03 2022
Kriegerische Männlichkeit und autoritärer Populismus
Dreiunddreißig Jahre nach dem Mauerfall ist das Blockdenken zurück. Der demokratische „Westen“ gegen den autoritären „Osten“. Autoritäre Allianzen im „Westen“ treten in den Hintergrund, Kritik an den chronischen Schattenseiten liberaler Demokratie verstummen zusehends. Staaten werden umarmt, denen noch vor kurzem Rechtsstaatlichkeit und Demokratie abgesprochen wurden. Sie gehören wieder zum demokratischen Wir. Mit dem Krieg in der Ukraine wird Autoritarismus im „Westen“ auf das Putin-Regime externalisiert. Dabei breitet sich autoritärer Populismus seit langem in Europa aus, inmitten der liberalen Demokratie, in sich als illiberal bezeichnenden Staaten, aber nicht nur dort. Die Pandemie hat diese neoliberal-autoritaristische Transformation verstärkt. Wenn Unsicherheiten zunehmen und damit der Zwang zur Kontrolle steigt, greifen alle Seiten auf Identitarismen zurück, als hätte es die Kritiken daran nie gegeben.
Der Krieg ist eine Zeit der Re-Nationalisierung, eine Zeit, in der von allen Seiten zur Geschlossenheit aufgerufen wird. Doch schon die Zeit der Pandemie hat die Grenzen in das Innen Europas zurückgebracht, und die Zahlen national aufgeteilt. In der Bekämpfung der Pandemie ließ sich eine Re-Familialisierung im traditionellen heteronormativen Sinn beobachten.[1] Entgegen der These der Spaltung der Gesellschaft in Vernünftige, die sich an die Pandemieregeln halten, und solche, die sich nicht impfen lassen wollen und sich auf ihre Freiheit berufen, zeigen sich hier viel eher zwei Linien der zunehmenden Autoritarisierung der neoliberalen Gesellschaft, eingewoben in ein neues Biedermeier.[2] Natürlich muss man hinsichtlich einer autoritären Wende im liberal-demokratischen Teil Europas mindestens bis in die Austeritätspolitik der EU im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise zurückgehen, und noch weiter auf den neoliberalen Ab- und Umbau des Sozialstaates seit mindestens zwei Jahrzehnten und seine individualisierende Anrufungen von Selbstverantwortung. Ohne irgendeine Linearität autoritärer Entwicklung konstruieren zu wollen, will ich darauf hinaus, wie zutreffend und weitreichend Stuart Hall am Beginn neoliberaler Regierungsweisen, nämlich Ende der 1970er Jahre im Kontext der Thatcher-Regierung gedacht hat, als er den Begriff des „autoritären Populismus“ in die Diskussion brachte und ihn als Aspekt liberaler repräsentativer Form von Demokratie vorstellte.[3]
Autoritär-populistische und illiberale Kräfte bauen auf den konstitutiven Ungleichheiten und Herrschaftsmustern moderner liberaler Demokratie auf. Es ist eine der zentralen Aporien liberaler Demokratie, dass Demokratisierungsprozesse stattfinden, ohne diese Form von Demokratie in ihrer maskulinistischen, bürgerlichen und ausschließenden Grundkonstitution zu verändern. Stuart Hall hat deutlich gemacht, dass „autoritärer Populismus“ nicht aus dem Nichts entsteht. Er hat lange Kontinuitäten und erneuert sich aus der bürgerlichen Mitte heraus. Wiederkehrende Mittel autoritär-populistischer Mobilisierung sind „moralische Paniken“, geschürt durch Themen wie Sicherheit, Migration und sexuelle Liberalisierung.[4] Autoritärer Populismus richtet sich gezielt gegen eine freiere Gestaltung von Geschlechterverhältnissen und Sexualitätsregimen.
