teil (Sämtliche Werke, Bd. 10), hg. v. F. Frommann, Stuttgart 1965, S. 77.
[4] Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: Gruyter 1966, S. 408 (Hervorhebung im Original).
[5] Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, München 1980, S. 9–243, hier: S. 11 u. 30.
[6] Michel de Certeau, Das Schreiben der Geschichte, Frankfurt/Main: Campus 1991, S. 13.
[7] Manes Sperber, Wie eine Träne im Ozean, München: dtv 2000, S. 698.
[8] Vgl. Oficina de Derechos Humanos, Guatemala: Nunca Más. Informe del Proyecto de Recuperación de la Memoria Histórica (REMHI), Guatemala 1998, 4 Bde. Der Projektbericht macht die staatliche Armee für mehr als 90 % aller Opfer verantwortlich.
[9] In seinem in derselben Ausgabe von transversal erscheinenden Text gibt Santiago Cotzal bewegende Einblicke in die soziale Dynamik der Spurenfindung von Kriegsopfern in Guatemala.
[10] Rigoberta Menchú u. Elizabeth Burgos, I, Rigoberta Menchú: An Indian Woman in Guatemala, London: Verso 1984, S. 179. Ich zitiere die englische Übersetzung von Ann Wright, da deren Wortlaut zur Grundlage der im Folgenden referierten Auseinandersetzung wurde. Das Buch heißt in der spanischen Originalfassung: Me llamo Rigoberta Menchú y así me nació la conciencia, México: Siglo XXI, o. J. (für eine deutsche Übersetzung von Menchús vollständigem Bericht vgl. Elisabeth Burgos, Rigoberta Menchú. Leben in Guatemala, Bornheim-Merten: Lamuv 1984).
[11] Vgl. David Stoll, Rigoberta Menchú and the Story of All Poor Guatemalans, Boulder: Westview Press 1999. Menchú erwiderte, von dem Vorfall durch die Anwesenheit ihrer Mutter gewusst zu haben, und argumentierte, dass ihre Schilderung mehr den Charakter eines kollektiven denn eines individuellen Zeugnisses habe (Rigoberta Menchú in einer Pressekonferenz am 20. Jänner 1999, vgl.: Matilde Pérez, „La Nobel se defendió“, in: La Jornada, 21. Jänner 1999; John Beverley gibt als Nachweis für Menchús Stellungnahme ein Interview mit Juan Jesús Arnárez an: „Wer mich angreift, bedroht die Opfer“, in: El País, 24. Jänner 1999, vgl. John Beverley, Testimonio. On the Politics of Truth, Minneapolis: University of Minnesota Press 2004, S. 110, Fußn. 4).
[12] Durch diese Verknappung wird Stolls Intervention als Variante einer „männlich-imperialistische[n] ideologische[n] Formation“ (Gayatri Spivak, Can the Subaltern Speak?, a. a. O., S. 78) kenntlich, für die Spivak die Formel: „Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Männern“ prägt (ebd., S. 78).
[13] David Stoll, a. a. O., S. 282.
[14] John Beverley, „What Happens When the Subaltern Speaks“, in: Ders., Testimonio, a. a. O., S. 81.
[15] Menchú hat diese Einschätzungen meines Wissens nie gedruckt veröffentlicht, in ihren Reden aber immer wieder betont. So etwa anlässlich ihrer Eröffnungsansprache des Congreso Mesoamericano de Anthropología an der Universität von Xalapa, Veracruz, Mexico 2002. Der Spott über das „Übernächtige“ der Aufstandsbewegung taucht auch in der Rhetorik der mexikanischen Regierung wiederholt auf und bezieht sich insbesondere auf den Zeitpunkt, an dem die EZLN an die Öffentlichkeit getreten ist – im Morgengrauen des Neujahrstages 1994.
[16] Vgl. Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990.
[17] Hito Steyerl, „Culture and Crime“, http://eipcp.net/transversal/0101/steyerl/de
[18] Gayatri Spivak, In Other Worlds: Essays in Cultural Politics, New York: Methuen 1987, S. 205.
[19] Vgl. Maurice Merleau-Ponty, a. a. O., S. 218 (Zitat leicht verändert, Hervorhebung vom Autor).