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03 2022

Wann ist eine Krise eine Krise, wann sind Geflüchtete schutzwürdig?

Monika Mokre

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Der politische Modus der letzten Jahre ist der Modus der Krise. Während wir immer noch in der Covid-Krise leben (trotz wiederholter Ankündigungen ihres Endes), wurde die Ukraine-Krise ausgerufen.

Eine Krise ist selbstverständlich kein Naturereignis; jedes Ereignis braucht einen Krisendiskurs, um zu einer Krise zu werden. Übliche Bestandteile eines solchen Diskurses sind unmittelbare Gefahr und historische Einzigartigkeit. Sowohl der Covid-Diskurs als auch der Ukraine-Diskurs enthalten diese Elemente – es stehen Menschenleben in einem bisher (oder zumindest in jüngster Zeit) nicht gekannten Ausmaß auf dem Spiel.

Wie in jedem anderen Krisendiskurs kann diese Einschätzung angefochten werden: Warum ist die Covid-Pandemie so viel schlimmer als Ebola? Warum ist der Krieg in der Ukraine so viel schlimmer als die Kriege in Syrien oder im Jemen? Argumente dieser Art werden häufig als "Whataboutism" zurückgewiesen, "die Technik oder Praxis, auf einen Vorwurf oder eine schwierige Frage mit einer Gegenbeschuldigung zu antworten oder ein anderes Thema anzusprechen" laut Oxford Dictionary. Und in der Tat ist es in vielen Fällen zynisch und sinnlos, menschliches Leid mit dem Hinweis herunterzuspielen, dass es viel Leiden auf dieser Welt gibt. Zugleich folgen Krisendiskursen einer offensichtlichen Systematik. Kurz zusammengefasst: Da die Diskurse des globalen Nordens weltweit hegemonial sind, ist eine Krise eine kritische Situation, die den globalen Norden betrifft.

Dieses Muster hat bei der Covid-Krise sehr gut funktioniert. Der Ebola-Vergleich wurde nur von einer Minderheit herangezogen; für die breite Öffentlichkeit im Globalen Norden ist es selbstverständlich, dass es sich um eine nie erlebte Krise handelt – weil sie von dieser Öffentlichkeit nie erlebt wurde.

Für den Diskurs über die Ukraine-Krise ergeben sich hier größere Schwierigkeiten. Der aktuelle Massenzustrom von Geflüchteten in die EU ist kein wirklich neues Phänomen, sondern könnte eher als Wiederholung der Situation von 2015 verstanden werden. Dies stellt jedoch ein erhebliches Problem für Politiker_innen in der EU dar, die in den letzten Jahren kontinuierlich wiederholten, dass sich die sogenannte "Willkommenskultur" einiger Wochen im Sommer 2015, niemals wiederholen darf. Es bedarf also einiger diskursiver Kreativität, um die Aufnahme einer großen Zahl ukrainischer Geflüchteter im Jahr 2022 als völlig unterschiedlich von der Aufnahme einer großen Zahl syrischer Geflüchteter im Jahr 2015 darzustellen[1]

Daher wird nun behauptet, dass die Menschen, die jetzt kommen, "unsere europäischen Mitbürger_innen" sind, Menschen mit ähnlichen Werten wie wir – wie auch immer diese Werte auch genau definiert sein mögen; dieser Teil der Beschwörung von Werten bleibt normalerweise unklar. Dies ist jedoch ein recht neues Narrativ. Bis vor einigen Wochen gab es keinen breiten Konsens darüber, dass die Ukraine "zu uns gehört". Antislawische Ressentiments (die jetzt ausschließlich in Bezug auf die Russische Föderation aktiviert werden) spielten bisher im west- und mitteleuropäischen Diskurs über die Ukraine eine wichtige Rolle. Darüber hinaus wurde die Ukraine (mit einer gewissen Plausibilität) als ein nicht-demokratischer oder zumindest nicht vollständig demokratischer Staat betrachtet, der hin und wieder pro-russische Sympathien zeigte, die von der EU mit Misstrauen beobachtet wurden.