Die doppelte Männlichkeit der Krieger
Wladimir Putin hat in seiner Fernsehansprache am 24. Februar 2022, am Tag des Einmarsches in die Ukraine, gegen den „Westen“ unter anderem verlautbart: „In der Tat haben die Versuche, uns für ihre Interessen zu missbrauchen, unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns ihre Pseudowerte aufzuzwingen, die uns, unser Volk, von innen heraus zersetzen würden, nicht aufgehört, jene Haltungen, die sie bereits aggressiv in ihren Ländern durchsetzen und die direkt zu Degradierung und Entartung führen, da sie gegen die menschliche Natur selbst gerichtet sind.“[5]
Die „Pseudowerte“, um die es hier geht, die die „traditionellen Werte“ „zersetzen“, „entarten“, „gegen die menschliche Natur“, sind lesbische, schwule und queere Lebensweisen. Seit vielen Jahren wettert Putin gegen alles, was die „traditionellen Werte“ biologischer Zweigeschlechtlichkeit und patriarchale Heteronormativität in Frage stellt. Zusammen mit den russischen Orthodoxen bekämpft das Putinregime immer massiver Homosexualität, trans Personen und die LGBTIQ-Bewegung. Die Angst, nicht heteronormative Lebensweisen könnten Gesellschaft, Staat und Religion schwächen, hat bei den russischen Konservativen weiter zugenommen.[6] Dass Putin aber trans- und homophobe Gründe anführt, um den Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen, bedeutet eine völlig neue Dimension. Antiliberalismus, autoritärer Populismus und der Kult des harten heterosexuellen Mannes verschmelzen in der Kriegsbegründung.[7]
Dieser Krieg ist reaktionär auch deshalb, weil er sich nicht nur auf russischer, sondern auch auf ukrainischer Seite über biologistische binäre Identitäten und reaktionäre Identitätspolitiken des autoritären Populismus konstituiert. Behauptungen von einem homogenen Volk, einem Vaterland, einer Nation brauchen notwendig die Eindeutigkeit von zwei heteronormativen Geschlechtern: einer für das Vaterland bis zum Tod kämpfenden Männlichkeit auf der einen Seite und die für die Reproduktion der Nation zuständigen Frauen auf der anderen. In der Ukraine sind allein sie es, die mit den Kindern und den Alten fliehen dürfen. Allen ohne ukrainische Staatsbürgerschaft und allen, denen ein nicht-europäisches Aussehen zugeschrieben wird, wird die Flucht und der Zugang zur Unterstützung zumindest massiv erschwert. Erneut wird die rassistische Flucht- und Migrationspolitik an den europäischen Grenzen deutlich. Alle ukrainischen Männer zwischen 18 und 60 Jahren müssen in der Logik reaktionärer patriarchaler Männlichkeit für die patria, das Vaterland, im Land bleiben und kämpfen: Sie sind brutal eingegrenzt, werden daran gehindert, die nationale Grenze zu übertreten, aus dem Krieg auszutreten, zu desertieren, dem Krieg auf nationalem Boden zu entgehen. Auch trans und non-binäre Personen, die in ihrem Pass (noch) einen männlichen Geschlechtseintrag haben, sind durch diese Mobilmachung aller „Männer“ gezwungen, inmitten dieser binären, brutal reaktionären Männlichkeit zu überleben. Obwohl es nicht nur in Kiew vor dem russischen Angriff lebendige queere Szenen gab, ist die Personenstandsänderung in der Ukraine sehr erschwert und noch immer mit psychologischen Gutachten und mangelnden Sensibilitäten verbunden. Viele Transitionen finden deshalb „privat“ und ohne medizinische Begleitung statt.[8] Im Krieg ist diese Privatheit in aller Prekarität verstärkt der zunehmenden sexualisierten Gewalt der kämpfenden Männlichkeit ausgesetzt und kaum mehr lebbar.
