12 2000
Grosseltern der Interventionskunst, oder Intervention in die Form. Rewriting Walter Benjamin's "Der Autor als Produzent"
Sicherlich erinnern Sie sich nicht mehr daran, wie Plato im Entwurf seines Staats als vollendeten Gemeinwesens mit der Kunst verfährt. Er versagt ihr im Interesse des Gemeinwesens den Aufenthalt drinnen. Er hatte einen hohen Begriff von der Macht der Kunst. Aber er hielt sie für schädlich.
Daß Sie sich nicht mehr an Plato erinnern, macht gar
nichts. Es gibt gerade in den Praxen partizipativer, aktivistischer,
interventionistischer Kunst haufenweise Fälle, die Plato
bestätigen, indem sie die Kulturalisierung und Ästhetisierung,
damit Kaschierung von politischen Ungleichheiten betreiben
und in ihrer Fürsorge für "wirkliche Menschen,
wirkliche Neighbourhoods" laufend das "Andere"
erst konstruieren. Ein beträchtlicher Teil der KunstproduzentInnen
hat sich, nicht zuletzt unter dem Druck der wirtschaftlichen
Verhältnisse im allgemeinen wie durch die Einbrüche
des Kunstmarkts im besonderen, Anfang der 90er Jahre dem Trend
der Community Art zugewandt. Vielen der daraus entstandenen,
sich selbst als "politisch" verstehenden Projekten
mangelte es in hohem Maß an der Reflexion der eigenen
Arbeit, während sie vollmundig überschrittene Grenzen
und die Kunst als soziales Heilmittel propagierten. Zum exemplarischen
Vorzeigeprojekt wie zum paradigmatischen Punching Ball wurde
in dieser Hinsicht fuer die USA Mary Jane Jacobs Sculpture
Chicago - Culture in Action (1992/93) erhoben, in Österreich
fungierten in diesem Zusammenhang vor allem die Arbeiten von
Christine und Irene Hohenbüchler in ähnlicher Weise.
Und geschrieben steht darüber auch einiges: Bei den gestrengen
KritikerInnen und TheoretikerInnen des Interventionismus und
Aktivismus, Marchart , Rollig , Kravagna , Höller , Kwon
, Babias und anderen. Aber auch schon viel früher und
sehr grundlegend in Benjamins beiden kleinen Kunstaufsätzen
, besonders im 1934 als Vortrag im Pariser "Institut
zum Studium des Fascismus" gehaltenen "Autor als
Produzent". Darin argumentiert Benjamin unter Anführung
von Döblin, Heinrich Mann, dem Aktivismus-Theoretiker
Hiller oder den ästhetisierenden Produkten der Neuen
Sachlichkeit, daß ein erheblicher Teil der sogenannten
linken Literatur gar keine andere gesellschaftliche Funktion
besaß, als der politischen Situation immer neue Effekte
zur Unterhaltung des Publikums abzugewinnen. Eine Tradition,
deren Aufgreifen übrigens im Kunstfeld des heurigen Österreich
eine exponentielle Steigerung von revolutionären Tönen
hervorbrachte : Intendanten, Kunsthallenchefs, Kuratoren,
die nach dem Sturm der Erregung über die Installierung
der rechtstrechten Regierung im Februar schnell verstummt
sind, nun ihr business as usual betreiben und Mitgliedern
der Regierung, gegen die sie eben noch fundamental protestiert
hatten, ihre Institutionen zu repräsentativen Auftritten
öffnen.
Wie steht's aber umgekehrt mit der positiven Aufladung des
Politischen in der Kunst, mit den Erfolgen einer politisierten
Kunst, mit effektiven Praxen der Intervention? Walter Benjamins
Pariser Auftritt in der Höhle des Löwens, an einem
volksfrontnahen Institut, in dem ästhetische Qualität
dem Inhalt streng untergeordnet war, ist - paradoxerweise:
so scheint es - ganz gegen die krude Utilitarisierung der
Kunst, gegen reine Tendenzkunst gerichtet. Und gegen jede
inhaltistische Instrumentalisierung der Kunst für die
"richtige Politik" jenseits von Überlegungen
über Technik, Qualität und Form. Die Tendenz, der
Inhalt kann nur stimmen, wenn auch die Form stimmig ist. Die
inhaltlich richtige Tendenz muß eine formale Tendenz
einschließen.
