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06 2006

Übersetzung im Feld ideologischer Kämpfe

Rastko Močnik

Übersetzt von Hito Steyerl

“Kulturelle Übersetzung” in ihrer vulgarisierenden Auslegung durch die Cultural Studies setzt einen Begriff der Kultur voraus, der jenem Konzept der Sprache ähnelt, das die Einführung eines “sekundären” Kulturbegriffs überhaupt erst veranlasste: Sie stellt sich Kultur implizit als ein “System selbst identischer Normen” (Vološinov) vor. In seiner starken Version (Butler) wird das System Kultur der juridischen Ideologie nachgebildet, und nimmt an jenem juridisch-politischen Universalismus teil, der derzeit verschiedene imperiale Unternehmungen legitimiert (den Export von Demokratie und Recht in die Ukraine, Georgien, Kirgisien, Irak etc.). Homi Bhabha entwickelt eine weiche Version dieses Begriffs. Für ihn weist er vor allem auf ein “Element des Widerstands” hin, das einen notwendigen Bestandteil jeder Kultur bildet und ihm zufolge prinzipiell nicht übersetzbar ist. So führt der Begriff zu einer identitären ideologischen Position, deren politische Konsequenz in Konzepten wie der Charles Taylor in seinem gleichnamigen Essay entwickelten “Politik der Anerkennung” liegt. Die zwei Varianten definieren das Feld der zeitgenössischen koiné[1] von Herrschaft.

Vološinov führt den “abstrakten Objektivismus” in der Linguistik auf eine philologische Tradition zurück, die ursprünglich fremde und ausgestorbene Sprachen bearbeitet und schließlich dazu kommt, jede Sprache als “tot und fremd” zu behandeln. Es sollte hinzugefügt werden, dass die Linguistik in der philologischen Tradition eher spät eine Wissenschaft im modernen nomothetischen Sinne wird, nämlich erst wenn die Beschäftigung mit alten Sprachen der Behandlung moderner Sprachen, ihrer Genealogien, ihrer Errungenschaften und ihres Geistes weicht – das heißt mit der Artikulation der Philologie in der Nationenbildung. In diesem historischen Moment wurde Sprache direkt als “Kultur” verstanden (Herder, Humboldt), und dementsprechend erschienen die Aporien Universalismus und Relativismus, die uns gegenwärtig auf der Ebene der „Kultur“ begegnen, damals vor einem rein linguistischen Hintergrund. Die Kategorie der “Nationalsprache” machte es jedoch möglich, diesen Widersprüchen auszuweichen oder sie zumindest zu entschärfen, da sie nach außen als Spezifizierung der menschlichen Universalität fungieren konnte und nach innen als Neutralisierung ideologischer Pluralität. Mit anderen Worten, die “Nationalsprache” konnte eine universalistische Konstruktion unterstützen, indem sie auf egalitäre Weise innerhalb der homogenen Dimension funktionierte (es wurde angenommen, dass jede Sprache im Prinzip gleichwertig mit jeder anderen sei.) Sie konnte somit auch eine widersprüchliche Gesellschaft innerhalb der heterogenen Dimension durch die hierarchische Auswirkung ihrer “Neutralität” integrieren (indem sie als “neutrale” Matrix der gegenseitigen Übersetzbarkeit von Diskursen funktionierte, errichtete die Nationalsprache gleichzeitig eine hierarchische Ordnung zwischen diesen; tatsächlich wurden nicht einmal die verschiedenen Arten ihres Gebrauchs als gleichwertig angesehen).