Dennoch gelingt es an einigen Orten in der Ukraine Schutzräume für geflüchtete Queers und trans Personen zu organisieren.[9]
Die autoritäre maskulinistische Führerfigur eines Wladimir Putin ist nur die Spitze dieses kriegerisch-maskulinistischen Identitarismus im Namen eines vermeintlich geeinten nationalen „Volkes“. Wolodymyr Selenskyj wird als Gegenfigur stilisiert, ihm wird die Rolle des „tragischen Helden“ zugedacht: Der zum ukrainischen Präsidenten gewählte Comedian würde durch den von Russland aufgezwungenen Krieg dazu genötigt, „Gewalt zum notwendigen Übel“ zu machen.[10] Seine Inszenierung von Männlichkeit zeigt ihn heldenhaft, demütig, verwundbar, fordernd. Putin dagegen gilt als kaltes oder verrücktes Monster. David gegen Goliath – die doppelte Männlichkeit der Krieger. Die bei Selenskyj gefeierte Maskulinität ist nicht weniger umfassend kriegerisch, gerade wenn er immer wieder, in vielen nationalen Parlamenten und der UN-Versammlung via live-Video zugeschaltet, nicht nur Waffenlieferungen, sondern das Eingreifen der Nato fordert. Damit treibt er bewusst die Militarisierung in der EU voran und nimmt zugleich unentwegt – zumindest rhetorisch – einen weiteren Weltkrieg in kauf. Diese Wiederkehr der heldenhaften kriegerischen Männlichkeit als angebliches Symptom einer gescheiterten globalen Sicherheitspolitik zu verstehen, gerade weil der „Westen“ nicht militärisch eingreift und die ukrainischen Männer alleine ihr Land verteidigen müssen,[11] unterschätzt eklatant den sich in verschiedenen Dimensionen ausbreitenden autoritären Populismus, dem es gerade durch Krieg gelingt, patriarchale, gewaltvolle, heteronormative Männlichkeit wieder als das „Neue Normale“ einer wehrfähigen Nation durchzusetzen.
Die EU und der sogenannte „Westen“ konstituieren sich selbst gerade erneut über einen homogenisierenden Identitarismus, der sich durch die Inszenierung von Geschlossenheit und Einigkeit innerhalb der EU und gemeinsam mit den USA herstellen soll. Illiberale Positionen werden integriert, gehören wieder zum liberalen „Westen“, der erneut vorgibt, in Einigkeit seine identitären „Werte“ zu verteidigen. In der militarisierten „Zeitenwende“ (so das Wording der deutschen Bundesregierung) herrscht das Einheitsdiktum der kollektiven Souveränisierung, die nicht zuletzt durch die energie- und versorgungspolitische Unabhängigkeit von russischem Gas hergestellt und abgesichert werden soll. Der „westliche“ Wunsch nach Autonomie und Unabhängigkeit (in Deutschland gibt es im Frühjahr 2022 noch immer Gaslieferungen aus Russland) ist nicht einfach nationalistisch, sondern eher Ausdruck eines protektionistischen Blockdenkens.
Eingebettet in autoritär populistische Kontexte wird eine kriegerische Block-Souveränisierung des „Westens“ auch im sich als liberal verstehenden Teil auf Kosten von Vielfalt jeder Art gehen, und viele Anschlussstellen an jene reaktionären, exkludierenden Identitätskonstruktionen schaffen, die nicht nur die Gleichstellung von Geschlechtern, sondern soziale Gleichheit überhaupt ablehnen.[12] Auch die ökologische Wende hat im Krieg keine Priorität mehr. Der Kohleabbau wird verlängert, die Atomkraft wird gegrünt. Die massiv steigenden Aufrüstungskosten und die damit einhergehenden Staatsverschuldungen werden weitere Kürzungen und den Rückbau im Sozial- und Gesundheitsbereich nach sich ziehen und Ungleichheiten und Prekarisierung weiter verschärfen.[13]
Seit längerem ist es ein zentrales Argument des „westlichen“ autoritären Populismus, dass Antirassismus, die Kritik des Kolonialismus und das vielfältige Aufbrechen patriarchal binärer Geschlechternormen die liberale Demokratie schwäche und aushöhle, das patriarchal-maskulinistische Selbstwertgefühl geradezu zersetze. Linke „Identitätspolitiken“ werden beschuldigt, Putin die Argumente für einen Angriffskrieg geliefert zu haben.[14] Dass der Krieg mit dem Revival einer brutalen patriarchalen Maskulinisierung einhergeht, wird willkommen geheißen in der Hoffnung, erneut dominierende Überlegenheit gegenüber den Unzivilisierten und Monstern demonstrieren zu können. Kritik an liberaler Demokratie und das Einfordern von Gleichheit und Freiheit für mannigfaltige Lebensweisen gelten, bestenfalls, als Haltungen für Friedenszeiten.
