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01 2001

Multikulti, Lenin Style. Auf Messers Schneide: Inter-Nationalismus

Hito Steyerl

"Der Mann trägt eine pelzbesetzte Jacke, hohe Stiefel und eine hohe Mütze und er tanzt mit äusserst schnellen und gewandten Schritten. Dabei zieht er zwei Messer hervor, die er zwischen die Zähne steckt, zwei weitere, die er mit offenen Klingen in gefährlicher Nähe seiner Nase zu deren beiden Seiten balanciert. Schliesslich führt er das Kunststück aus, ein fünftes Messer, immer im Takte der typisch orientalischen Musik weiter tanzend, auf seiner Nase schweben zu lassen."
Beschreibung des Filmes "Kongress der Völker des Ostens", 1920.

Auf dem Mann, dessen Nase durch scharfe Messer bedroht wird, ruht eine paradoxe symbolische Bürde: sein Auftrag ist es, mit seinem Balancekunststück die Einheit der Völker des Ostens mit der Dritten Kommunistischen Internationale, auch Komintern genannt, zu repräsentieren. Dieser Multikulturalismus leninistischer Prägung war jedoch ein ziemlich problematisches Phänomen - ein Tanz auf Messers Schneide.

1920 fand in Baku der Kongress der "unterdrückten Völker des Ostens" unter der Leitung der Komintern statt. Die Veranstaltung wurde für so wichtiggehalten, dass sie sogar gefilmt wurde. H.G. Wells, der den Film gesehen hat, berichtete später, der Film zeige "das wunderbarste Gemisch von weissen, schwarzen, braunen und gelben Menschen mit asiatischen Trachten und den eigentümlichsten Waffen." Der Kongress, der zum "heiligen Krieg unter dem Banner der Komintern aufforderte und laut Wells Züge einer "Landpartie", einer "Kirmes" sowie eines "Schützenfestes" trug, war von vornherein umstritten. Schon sein Titel zeigt den internen Widerspruch an, um den sich die Auseinandersetzungen bündelten: ein Kongress der "Völker", veranstaltet von der kommunistischen "Internationale".

Vorausgegangen waren dem Kongress von 1920 Diskussionen um Bündnisse mit nationalrevolutionären Bewegungen in den islamischen Ländern: der Panislamismus wurde als revolutionäre Kraft interpretiert, die man als Bündnispartner der proletarischen Weltrevolution willkommen heissen sollte. Die Warnungen von M.N.Roy, dem einzigen in der Führungsriege der Komintern, der tatsächlich aus einem kolonialisierten Land kam, wurden in den Wind geschlagen. Roy hielt das ganze schlicht und einfach für einen folkloristischen Propagandazirkus und weigerte sich, dort aufzutreten.

So kam es dann auch: Übersetzungsschwierigkeiten und Verständnisprobleme erschwerten die Aufnahme tatsächlicher Beziehungen. Auch beim nachfolgenden Kongress der Völker des Fernen Ostens blieb das Problem bestehen: die fernöstlichen Delegierten kamen sich wie eine Gruppe "Halbtauber" und "Halbstummer" vor. "Trotzdem wurden sie überall von sowjetischen Begleitern herumgeführt. Aber eigentlich, so meinte Chang Kuo-Tao, war es umgekehrt: "Wir wurden nicht zu den verschiedenen Sehenswürdigkeiten gebracht, um diese kennenzulernen, sondern es war so, dass wir nur dahin gebracht wurden, damit die russischen Bürger uns sehen konnten. Wir wurden als das exotische und aufregendste Propagandaobjekt regelrecht vorgezeigt."

Begeistert berichtet der Delegierte Katayama über die lebhafte Mimik Lenins während seinen Reden. Mehr konnte Katayama auch gar nicht berichten, da er aufgrund fehlender Übersetzung auch nicht ein einziges Wort von dem verstehen konnte, was der Genosse Lenin eigentlich sagte. Während dieses seltsamen Kongresses favorisierten die Redner Sinowjew und Safarow die Notwendigkeit nationaler Revolutionen in den vom Imperialismus betroffenen Ländern. Dementsprechend wurde die alte Losung der Komintern: Proletarier aller Länder vereinigt euch! um den Zusatz "... und unterdrückte Völker der ganzen Welt" ergänzt.