Außerdem wird betont, dass die Geflüchteten aus der Ukraine Frauen und Kinder sind, während 2015 hauptsächlich junge Männer in die EU kamen. Und Frauen und Kinder sind per definitionem vulnerable Opfer, während junge Männer (zumindest potenzielle) Täter und Kriminelle sind. Man sollte an dieser Stelle erwähnen, dass auch 2015 ein Unterschied zwischen "echten", schutzwürdigen Geflüchteten und anderen Geflüchteten behauptet wurde – in diesem Fall vor allem zwischen syrischen Geflüchteten, die angeblich als einzige einen wirklichen Fluchtgrund hatten und zudem über höhere Bildung verfügten, und allen anderen, insbesondere Geflüchteten aus Afghanistan. Generell kann man also eine klassische intersektionale Form der Differenzierung und Diskriminierung von Geflüchteten aufgrund von Geschlecht, Rasse und Nationalität sowie Klasse feststellen.


Die EU-Richtlinie über vorübergehenden Schutz

Im Jahr 2022 gibt es jedoch eine tatsächlich neue Entwicklung, nicht in Bezug auf die Geflüchteten selbst, sondern in Bezug auf die rechtlichen Regelungen der EU für Geflüchtete. Zum ersten Mal wird eine Richtlinie verwendet, die bereits 2001 erlassen wurde, die "Richtlinie über vorübergehenden Schutz"[2]. Diese wurde aufgrund der Jugoslawienkriege erlassen, genauer gesagt deshalb, weil die EU nicht in der Lage war, mit dem Zustrom von Geflüchteten aus dem Kosovo Ende der 1990er Jahre koordiniert umzugehen. Und aufgrund derselben Unfähigkeit, eine gemeinsame Linie zu finden, wurde die Richtlinie bis 2022 nie umgesetzt. Die wirklich interessante Frage ist nun also, warum es plötzlich möglich wurde, diese Richtlinie innerhalb weniger Wochen umzusetzen.

Die Richtlinie über vorübergehenden Schutz sollte eine pragmatische und effektive Lösung für Zeiten bieten, in denen die Asylsysteme der Mitgliedstaaten mit der Zahl der Geflüchteten überfordert sind. Für einen Zeitraum von ein bis drei Jahren erhalten die von der Richtlinie Betroffenen einen Aufenthaltstitel, der das Recht auf Unterkunft, Gesundheitsversorgung, Sozialleistungen, Bildung und Zugang zum Arbeitsmarkt beinhaltet. Um die Belastung durch diese Situation auszugleichen, können Geflüchtete in andere Mitgliedstaaten überstellt werden, wenn sowohl die jeweiligen Mitgliedstaaten als auch die Betroffenen zustimmen.

Bei der Implementierung der Richtlinie wird das übliche Gesetzgebungsverfahren der EU angewendet: Das Vorliegen eines Massenzustroms von Flüchtlingen muss in einem Vorschlag der Kommission festgestellt werden, über den dann der Rat der Europäischen Union mit qualifizierter Mehrheit entscheidet (d.h. mit einer Mehrheit von Staaten, die die Mehrheit der Bevölkerung der EU repräsentieren).

Von 2001 bis 2022 wurde die Richtlinie nie angewendet, obwohl ihre Umsetzung dreimal angeregt wurde: Im Jahr 2011 forderten Italien und Malta ihre Aktivierung aufgrund des Zustroms von Geflüchteten nach dem Arabischen Frühling, insbesondere aus Libyen. In der Krise von 2015 schlugen die UNHCR und einige Mitglieder des Europäischen Parlaments die Anwendung vor. Und im Jahr 2021 erörterte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell die Möglichkeit, die Richtlinie zur Unterstützung afghanischer Geflüchteter nach dem Rückzug der USA aus Afghanistan heranzuziehen. In keinem dieser Fälle sah die Europäische Kommission die Notwendigkeit, dies vorzuschlagen, wahrscheinlich aufgrund des Widerstands von denjenigen Mitgliedstaaten, die nicht direkt von der Situation betroffen waren.

Aufgrund ihrer offensichtlichen Dysfunktionalität schlug die Kommission im Jahr 2020 vor, die Richtlinie durch eine Verordnung im Rahmen des geplanten "Pakts zu Asyl und Migration" zu ersetzen[3]. Dieser Pakt wird seit 2019 von der Europäischen Kommission vorbereitet, wurde im Herbst 2020 dem Rat der EU vorgelegt – und bisher nicht umgesetzt. Das zeigt, dass die EU noch einen langen Weg zu einer gemeinsamen Asylpolitik vor sich hat – was insgesamt eher positiv zu bewerten ist, wenn eine gemeinsame Asylpolitik diesem Vorschlag der Kommission folgen würde[4].