„Volksidentität“ und „westliche Werte“
Hieran wird grundlegend deutlich, dass es sich beim Erstarken autoritär-populistischer Diskurse und illiberaler Politiken nicht um eine Negation oder das Andere der liberalen Demokratie handelt, sondern um eine erneute Zuspitzung der konstitutiven Ungleichheiten, vor allem der Geschlechterungleichheit und des Sexismus, dieser Form von Demokratie in kapitalistischen Gesellschaften.[15] Geschlecht und Sexualität sind nicht einfach Themen oder inhaltliche Argumente zur rechten Mobilisierung. Mit dem Propagieren einer „natürlichen“ Geschlechterdifferenz geht im autoritär-populistischen Diskurs eine (Re-)Traditionalisierung von patriarchal-heteronormativen Geschlechterverhältnissen einher. Zugleich zementiert die biologistisch-naturalisierte Auffassung von Geschlecht soziale Ungleichheiten in der Mehrheitsgesellschaft, die zur Stabilisierung einer reformulierten hegemonialen Männlichkeit notwendig sind.[16] Eine solche Überlegenheitsmännlichkeit ist untrennbar mit der nationalistischen Refigurierung von Weißsein verbunden, was in der Reformulierung eines biopolitischen Rassismus aus dem 19. Jahrhundert die über Fragen von „Geschlecht“, „Familie“ und „Identität“ vermittelte Anrufung eines „gesunden“, „reinen“, „weißen“ „Volkes“ ermöglicht.[17]
Dieses identitäre, ethnisierte „Volk“ wird als vorpolitisch gegeben naturalisiert. Auf der Grundlage des diskursiven Antagonismus zwischen „Sie“ versus „Wir“ oder “die Eliten“ versus „das Volk“ behauptet der autoritäre Populismus, mit dem „wahren Volk“ eine Identität zu bilden. Im ideologischen Block des „Westens“ ersetzen die identitären „westlichen Werte“ das nationale Volk, die Identitätslogik bleibt die gleiche.
Die neoliberale autoritäre Wende stützt sich wesentlich auf Diskurse des Identitären und Authentischen, und Repräsentation kulminiert so idealerweise in einer maskulinistischen Führerfigur. Solche diskursiven Strategien von „Volksidentität“ erhalten die repräsentative Form der Demokratie und suggerieren Lösungen für ihre Krise. Seit der Corona-Pandemie haben sich diese identitären Reinheitsideen mit den Fantasien vieler von einem unversehrten, unkontaminierten Körper, von individualistischer Freiheit und Selbstbestimmung vereint und breiten Ausdruck in der Querdenker*innen und Impfgegner*innenbewegung gefunden.
Dem identitär konstruierten „Volk“ stehen schon länger nicht mehr nur „politische Eliten“ und Migrant*innen gegenüber. Vor allem sogenannte „Genderisten“ und Feminist*innen, LGBTI*- und Menschenrechtsaktivist*innen werden als „Feinde des Volkes“ markiert, weil sie die Reproduktion im Sinne der patriarchal-rassisierten Stärkung der Nation verweigern. Die in sich völlig widersprüchliche weltweite politische Bewegung gegen gleichgeschlechtliche Ehen, Abtreibungsrechte und „politische Korrektheit“ wird ideologisch immer wieder auch aus dem Vatikan befeuert, der die Begrifflichkeit der „Gender-Ideologie“ erfunden hat und erfolgreich viral verbreitet.[18] Der weit ins liberale Bürgertum reichende Anti-Gender-Diskurs macht es zugleich möglich, Gewalt gegen Frauen, queere und trans Personen in der breiten Öffentlichkeit weiterhin als Verfehlungen Einzelner oder als „Beziehungstaten“ im Privaten zu betrachten und strukturell als Effekte eines unaufgeklärten Patriarchats der „Anderen“ zu externalisieren.[19]
Lebensweisen gegen das Intervall von Liberalismus und autoritärem Populismus
