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03 2022

Dies ist keine „ukrainische Angelegenheit“: Ein Brief über Aktivismus und Kulturproduktion im Krieg

Olexii Kuchanskyi

Übersetzt von Gerald Raunig

*Vzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvz hvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzhvzh* - Was ist das? Sirenen? Grads[1]? Russische Luftstreitkräfte? Oh, es ist der Kühlschrank. Aufwachen, der dritte Tag der russischen Invasion in der gesamten Ukraine. Drei Stunden Schlaf.

***

Der erste Tag mit echten Sirenen. *Uuuuuuuuummmmmm* - "Ich habe keine Schutzräume in der Nähe. Ich bleibe besser zu Hause." Ich habe versucht, meine_n Partner_in anzurufen, der_die in einer anderen Stadt war. *U-u-u-u-u-u - keine Antwort - u-u-u.*

*Vzhvzhvzhvzvzh.* Die nächsten zwei Sekunden: Ich sehe durch das Fenster ein russisches Flugzeug. Dritte Sekunde: Explosion am Horizont. Vibrierende Wände. Frustriert gehe ich ins Bett, als ob nichts passiert wäre. Habe mein Telefon immer noch an. *U-u-u.* "Hallo ..." Hm.

***

Noch am Tag der Invasion wollte ich das Thema meines Artikels klarkriegen, den ich für eine russische Zeitschrift für zeitgenössische Kunst und Theorie schreiben sollte. Die Ausgabe sollte sich mit Dekolonialität befassen. Wie ironisch.

Da ich in Eile bin ...

*Piep*

(Muss queeren Flüchtlingen aus der Ukraine antworten und sie mit Freund_innen aus Europa zusammenbringen).

Da ich in Eile bin, nehme ich ein beliebiges Buch von meinem Tisch - irgendetwas. Nicht eines über Dekolonialität. Ich werde jetzt nicht gleich auf den Text eingehen, aber es gibt einen Aspekt, der schon jetzt erwähnt werden sollte: Was wäre, wenn es ein wesentliches Merkmal der Dekolonialität selbst gäbe, neben (nicht anstelle von) den Argumenten und Begriffen aus den Büchern?

Vielleicht hat Dekolonialität nicht unbedingt etwas mit den Bibliotheken der großen Institutionen zu tun. Solche Einrichtungen in Moskau und Sankt Petersburg bleiben jetzt geöffnet. Die Situation in Kiew, Odessa und Donezk ist eine ganz andere. In allen diesen ukrainischen Städten gibt es Explosionen (nicht von Texten über den decolonial turn, sondern buchstäbliche Explosionen). Wie alles und jede_r andere stehen auch die Universitäten, die Theorie, die Museen, die Künstler_innen und die Kunst unter Beschuss. Vielleicht hat Dekolonialität gerade damit zu tun, wie man_ seine/ihre aktuelle(n) Bedingung(en) bedenkt. Bedingung(en), mit denen man_ sich auseinandersetzt, ohne dem Chor Klischees über "Inklusivität" zu predigen. Warum funktioniert dieser Trick mit den Klischees immer?

*Piep*

(Mein_e Liebste_r ist auch aufgewacht. Er/sie hat eine Nacht in der Metro verbracht, die ihnen derzeit als Unterkunft dient. Ich frage,

"Wie geht es dir?" Antwort: "Mir geht's ... Oh, Sirenen, schon wieder.")

Wahrscheinlich stimmt mit all diesen "fortschrittlichen" Einrichtungen, neuen Institutionalitäten usw. etwas grundlegend nicht, wenn sie sich so leicht vom Putinismus vereinnahmen lassen - einer sehr spezifischen Form des Imperialismus, die in der globalen kapitalistischen Ordnung eine wesentliche Rolle spielt. Viele dieser Kultureinrichtungen leben im Einklang mit dem Putinismus und dem globalen Kunst- und Theoriemarkt. So ist es nicht verwunderlich, dass sie auf die brutale russische Invasion in der Ukraine in keiner Weise reagieren können.