Damit verstärkte sich eine Tendenz zur Verwirrung verschiedener Kategorien politischer Räume. War bislang in der Konzeption der Komintern die transnationale Zusammenarbeit der Arbeiterklassen verschiedener Länder im Vordergrund gestanden, verlagerte sich der Schwerpunkt zunehmend hin zur Befreiung einzelner "Nationen" und "Völker": Konzepte, die den zu Befreienden teils zunächst einmal aufgezwungen werden mussten. Der Internationalismus der Komintern erwies sich strukturell als äusserst paradox: aus der Perspektive des Nationalstaats gesehen, gab es Proletarier, die als "vaterlandslos" imaginiert, sich dennoch als "nationale Klasse" organisieren sollten sollten, um politisch handlungsfähig zu werden. Von der Perspektive des internationale Klassenkampfes aus zerfiel das Konzept einer von nationalen Grenzen ungebundenen proletarischen Klasse jedoch in die Vorstellung einzelner "Nationen und Völker", die von einer imperialistischen Weltordnung unterdrückt wurden. Proletariat und unterdrückte "Völker" wurden als "natürliche" Verbündete gedacht, wiederum gegen die Meinung M.N.Roys, der die Komplexität kolonialer Klassengesellschaften nicht so leicht simplifizieren mochte. Die strukturelle Gleichsetzung dieser Personengruppen erzeugte eine Zwickmühle, in der jedes internationalistische Verhältnis sich notwendig auf eine nationale Referenz beziehen musste: Ins "internationalistische" Verhältnis eingehen konnten nur Personengruppen, die einen Anspruch auf eine nationale/völkische Identität oder ein nationales Territorium behaupten konnten. Die Basis für den Internationalismus war also die Nation und deren kultureller Ausdruck ein leninistischer Multikulturalismus.

Folkloristische Darbietungen, wie der Messertanz aus dem Film von 1920 sowie revolutionäre Volkslieder bildeten sein Repertoire. Dazu passt die Anekdote jener chinesischen Delegation, die, um auf "internationalistischer" Ebene mitzuhalten, die heissbegehrten "revolutionären Volkslieder" erst einmal erfinden musste. Diese Art kultureller Politik diente also dazu, die angenommenen Basiselemente internationalistischer Politk, nämlich die "Völker und Nationen" gewissermassen rückwirkend zu konstruieren. Dabei ergab sich auf kultureller Ebene eine natürlich wirkende Hierarchie zwischen der proletarischen avantgardistischen Hochkultur der sowjetischen Zentren und den archaisch-folkloristischen Kulturelementen ihrer Peripherie. Der leninistische Multikulturalismus erzeugte also eher eine Rangordnung
verschiedener Kulturen - wobei politische und militärische Vormacht als kulturelle Avanciertheit erscheinen konnte. Die Naturalisierung von Machtverhältnissen als "kulturell" legitimierte ist natürlich nicht nur eine Besonderheit des leninistischen Multikulturalismus, sondern liegt strukturell in der multikulturalistischen Ideologie selbst begründet.

Auf der Seite des Feinde weltweiter Befreiung wurden hingegen Personen und Organisationen identifiziert, denen genau gegenteilige Eigenschaften zugeschrieben wurden: sie galten als mobile und abstrakte Wesen, die raum- und geschichtslos seien, gleichzeitig überall präsent und nirgends zu verorten. Als Allegorien des Nicht-Identischen wirken sie auf gesellschaftlicher Ebene ent-fremdend, auf individueller Ebene ver-rückt, auf der Ebene der Erscheinungen ent-stellt. Aufgefüllt werden diese Positionen mit dem "Finanzkapital" als Antagonistin der unterdrückten Klasse und mit "entwurzelt" oder kosmopolitisch genannten Personengruppen als Gegensatz zu den völkisch geerdeten unterdrückten "Völkern". In der beschriebenen Logik des Verhältnisses zwischen Territorium und legitimer Repräsentation erscheinen auch diese Gruppen als "natürliche Verbündete".

Diese imaginäre Gleichung hat sich in die ökonomischen Allegorien der Gegenwart fortgesetzt: Es ist geradezu zur Chiffre kapitalistischer Globalisierung geworden, sie durch Mobilität, Grenzüberschreitung sowie durch flexible und hybride Identitäten darzustellen. Einer globalisierten trans- oder multinationalen Kapitalistenriege wird strukturell ein depraviertes, als "wurzellos" imaginiertes, "ethnisch" markiertes Reserveproletariat zugeordnet.Nicht zuletzt aufgrund dieser Zuschreibungen, die sich in rechtlichen, symbolischen und moralischen Dispositiven niederschlagen, wird die
Position der letzteren dem ausbeuterischen Zugriff tatsächlich auf besonders
miserable und vertrackte Weise ausgesetzt.