Nach mehreren Jahrzehnten der Sedimentierung neoliberaler individualistischer und individualisierender Verhältnisse stellt sich immer mehr die Frage, wie Verletzbarkeiten und Prekärsein jenseits von Identitätskonstruktionen problematisiert und inmitten nicht hintergehbarer wechselseitiger Verbundenheiten und Affizierungen gedacht und politisiert werden können. Was bedeutet das Festhalten an Identität, wenn sogar ein reaktionärer maskulinistischer identitärer Krieg unter dieser Flagge gegen queere Lebensweisen geführt werden kann? In Zeiten der Re-Nationalisierung, der erneuten Konjunktur von Volks-Souveränität, Blockbindungen und staatsbürgerschaftlich orientierten Migrationspolitiken, die zutiefst rassistisch sind, kann es keine linke Identitätspolitik geben. Um Demokratie grundlegend anders zu verstehen – ohne Nation, ohne Volk, ohne Blockdenken –, müssen wir aufhören, Identitätskonstruktionen gutzuheißen und – mit Foucault gesprochen – affirmieren, was wir in der Gegenwart ohne Identitätsanbindung werden können, wie wir anders werden, uns ent-subjektivieren.[20]
Das bedeutet weiterhin und erneut von den Kämpfen auszugehen; es bedeutet Verweigerung und Entgehen, die Zurückweisung von Zumutungen und Verletzungen in bestehenden Herrschaftsverhältnissen und deren nachhaltiges Aufbrechen und Umgestalten. Dazu ist Identitätspolitik und damit einhergehende Formen der Organisierung nicht in der Lage. Praxen des Entgehens bedeuten strategisches Abfallen, Desertion nicht nur vom Krieg, sondern auch aus den vorherrschenden neo/liberal-demokratischen Verhältnisses, Praxen der Improvisation und Invention, Praxen, wie sie sich in gemeinsamen Kämpfen zeigen. Von den Kämpfen gegen Rassismus auszugehen, macht es möglich, (Re-)Formierungen von Rassismen durch migrantische Widerstandspraxen zu erfassen, und nicht durch Rassismus produzierte Positionierungen, die als Identitäten missverstanden werden.[21] In den transnationalen queer-feministischen Kämpfen gegen Gewalt an feminisierten Körpern entsteht das Gemeinsame nicht durch Identitäten, sondern durch miteinander verknüpfte Erfahrungen und das „situierte und transversale Infragestellen von Gewalt“, wie unter anderem Verónica Gago für die Ni Una Menos-Bewegung in Lateinamerika deutlich gemacht hat.[22] Wechselseitige Abhängigkeiten und Sorgebeziehungen ins Zentrum zu stellen, demontiert die patriarchal-maskulinistische und kolonisierende Figur des autonomen und von anderen unabhängigen Subjekts, das im heteronormativen familialen Arrangement die entwertete und feminisierte Sorge und Reproduktionsarbeit ausbeutet. Von verschuldeten Sorgebeziehungen auszugehen, die nicht moralisch konnotiert sind, leugnet nicht die Ambivalenzen der Sorge von Vermögen, Unterstützung und Gewalt. Eine solche Perspektive entspricht einer radikalen Inklusion aller nicht-binären Sorgepraxen, die wechselseitige Abhängigkeiten unterstreichen.[23] Von verschuldeten Sorgebeziehungen ausgehend, leben wir in den Undercommons, unfähig zur Souveränität, in wechselseitiger Sorge. „Undercommons zu sein bedeutet, unvollständig und im Dienste einer geteilten Unvollständigkeit zu leben, die die Funktionsunfähigkeit des Individuums und der Nation einräumt und auf ihr beharrt, während diese brutalen und unhaltbaren Fantasien und alle materiellen Effekte, die sie hervorbringen, im immer kürzer werdenden Intervall zwischen Liberalismus und Faschismus oszillieren.“[24] Gegen dieses Intervall des autoritären Populismus ermöglicht die Situierung in der Sorge Ent-Subjektivierung, nicht als Entrechtung, sondern als neue Weisen der Subjektivierung, die aus der Affizierung von und mit umgebenden Körpern und Dingen entstehen. Gegen Militarisierung, Aufrüstung und kriegerische Maskulinismen lässt sich eine Demokratie der Sorge erproben, die die Heterogenität der Multitude und ihre Ausdehnung über Grenzen hinweg affirmiert. Nicht das Volk, nicht die Souveränität, nicht die Nation.
[1] Vgl. Mike Laufenberg, Susanne Schultz, „The Pandemic State of Care: Care Familialism and Care Nationalism in the COVID-19-Crisis. The Case of Germany”, Historical Social Research 4 (2021), S. 72-99.