Der vorgeschlagene Pakt wurde von Margaritis Schinas, dem Vizepräsidenten der Europäischen Kommission, treffend als "dreistöckiges Haus" zusammengefasst[5]. Das Ziel dieses Bauprojekts ist es, dass möglichst wenige Menschen in die oberste Etage gelangen. Die erste Etage besteht aus Partnerschaften mit Nicht-EU-Ländern, die dazu dienen sollen, dass Menschen dort bleiben, wo sie sich bereits befinden. Die bisherigen Aktivitäten in diesem Bereich lassen vermuten, dass es hier um Grenzschutz und Mobilitätsverhinderung geht, nicht um eine nachhaltige Verbesserung von Lebensbedingungen. Das zweite Stockwerk besteht aus einer noch rigideren Schließung der EU-Außengrenzen mit umfassenden Gesundheits- und Sicherheitskontrollen einschließlich Fingerabdruckregistrierung an der Grenze. Für Menschen aus Ländern, für die im EU-Durchschnitt weniger als 20% der Asylanträge positiv entschieden werden, ist ein Schnellverfahren an der Grenze vorgesehen. Es scheint unwahrscheinlich, dass diese Schnellverfahren je zu positiven Entscheidungen führen werden. Gelingt es Geflüchteten dennoch, in den dritten Stock zu gelangen, ist Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten gefragt. Da eine Verteilung von Geflüchteten auf die Mitgliedsstaaten nicht durchsetzbar ist, soll das Problem durch Finanztransfers gelöst werden: Länder, die Geflüchtete aufnehmen, sollen Geld erhalten, die anderen sollen zahlen. Eine Form dieses geplanten Finanzausgleichs sind so genannte Rückführungspatenschaften – Länder, die keine Geflüchteten aufnehmen, finanzieren die Abschiebung von abgelehnten Asylwerber_innen aus anderen EU-Staaten.

Die Verordnung, die die Richtlinie über vorübergehenden Schutz ersetzen sollte, wäre Teil dieses Pakts. Sie könnte von der Kommission ohne Einbeziehung des Rates umgesetzt werden und würde sich auf den Mitgliedstaat konzentrieren, der einen Massenzustrom von Geflüchteten zu bewältigen hat. Sie würde es diesem Mitgliedstaat ermöglichen, dem betreffenden Personenkreis vorübergehenden Schutz ohne Asylverfahren zu gewähren. Andererseits würde die Verordnung für alle Personen aus Ländern, in denen im EU-Durchschnitt weniger als 75 % der Asylanträge positiv beschieden werden, beschleunigte Verfahren an der Grenze ermöglichen. Im Moment würde dies bedeuten, dass nur Menschen aus Venezuela, Syrien und Eritrea eine Chance auf ein ordentliches Asylverfahren hätten.

Wie der gesamte "Pakt für Asyl und Migration" ist auch diese Verordnung noch nicht in Kraft; stattdessen wurde die Richtlinie aus dem Jahr 2001 nun in unglaublich kurzer Zeit aktiviert. Ausnahmsweise hat die EU die Fähigkeit bewiesen, mit einer Stimme zu sprechen und in diesem Punkt den Nationalismus der Mitgliedstaaten zu überwinden. Die Gründe für diese noch nie dagewesene Situation sind leicht zu verstehen: Erstens war ein äußerer Feind schon immer das wirksamste Mittel, um ein Gefühl der kollektiven Identität zu schaffen und zu verstärken. Selbst in der Präambel des Ratsbeschlusses wird darauf hingewiesen, dass die Invasion die "europäische und globale Sicherheit" untergräbt. Zweitens betrifft dieser neue Zustrom von Geflüchteten in erster Linie jene Länder, die sich seit langem gegen jede Form der EU-Solidarität bei der Aufnahme von Geflüchteten gewehrt haben, d.h. die Višegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und Ungarn, aber auch Österreich.