Diesem dialektischen Muster Benjamins folgend meine ich, daß
gerade für produktive Spielarten von mikropolitischem
Reformismus dem großen inhaltlichen Entwurf, der ins
Vage geht und die Subjekte, sowohl die KünstlerInnen
als auch ihre "Objekte" in den Communities, in den
Vordergrund stellt, diesem großen Entwurf also die Intervention
in die Form, die Veränderung der Strukturen vorzuziehen
ist. Dazu ist im Sinne einer materialistischen Kritik vorab
weniger zu fragen, wie ein Projekt zu den Produktionsverhältnissen
steht, sondern wie es in ihnen steht. Was uns zu den
von Benjamin beschriebenen Großeltern der Intervention
bringt und dort vor allem zu einem, der in der Sowjetunion
der späten 20er Jahre immer radikaler seine Kunstproduktion
in konkrete mikropolitische Interventionen transformiert hat:
Sergej Tretjakov unterscheidet den operierenden Schriftsteller
vom informierenden. Seine Mission ist nicht zu berichten,
sondern zu kämpfen; nicht den Zuschauer zu spielen, sondern
aktiv einzugreifen. Er bestimmt sie, die Mission, durch die
Angaben, die er über seine Tätigkeit macht: Als
1928, in der Epoche der totalen Kollektivierung der Landwirtschaft,
die Parole: "Schriftsteller in die Kolchose!" ausgegeben
wurde, fuhr Tretjakov nach der Kommune "Kommunistischer
Leuchtturm" und nahm dort während zweier längerer
Aufenthalte folgende Arbeiten in Angriff: Einberufung von
Massenmeetings; Sammlung von Geldern für die Anzahlung
auf Traktoren; Überredung von Einzelbauern zum Eintritt
in die Kolchose; Inspektion von Lesesälen; Schaffung
von Wanderzeitungen und Leitung der Kolchos-Zeitung; Berichterstattung
an Moskauer Zeitungen; Einführung von Radio und Wanderkinos
usw.
Hinter diesem auf den ersten Blick skurril anmutenden Sammelsurium
an Tätigkeiten steht das Konzept einer radikalen Verschiebung
der Positionen sowohl der Kunstproduktion als auch der Kunstrezeption.
Auf der Seite der ProduzentInnen vollzieht sich eine neue
Variante der Politisierung von Kunst durch die Erweiterung
der künstlerischen Kompetenz der Entwicklung neuer Formen
zur Entwicklung von mikropolitischen Organisations-Formen.
Nicht in der zum Klischee verkommenen Widerständigkeit
des autonomen Kunstwerks, aber auch nicht in der plumpen Tendenz
des revolutionären Sujets, sondern in der Übersetzung
der formalen Fähigkeiten der KünstlerInnen vom Kunstwerk
auf die Organisationsformen der Gesellschaft liegt demnach
die politische Bedeutung der Kunst. Der Spezialfall des cultural
worker, der "operierende Schriftsteller" hat
dabei die Aufgabe, produktive Ausgangsbedingungen herzustellen,
Anstöße zu geben, Strukturen zu hinterfragen. "Tendenz"
erwächst dabei nicht aus der subjektiven Proklamation
eines Besserwissenden, sie wird in den Erfahrungen der sich
durch die "Literarisierung aller Lebensverhältnisse"
verändernden Wirklichkeit selbst er-lebt.
Und an dieser Stelle bewegt sich das Argument Tretjakovs von
der Funktion der ProduzentInnen auf die andere Seite, wo eine
möglichst lawinenartige Metamorphose von KonsumentInnen
in ProduzentInnen ausgelöst werden soll:
"Jeder Mensch kann und soll [...] in jedes von ihm produzierte
Ding jenes Maximum an Genauigkeit, klarer Kontur und Zweckmäßigkeit
einbringen, das bis heute nur die sich in dieser Sache hingebenden
Spezialisten besessen haben, die Formsucher, die Arbeiter
der Kunst. [...]
Die Freude der Verwandlung des Rohmaterials in eine bestimmte
gesellschaftlich nützliche Form, verbunden mit dem Können
und dem intensiven Suchen nach der zweckmäßigsten
Form - das ist es, was die Losung 'Kunst für alle' beinhalten
sollte. Jeder soll ein Künstler sein, ein vollendeter
Meister in der Sache, die er im gegebenen Moment tut."
Besonders die letzten Punkte der Aufzählung von Tretjakovs
Arbeitsfeldern in der Kolchose verweisen auf die Bedeutung
der Medien Zeitung, Radio und Film für seine Konzeption
einer Kunst für alle: Von der Liquidierung des Analphabetentums
über die Wandzeitung bis zur Wandlung des einfachen Arbeiters
in den Korrespondenten der Pravda, das war das Konzept, das
Walter Benjamin wohl ein wenig voreilig schließen ließ,
in der Sowjetunion komme die Arbeit selbst zu Wort.
In der Beschreibung des Tätigkeitsfelds Tretjakows als
Großvater der Intervention zeigt sich jedenfalls deutlich,
was für Benjamin und auch für mich die wichtigsten
Kategorien einer nichtinhaltistisch verstandenen Interventionskunst
sind:
Die Tätigkeit der InterventionistInnen liegt erstens
eindeutig im Präproduktiven, also neben und vor allem
vor dem Werkcharakter. Das bedingt ein weitgehendes
Ausfallen der Ausstellbarkeit von Produkten, des Zirkulierens
im Kunstmarkt, der Notwendigkeit von Vermittlung.
Sie hat zweitens mit Eingriffen in die Form, in die Strukturen
eines mikropolitischen Felds zu tun. Statt einer Arbeit an
Produkten muß sie die Arbeit an den Mitteln der Produktion
sein.