Damit meine ich nicht nur russische Institutionen, sondern alle, die so tun, als seien Kunst und Kultur kein globaler Markt, kein riesiges Netzwerk von Praktiken mit einer langen Geschichte transversalen Handelns als künstlerische, theoretische und politische Praxis. Diese Institutionen wie die Biennale von Venedig geben viel eher vor, dass Kunst und Kultur machtlose Unterhaltung wäre. Domestizierte Akteur_innen diskutieren in diesem Zusammenhang über das "Anthropozän" und ignorieren zugleich das russische Militär, das das Atomkraftwerk Tschernobyl besetzt hat. Ja, das ist unoriginell, aber diese Stille ist unsere Sirenen, Explosionen, Schüsse und Schreie. Ich kann kaum den Unterschied zwischen einer "Dekolonisierung der Vorstellungskraft", die von ihren eigenen politischen und sozialen Bedingungen isoliert ist, und Konformismus sehen. Wahrscheinlich ist diese Isolierung das Hauptmerkmal der putinistischen Kulturproduktion - im Allgemeinen ganz ok, aber das ist ihr entscheidendes Problem. Es scheint auch der effektivste Weg zu sein, um kritische Diskurse ...

*Vzhvzhvzhvzhvzhvzhvzh* - Was ist das? Ein Auto. Hm.

... um kritische Diskurse im Status von nutzlosen Fetischen zu belassen.

Im Moment gibt es für mich keine Möglichkeit, an "klaren" Begriffen zu arbeiten, also sind Andeutungen und Metaphern meine einzigen Mittel. Hier gibt es offensichtlich keine Bibliotheken, nur ein Buch, Sirenen und Explosionen. Mit Putinismus meine ich diese seltsame Art von riesiger, nichtmenschlicher Kriegstechnologie, die auf der Verschmelzung von juristischem Neopatriarchat, rassistischer Gewalt, neoliberalem Kapitalismus, politischem Isolationismus, Desinformation und modernster Überwachungsausrüstung beruht. Gas, Öl, Waffen und menschliches Fleisch, das für einen unsinnigen automatisierten Krieg sterben soll, heteronormativer Faschismus, der menschliche Ressourcen reproduziert. Sogar dieser Faschist selbst ist nur ein fleischlicher Bestandteil dieses Mechanismus. Sein pseudo-historisches Narrativ vom "großen russischen Imperium" ist ein Klick einer Waffe - sie ist geladen. Menschenrechte werden ignoriert. Der Putinismus ist die dunkle Bahn des Posthumanismus unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus und der "Karbondemokratien".

Ich schreibe "Putinismus" nicht groß, um ihn besonders auszuzeichnen, sondern weil ich glaube, dass er bald zu Ende sein wird und nie wieder geschehen wird. Er ist ein Name, kein Begriff. Niemand kann vorhersehen, welche Auswirkungen diese nicht-menschliche Technologie für die Völker der Welt, für den Planeten haben wird. Denn sie kann sogar tun, was «jedermann in der Geschichte getan hat», wie dieser Faschist es mit der Andeutung eines Atomangriffs formuliert hat.[2]

Kernkraftwerke[3] und Lagerstätten für radioaktive Abfälle[4] sind großen Risiken ausgesetzt. Das ist keine Paranoia. Russische Kämpfer haben sie bereits in Gefahr gebracht.

Der Krieg in der Ukraine ist keine "ukrainische Angelegenheit". "Planetarisch" ist kein genauer Begriff, aber er passt hier viel besser als in den Ankündigungen von Projekten von Institutionen, die Kriege ignorieren, die von den Quellen ihrer "Kritik" initiiert und geführt werden.