Während es also anerkennenswert und von größter Bedeutung ist, dass ukrainische Staatsbürger_innen in der EU vorübergehend Schutz genießen, zeigt die EU-Politik der letzten Wochen keine Abkehr von nationalistischen Prinzipien, sondern vielmehr eine neue Anwendung dieser Prinzipien, die durch den EU-Supranationalismus erweitert wird. Auch jetzt geht es nicht um Menschen in Gefahr, sondern um eigene Interessen der EU und ihrer Mitgliedsstaaten. Diese Interessen haben sich vorerst verschoben - von einer generellen Ablehnung von Geflüchteten hin zum Schutz einer spezifischen Gruppe von Geflüchteten.


Wer hat das Recht auf Schutz?

Und diese Gruppe ist sehr spezifisch. Sie umfasst ukrainische Staatsbürger_innen, Personen, die in der Ukraine internationalen Schutz genießen, und die Familien dieser beiden Gruppen. Personen mit ständigem Wohnsitz in der Ukraine, die "nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückzukehren", sollen ebenfalls Schutz erhalten –  entweder gemäß dem Ratsbeschluss oder gemäß einer nationalen Gesetzgebung. Für Personen mit vorübergehendem Aufenthalt in der Ukraine, die nicht in der Lage sind, sicher in ihr Herkunftsland zurückzukehren – z.B. Student_innen oder Arbeitskräfte, aber auch Asylbewerber_innen – wird in der – rechtlich nicht verbindlichen – Einleitung des Beschlusses empfohlen, dass ihnen zumindest die visumfreie Einreise in die EU gestattet werden sollte, um in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Diese Empfehlung ist etwas verwirrend, da Menschen, die nicht sicher in ihr Herkunftsland zurückkehren können, wahrscheinlich nur ein sehr begrenztes Interesse an dieser Rückkehr haben werden. Personen mit einem - ständigen oder vorübergehenden - Wohnsitz in der Ukraine, die in ihr Herkunftsland zurückkehren könnten, ohne sich in Gefahr zu begeben, werden überhaupt nicht erwähnt. Menschen, die ihr ganzes Leben oder den größten Teil ihres Lebens in der Ukraine verbracht haben, werden also nicht als schutzbedürftig angesehen[6].

Diese Entscheidung stützt sich auf einen Vorschlag der Kommission. Dieser Vorschlag war jedoch viel weiter gefasst: Er schloss alle Personen ein, die "nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückzukehren", sowie alle Personen mit ständigem Aufenthalt in der Ukraine, unabhängig von den Bedingungen im Herkunftsland[7].

Es wird kolportiert, dass die Einschränkungen des Beschlusses von denselben Staaten gefordert wurden, die die Umsetzung der Richtlinie beantragt hatten, nämlich den Višegrad-Staaten. Während diese Staaten die Unterstützung durch andere EU-Mitgliedstaaten zur Bewältigung des hohen Flüchtlingszustroms benötigen, nutzen sie zugleich die Gelegenheit, Geflüchtete zu filtern und die Grenzen für viele von ihnen, insbesondere für BiPoC, zu schließen.

Ein beträchtlicher Teil der ukrainischen Bevölkerung besitzt nicht die ukrainische Staatsbürgerschaft, z.B. 76.000 ausländische Studierende, fast ein Viertel von ihnen aus Afrika. Von Anfang an wurden sie bei den Evakuierungsverfahren diskriminiert - schwarze Frauen und Kinder wurden zurückgelassen, um ukrainischen Staatsbürger_innen Platz zu machen, und faschistische Gruppen in der Ukraine und in Polen attackierten BiPoC. Rumänien hat sehr schnell seine Grenzen für nicht-ukrainische Bürger_innen geschlossen, und afrikanische Geflüchtete, die nach Polen kommen, werden in geschlossenen Lagern festgehalten[8]. Auch werden in Polen diejenigen, die ukrainische Geflüchtete unterstützen, als Held_innen gefeiert, während diejenigen, die Geflüchteten an der Grenze zu Belarus helfen, kriminalisiert werden[9].

Es sollte auch erwähnt werden, dass in der Ukraine etwa 400.000 Roma leben, die beim Versuch, die Grenze zu überqueren, ebenfalls rassistisch diskriminiert und von Faschist_innen attackiert werden. Außerdem haben nach UN-Angaben etwa 30.000 von ihnen keine Papiere, so dass ihre Chancen gering sind, unter den Bedingungen der Richtlinie aufgenommen zu werden[10].