[2] Vgl. Isabell Lorey, “Logistifizierungen. Pandemie und Unplanbarkeit”, transversal: multilinguales webjournal: „Around the Crown”, April 2020, https://transversal.at/transversal/0420/lorey/de
[3] Stuart Hall, „Popular-demokratischer oder autoritärer Populismus“ (1980), in: ders., Populismus, Hegemonie, Globalisierung. Ausgewählte Schriften 5, Hamburg 2014, S. 101-120. Zur Aktualisierung siehe auch Alex Demirović, „Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie“, PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 190, 1 (2018), S. 27-42.
[4] Stuart Hall, „Die Bedeutung des autoritären Populismus für den Thatcherismus“ (1985), in: ders., Populismus, Hegemonie, Globalisierung. Ausgewählte Schriften 5, Hamburg 2014, S. 121-132.
[5] Zitiert aus Deniz Yücel, „Hass auf Homosexuelle. Die radikalen Putin-Sätze, die zu wenig Beachtung gefunden haben“, Die Welt vom 28. Februar 2022, https://www.welt.de/kultur/plus237198075/Putin-und-die-Entartung-Kriegsgrund-Schwulenhass.html.
[6] Ein deutliches Symptom ist das 2013 verabschiedete Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“, das zu einem Anstieg von Diskriminierung und Hassverbrechen gegen LGTB-Personen geführt hat. LGBT-Veranstaltungen und -Projekte werden seitdem unter dem Vorwand des Kinderschutzes (und dem Vorwurf von „Pädophilie“) verboten (vgl. u.a. Razhana Buyantueva, “LGBT-Bewegung und Homophobie in Russland“, Bundeszentrale für politische Bildung, online vom 19. Februar 2018, https://www.bpb.de/themen/europa/russland-analysen/264904/analyse-lgbt-bewegung-und-homophobie-in-russland/; sowie „Die Situation von LGBT in Russland, Deutsches Institut für Sozialwirtschaft vom 22. März 2021, https://echte-vielfalt.de/lebensbereiche/lsbtiq/die-situation-von-lgbt-in-russland/).
[7] Siehe zu diesem Amalgam auch Yücel, „Hass auf Homosexuelle“.
[8] Vgl. Muri Darida, „Trans Menschen in der Ukraine. Kein Mann und trotzdem zum Bleiben gezwungen“, Zeit-online /ze.tt vom 15. März 2022, https://www.zeit.de/zett/queeres-leben/2022-03/trans-menschen-ukraine-militaer-mann.
[9] Die Menschenrechtsaktivistin Maryna Shevtsova von der Universität Ljubljana (https://marynashevtsova.com/) schreibt, dass diese Schutzräume dringend Unterstützung brauchen: Geld, Hormone, Shampoo, Binden, die von Aktivist*innen in ukrainische Nachbarländer wie die Slowakei gebracht werden sollen, um die Dinge von dort aus in die ukrainischen Unterkünfte transportieren zu können (vgl. Darida, „Trans Menschen in der Ukraine“, https://www.zeit.de/zett/queeres-leben/2022-03/trans-menschen-ukraine-militaer-mann).
[10] Jagoda Marinić, „Männlich“, Süddeutsche Zeitung vom 25. März 2022; siehe auch Annalisa Merelli, „Man of the hour: The redefinition of masculinity is playing out in the fight between Zelensky and Putin,” Quartz vom 8. März 2022, https://qz.com/2135829/why-the-world-likes-volodymyr-zelenskyy/.
[11] Marinić, „Männlich“.
[12] Vgl. Birgit Sauer, „Rechtspopulismus als maskulinistische Identitätspolitik“, in: Dorothee Beck, Annette Henninger (Hg.), Konkurrenz für das Alphamännchen? Politische Repräsentation und Geschlecht, Roßdorf: Ulrike Helmer Verlag, 2020, S. 135-145.