Und doch kämpfen viele Menschen aus der Russischen Föderation nicht nur heute, sondern seit langem täglich gegen den Putinismus, als kulturelle und politische Aktivist_innen, Künstler_innen, Kurator_innen, Forscher_innen, Freiwillige, Gewerkschaftsaktivist_innen, feministische Medienaktivist_innen, Umweltschützer_innen und viele andere mit kompromisslosen politischen Ansichten. Ich kenne viele dieser Menschen persönlich. Ebenso viele kämpfen regelmäßig in Belarus, Kasachstan, Georgien und bei allen indigenen Völkern der Russischen Föderation. Der Putinismus kann als ein Netzwerk sozialer, politischer, administrativer, wirtschaftlicher und affektiver Beziehungen betrachtet werden, die auf Angst und Frustration basieren. Das schreckliche internationale Verbrechen, das am frühen Morgen des 24. Februar begann, muss nicht nur eine große Tragödie, sondern kann auch eine Gelegenheit der Konsolidierung werden, um diese Beziehungen neu zu gestalten.

Es ist absolut unvorstellbar, aber dies scheint eine Zeit zu sein, in der eine binäre Opposition nützlich wird. Doch die Differenz besteht weder zwischen Russ_innen und Ukrainer_innen noch zwischen Russland und der NATO. Die Gegensätze sind der Putinismus, eine Kraft, die Zivilist_innen und die Umwelt tötet, um noch mehr zu töten, und andererseits ein transnationales Netzwerk derjenigen, die an eine Zukunft glauben, die eine Alternative zu dieser schaurigen, zerstörerischen, entfremdeten Technologie des Kriegs darstellt.

Das einzige Buch, das ich zur Hand habe, ist The Right to Truth: Conversations on Art and Feminism, von Oksana Bryukhovetska und Lesia Kulchynska herausgegeben und 2019 in Kiew erschienen. In einem der darin abgedruckten Gespräche sagt die Künstlerin und Aktivistin Dana Kavelina, dass Empathie ein Mittel des Kampfes ist. Sie ist eine Waffe, die vom Putinismus nicht eingesetzt werden kann. Und unter den aktuellen Bedingungen scheint sie nicht weniger kritisch zu sein als Sachbücher und ...

*Uuuuuuuuuuuuuuuuummmmmmmmmm*

Eine Sirene. Ich sollte gehen. Kein wirklich guter Zeitpunkt zum Schreiben.

***

Kurz, aus dem Schutzraum:

Solidarität ist eine Möglichkeit, den Putinismus als Technologie zu neutralisieren.

Aber es gibt keine Solidarität, wenn man sich nicht im Klaren darüber ist, auf welcher Seite man steht.

Kulturkritiker_innen, Linke, Feminist_innen, Ökoaktivist_innen weltweit, alle, die dies lesen: Es geht nicht um eine "ukrainische Angelegenheit". Es ist eine Frage des Kampfes gegen den globalen Kapitalismus, gegen das Patriarchat und für die Rettung der Umwelt.

Beendet die Zusammenarbeit mit russischen Kunst- und Kultureinrichtungen, die sich nicht gegen den Krieg positionieren! Helft den Flüchtenden an den Grenzen!

 

Dieser Text wurde geschrieben, um das Ereignis des ersten Raketenangriffs auf ein ziviles Wohnhaus in Kiew am 26. Februar 2022 zu verarbeiten. Seit diesem Tag sind ukrainische Städte und Dörfer ständigen Raketenangriffen ausgesetzt, selbst Lwiw, das etwa 70 km von der Ostgrenze der EU entfernt liegt, wurde einige Male getroffen. Mariupol, Cherson, Charkiw, Tschernihiw, Sumy und viele andere Städte wurden mit extremer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung angegriffen. So geben die Behörden von Mariupol an, dass während der Blockade und des ständigen Beschusses der Stadt mehr als 5000 Menschen getötet wurden, darunter 210 Kinder. Mehr als 2000 Häuser wurden beschädigt, das sind 90 % des Wohnungsbestandes. Vor der Blockade verließen etwa 140000 Einwohner_innen Mariupol, danach wurden weitere 150 000 evakuiert. Die russischen Truppen haben etwa 30000 Einwohner_innen zwangsweise in ihr Gebiet deportiert. 170000 Bürger_innen verbleiben in der Stadt und müssen noch evakuiert werden.

 

Redaktion: Tamara Khasanova. Dank für Kommentare und Ratschläge an Mariia Vorotilina und Ira Konyukhova.