Die Versuche oppositioneller Kräfte, diese Verhältnisse durch die blosse Veränderung ihrer Darstellung zu reformieren, verfangen sich jedoch im Gewirr der Zuschreibungen: sie verwechseln die gesellschaftlich vorgesehene Rolle internationaler Deterritorialisierung mit den Personen, die unfreiwillig dazu gezwungen werden, sie darzustellen. In einem symbolischen Gefüge, in dem nationale und völkisch homogenisierte Raumzeiten eine so grosse Rolle in der Konfiguration von legitimierter Repräsentativität spielen, werden umgekehrt viele Menschen ort- und geschichtslos gemacht, um sie von der politischen und kulturellen Repräsentation fernzuhalten.
Innerhalb dieser Gleichung fallen sie tatsächlich immer entweder auf die Seite der folkloristisch Geerdeten, denen auch politscher Ausdruck ermöglicht wird, oder aber auf die Seite der Entwurzelten, die in kein internationales Verhältnis eingehen können ausser dem von Hyperexploitation. Es gibt keine politische Form ihrer Repräsentation. Tatsächlich lebt kein Mensch ausserhalb von Raum und Zeit, auch wenn bestimmte politische Konfigurationen raumzeitlicher Anschauungsformen diesen Anschein erwecken sollen.

Es nützt deswegen höchstens der Kapitalfraktion etwas, wenn die Zuschreibungen "freiflutender" Mobilität und "Wurzellosigkeit" in öffentlichen Diskursen und kulturellen Produktionen aufgewertet werden, weil sie sich innerhalb der angewendeten Logik problemlos in die Affirmation ökonomischer Flexibilisierung und weltweiter Durchkapitalisierung ummünzen lassen. Mit dieser oberflächlichen Sichtweise wird ein Problem umgangen: Wie können als ent-fremdet, ent-stellt und ver-rückt entwertete soziale Räume und Geschichtsperspektiven in politisch relevante Repräsentativität überführt werden, ohne den regressiven, binären und strukturell antisemitischen Denkbildern des klassischen Internationalismus immer wieder aufzusitzen?

In dem paradoxen Geflecht von gesellschaftlichen Rollen, das die traditionelle Auffassung von Internationalismus mit sich führt, entfaltet sich der Widerspruch zwischen globalen und lokalen Figuren der Repräsentation immer weiter.

Polemisch liesse sich sagen, dass etwa das verzwickte Konzept des "strategischen Essentialismus", das durch Annahme einer gleichzeitig abgelehnten Identität, bzw. gesellschaftlichen Rolle zur Erlangung politischer Handlungsfähigkeit dienlich sein soll, in diesem Kontext auf ironische Weise an der Figur des vaterlandslos-nationalen Proletariats vorbeischrammt. Leider lässt sich aus dem geschichtlichen Kontext auch ersehen, dass der essentialistisch-nationale Faktor gegenüber dem strategisch-bündnispolitischen ständig an Bedeutung gewann. Eine Verstärkung des territorialen Moments in der Repräsentation des "Internationalen" lässt sich auch derzeit immer deutlicher beobachten: die Nachfrage an neo-folkloristischen, territorial legitimierten Bildern von "Communities" und ähnlich ethnisierten und minorisierten Gruppierungen nimmt stetig zu. Ebenso wie im leninistischen Multikulturalismus scheint die Eintrittskarte in einen globalisierten Kulturkanon die Referenz auf bestimmte lokale Traditionen und Riten darzustellen - die Vorbedingung, um überhaupt repräsentiert zu werden. Dies gilt - ebenso wie in der Sowjetunion allerdings nur für die Bewohner der Peripherien. In den Zentren dagegen sind Kunst- und Kulturproduzentinnen von der Bürde des lokalen befreit und bearbeiten "universale" Themen.

Auf der Ebene eines medialen Multikulturalismus verwirklichen sich die Tendenzen gleichzeitiger Universalisierung des Globalen und seiner Repartikularisierung in abgepackte Konsumfragmente des Lokalen. Auf diese Weise werden in den westlichen Metropolen "Scheindialoge" unter durchweg westlicher Kuratel inszeniert, für die die passenden "revolutionären Volkslieder" erst geschrieben werden müssen. Zweifellos sind auch weitere Messertänze zu befürchten.

Erst eine grundlegende Befragung der Anschauungsformen des Politischen, der Verknüpfungen zwischen Territorialität und "natürlicher" Repräsentanz kann jedoch die Grundlage zu einer Form des Internationalismus bilden, die das Verhältnis zwischen dem Globalen und Lokalen ohne den Rekurs auf Nation, "Ethnie" und Folklore neu definieren kann. Anzeichen hierfür bleiben im kulturellen Bereich bis dato spärlich.