[13] Siehe den Appell „Demokratie und Sozialstaat bewahren – Keine Hochrüstung ins Grundgesetz“, den in kürzester Zeit zehntausende in Deutschland Unterschrieben haben (https://derappell.de/)
[14] Vgl. hierzu aus der Perspektive eines in den USA lebenden italienischen konservativen Journalisten: Federico Rampini, „Perché l’Occidente è arrivato impreparato all’invasione di Putin?“ („Warum war der Westen auf Putins Invasion unvorbereitet?“), Corriere della sera vom 9. März 2022, https://www.corriere.it/politica/22_marzo_09/putin-sottovalutato-democrazie-4f53849a-9f1a-11ec-937a-aba34929853f.shtml.
[15] Vgl. Birgit Sauer, „Demokratie, Volk, Geschlecht. Radikaler Rechtspopulismus in Europa“, in: Katharina Pühl, Birgit Sauer (Hg.), Kapitalismuskritische Gesellschaftsanalyse. Queer-feministische Positionen, Münster 2018, S. 178-195.
[16] Vgl. u.a. Agnieszka Graff, Ratna Kapur, Suzanna Danuta Walters, „Introduction. Gender and the Rise of the Global Right“, Signs. Journal of Women in Culture and Society 3 (2019), S. 541-560.
[17] Vgl. Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesung am Collège de France 1975/76, Frankfurt/M. 2002.
[18] Bereits 2001 sprach Papst Johannes Paul II. von „spezifischen Ideologien des ‚Geschlechts‘“ (Elizabeth S. Corredor, „Unpacking ‚Gender Ideology‘ and the Global Right’s Anti-Gender Countermovement“, in: Signs. Journal of Women in Culture and Society 3 (2019), S. 613-638, hier S. 615; vgl. auch Mary Anne Case, „Trans Formations in the Vatican’s War on ‚Gender Ideology’”, in: ebd., S. 639-664). Dezidiert zu einer „Gender-Ideologie“ äußert sich Papst Franziskus in seiner Enzyklika: “Laudato si” – Über die Sorge für das gemeinsame Haus, Rom im Mai 2016, Paragraf 155. In seiner Rede vor polnischen Bischöfen im Rahmen des Weltjugendtages in Krakau 2016 rief er zur Rettung der Menschheit vor der Gender-Ideologie auf. Im März 2019 spitzt der vatikanische UN-Vertreter, der philippinische Erzbischof Bernardito Auza, in seiner Rede in New York die „Gefahr“ der „Gender-Ideologie“ weiter zu als „Bedrohung für die Zukunft“, vor allem die der Kinder und als „Rückschritt für die Menschheit“ (vgl. Salvatore Cernuzio, „The Holy See Against Gender Ideology: A Danger to Humanity. Sex is Not a Subjective Choice”, La Stampa vom 22. März 2019). Diese Kampagne wird von vielen rechtsextremen Politikern, mit und ohne Bindung an die Katholische Kirche, explizit aufgenommen.
[19] Zu Femiziden im europäischen Vergleich siehe https://www.europeandatajournalism.eu/ger/Nachrichten/Daten-Nachrichten/Frauenmord-in-Europa-Ein-Vergleich-zwischen-unterschiedlichen-Laendern. Tödliche Gewalt gegen Trans*Frauen erscheint in keiner polizeilichen Statistik. All diese Femizide sind politische Morde und keine Verbrechen im Privaten.
[20] Vgl. Michel Foucault, „Gespräch mit Ducio Trombadori“ (1978/1980), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits, Band IV: 1980–1988, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 51–119, hier S. 54 f.
[21] Vgl. u.a. Dimitris Papadopoulos, Niamh Stephenson, Vassilis Tsianos, Escape Routes. Control and Subversion in the 21st Century, London: Pluto Press 2008.
[22] Verónica Gago, Für eine feministische Internationale. Wie wir alles verändern, Münster: Unrast 2020, S. 41.
[23] Vgl. ausführlich Isabell Lorey, Demokratie im Präsens. Eine Theorie der politischen Gegenwart, Berlin: Suhrkamp 2020.
[24] Stefano Harney, Fred Moten, All Incomplete, London: Minor Compositions 2021, aus dem Englischen von Gerald Raunig. Die deutsche Übersetzung des Buches von Gerald Raunig wird 2022 bei transversal texts erscheinen. In seiner und Birgit Mennels Übersetzung liegt auch vor: Stefano Harney, Fred Moten, Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium, Wien u.a.: transversal texts 2016.