Drittens ist über die mikropolitischen Effekte hinaus
der Modellcharakter maßgeblich, der anderen ProduzentInnen
einen verbesserten Apparat zur Verfügung stellen, sie
zur Produktion anzuleiten vermag.
"Was tun" ist nicht nur der Name der Konferenz,
anläßlich derer dieser Text entstand, auch nicht
nur einfach der Titel eines Aufsatzes von Lenin, es ist auch
- wie Walter Benjamin erwähnt - die Frage, die sich Alfred
Döblin 1931 in "Wissen und Verändern!"
gestellt hat. Seine kommunitaristische Antwort läuft
auf einen Appell nach Menschlichkeit, Toleranz und Zusammenschluß
der Menschen hinaus. Er beging dabei in Ermangelung von Reflexion
der eigenen Position im Produktionsprozeß denselben
Fehler wie die aktuelle identitätspolitische Tradition,
die sich der Hilfe für und Unterstützung von "benachteiligten
Gesellschaftsgruppen" und dem empowerment von
Communities widmet. In diesen verunglückten Exemplaren
der Community Art ist es gelungen, auch noch das Elend, die
Ungleichheiten, indem sie auf modische Weise dargestellt werden,
auszustellen, zum Gegenstand des Genusses, des Konsums zu
machen, also den Brechtschen Kardinalfehler zu übertreiben,
einen Produktionsapparat zu beliefern, ohne ihn zu verändern.
Während der Zielgruppe, Community oder Neighbourhood
durch den Prozeß des othering eine begrenzende
Identität vorgeschrieben wird, halten die beteiligten
KünstlerInnen ihre phantasmatische Stellung als flexible,
alles überblickende UniversalistInnen.
Frei nach Benjamin geantwortet: Wenn Intellektuelle oder KünstlerInnen
ihren Ort neben dem Proletariat suchen, befinden sie
sich schon über ihm. Denn was ist das für
ein Ort? Der eines Gönners, eines ideologischen Mäzens.
Ein unmöglicher.
Wenn also im künstlerisch-wissenschaftlichen Feld gefragt
wird, was zu tun sei, ist jedenfalls vorauszusetzen,
daß eine wie auch immer geartete Solidarität des
spezifischen (als einzig modellhaft möglichen) Intellektuellen
mit "dem" Proletariat immer eine vermittelte bleiben
wird. In der Nachfolge von Tretjakov und Co. wird es daher
sinnvoll sein, sich nicht auf die Verbesserung der Menschen
zu konzentrieren, sondern auf die Veränderung der Strukturen,
die Ungleichheiten produzieren. Als Update der Brecht-Benjaminschen
Forderung, den Produktionsapparat nicht zu beliefern, ohne
ihn zu verändern, muß es nun heißen, den
Produktionsapparat nicht zu beliefern, sondern ihn
zu verändern.
Literatur
Marius Babias (Hg.), Im Zentrum der Peripherie. Kunstvermittlung
und Vermittlungskunst in den 90er Jahren, Verlag der Kunst:
Dresden/Basel 1995
Marius Babias, Achim Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen.
Projekte/Ideen/Stadtplanungsprozesse im politischen/sozialen/
öffentlichen Raum, Verlag der Kunst: Dresden 1998
Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1963
Walter Benjamin, Der Autor als Produzent, in: ders., Aufsätze,
Essays, Vorträge (= Gesammelte Schriften, Band II 2),
Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991, S. 690-701
Christian Höller, Fortbestand durch Auflösung. Aussichten
interventionistischer Kunst, in: Texte zur Kunst, Nr. 20/1995,
S. 109-117
Christian Kravagna, Arbeit an der Gemeinschaft. Modelle partizipatorischer
Praxis, in: Babias/Könneke (Hg.), Die Kunst des Öffentlichen,
S. 28-47
Miwon Kwon, Im Interesse der Öffentlichkeit, in: springer
II/4, S. 30-35
Oliver Marchart, Von Proletkult zu Kunstkult oder Was Sie
schon immer über kulturelle Hegemonie wissen wollten,
aber in "Texte zur Kunst" nicht finden konnten,
in: Gerald Raunig (Hg.), Kunsteingriffe. Möglichkeiten
politischer Kulturarbeit, IG Kultur Österreich: Wien
1998, S. 120-127
Gerald Raunig, Charon. Eine Ästhetik der Grenzüberschreitung,
Passagen: Wien 1999
Gerald Raunig, Wien Feber Null. Eine Ästhetik des Widerstands,
Turia+Kant: Wien 2000
Stella Rollig, Das wahre Leben. Projektorientierte Kunst in
den neunziger Jahren, in: Babias/Könneke (Hg.), Die Kunst
des Öffentlichen, S. 12-27
Sergej Tretjakov, Die Arbeit des Schriftstellers. Aufsätze,
Reportagen, Porträts, Rowohlt: Reinbek/Hamburg 1972