Schließlich bleibt abzuwarten, wie sich der Massenzustrom von Geflüchteten aus der Ukraine auf Asylwerber_innen aus anderen Ländern auswirkt, die in der EU um Asyl bitten. Gerade in dieser Hinsicht ist es wichtig, dass die Richtlinie weiterhin in Kraft ist und nicht die vorgesehene Verordnung eingeführt wurde. Aber auch ohne diese EU-Vorgaben wurden schon vor dem Krieg – zumindest in Österreich – immer mehr Asylanträge nach einer sehr oberflächlichen Prüfung der Fluchtgründe negativ beschieden.

Zweifellos ist die Entscheidung, die Richtlinie über vorübergehenden Schutz zu aktivieren, ein wichtiger Schritt. Aber es besteht auch kein Zweifel daran, dass die Einschränkungen dieser Entscheidung mehr von nationalistischen und supranationalistischen Vorstellungen und Interessen geleitet sind als von einem wirklich universellen Verständnis der Menschenrechte, das auch die Rechte derjenigen inkludieren würde, die, aus welchem Grund auch immer, nicht in dem Land ansässig sind, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Die Europäische Union versteht die "vier Mobilitäten", einschließlich der Mobilität von Personen, als einen ihrer wichtigsten Werte und Errungenschaften. Doch wenn es um den Schutz von Geflüchteten und die Rechte von Migrant_innen in der EU geht, führt individuelle Mobilität zu Ausgrenzung. Drittstaatsangehörige in der EU verlieren ihr Recht auf die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaates, wenn sie einige Zeit in einem anderen Mitgliedstaat verbringen. Afghanische Geflüchtete, die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben, erhalten keinen Schutz, da sie in ihrem Herkunftsland nicht verfolgt werden. Und jetzt ignoriert der Rat der Europäischen Union die Notlage derjenigen, die sich freiwillig für die Ukraine als neue Heimat entschieden haben.

Die Mitgliedstaaten haben das Recht, beim Schutz von Geflüchteten aus der Ukraine über den Ratsbeschluss hinauszugehen. Sie können nicht-ukrainische Geflüchtete aus der Ukraine unter den gleichen Bedingungen wie ukrainische Staatsbürger_innen aufnehmen oder ihnen eine Form des nationalen Schutzes gewähren. Es bleibt abzuwarten, wie diese Möglichkeit genutzt werden wird. Gegenwärtig hat es den Anschein, als ob z. B. die Niederlande und Deutschland diesen Personen einen gewissen Schutz gewähren würden. Österreich hat bereits eine Verordnung auf der Grundlage des Ratsbeschlusses erlassen, die nicht mehr als die Mindestanforderungen des Beschlusses erfüllt[11]. Vermutlich führte diese Form der Umsetzung dazu, dass Proteste rechter Parteien ausblieben – so veröffentlichte die österreichische FPÖ kürzlich den Slogan: "Kriegsflüchtlinge ja, versteckte Massenmigration nein". Und bei einem informellen Treffen im österreichischen Innenministerium war man sich einig, nicht von Flüchtlingen aus der Ukraine, sondern von Vertriebenen zu sprechen. Zwei Arten zu sagen, dass Ukrainer_innen besonders sind und dass andere Geflüchtete nicht auf ähnliche Bedingungen hoffen sollten, wenn sie in Österreich Schutz suchen. Die Verwendung des Begriffs "Vertriebene" ist hier besonders aussagekräftig: Dieser Begriff wird üblicherweise für Angehörige der deutschsprachigen Minderheiten in Osteuropa verwendet, die nach dem Zweiten Weltkrieg fliehen mussten.

Die Unterscheidung zwischen verschiedenen Klassen von Flüchtlingen wird jedoch nicht von allen akzeptiert: Als die französische Bahn beschloss, Freifahrscheine an ukrainische Staatsbürger_innen zu vergeben, setzten die Eisenbahner_innen am Pariser Gare du Nord diese Entscheidung auf ihre eigene Art um. "Diejenigen, die vor Krieg oder Armut fliehen, haben das Recht auf die gleiche Form der Aufnahme. Die Eisenbahner_innen, wie die gesamte Arbeiter_innenklasse, kommen aus der ganzen Welt. Sie haben gemeinsam beschlossen, Fahrkarten an alle Geflüchteten zu verteilen, die darum bitten."[12]