Im Zeitalter kultureller Identitäten hat diese Lösung ihre Gültigkeit verloren. Was der “Volksgeist” war, ist jetzt entweder ein vormoderner Überrest und ein Hindernis für die Segnungen der Globalisierung oder der irreduzible Kern einer einzigartigen Erfahrung, der in einer identitären Gruppe gehegt und in den Einrichtungen des Universalismus anerkannt wird. Obwohl diese zwei Figuren einander entgegengesetzt sind, sind sie nicht notwendigerweise antagonistisch, da beide soziale Verhältnisse radikal entpolitisieren. Sie werden gegenwärtig als komplementäre Strategien genutzt, um Widerstände abzuwehren und lokale Partikularismen ins Herrschaftssystem zu integrieren.
Der romantischen Weltsicht zufolge (Schleiermacher) konnte eine Übersetzung entweder das Original in die Sprache der LeserInnen überführen oder den/die LeserIn dem Original zuführen: Im ersten Fall deformierte sie die ursprüngliche Erfahrung, im zweiten denaturalisierte sie die Muttersprache des/r LeserIn. Was als Aporie der Übersetzung im romantischen Zeitalter formuliert wurde, nimmt heute die Form eines doppelten Prozesses der Depolitisierung und Beherrschung an: Die Übersetzung der afghanischen oder irakischen sozialen Verhältnisse in das, was wir als Sprache der “Demokratie” verstehen sollen, reartikuliert diese Gesellschaften im Sinne von “Stämmen”, Ethnien oder Religionen; zur selben Zeit aber verändert diese Übersetzung die postrevolutionäre Institution der (bürgerlichen) Demokratie tiefgreifend. Wenn wir sie in “unsere” westliche Sprache übersetzen, versinken diese Gesellschaften in Kriege in ihrem Inneren; sobald jedoch Übersetzung vorgenommen wird, ist “unsere” demokratische Sprache nicht mehr dieselbe, da sie jetzt eine Sprache der ethnischen, religösen usw. Auseinandersetzung geworden ist.

Goethe war optimistischer und unterschied drei Stadien im Prozess der Übersetzung: Beginnend mit der Aneignung des fremden Textes in eigenen Begriffen konnte die Übersetzung das Original schließlich “identisch” wiedergeben – nachdem sie durch eine Zwischenphase gegangen war, in der “man versucht, sich in die Situation des Fremden zu versetzen, aber tatsächlich das Fremde nur aneignet und es im eigenen Sinne wiedergibt”. Diese Zwischenphase, so Goethe, könnte als “Parodie im reinsten Sinne des Wortes” verstanden werden. Goethes rätselhafte Formulierung kann durch die Konsultation eines griechischen Wörterbuchs nicht erhellt werden. Die besten würden auf Quintilian verweisen: Parodie ist ein Gesang, der ähnlich moduliert ist wie ein anderer Gesang und diese Imitation kann auch missbräuchlich sein. Während die Parodie immer ein Beigesang ist, kann sie auch manchmal ein Gegengesang (Lloyd) sein.

Und das gilt auch für die Übersetzung: Sie versucht dem “Original” zu “folgen”, ihrem Vor-bild (pre-text) – und manchmal scheitert sie. In einem fundamentalen Sinne ist Übersetzung ein Diskurs, der auf einen anderen Diskurs hin orientiert ist. Bachtin unterscheidet zwei Haupttypen einer solchen Orientierung:

  1. Ein Diskurs mit nur einer Ausrichtung verläuft in derselben Richtung wie der Diskurs, auf den hin er orientiert ist; die Übersetzung gehört normalerweise diesem Typus an.
  2. Im multidirektionalen Diskurs dagegen verläuft ein auf ein Anderes ausgerichteter Diskurs jedoch in eine andere Richtung oder sogar entgegengesetzt der Richtung dieses Anderen. Bachtins Beispiel für diesen Typ ist genau die Parodie. Aber dem würde auch eine Übersetzung im Falle ihres Scheiterns entsprechen.

Goethes “Parodie im reinsten Sinne” wäre also “Parodie im amphibolen Sinne” und würde perfekt den Schwankungen im Prozess der Übersetzung entsprechen. Wenn wir jedoch Bachtins Theorie ernst nehmen, können weder die Orientierung auf einen anderen Diskurs noch die Ein- oder Multidirektionalität als Privileg bestimmter Genres und im übertragenen Sinne auch Übersetzungen angesehen werden: Jeder Diskurs unterhält notwendig mannigfaltige Beziehungen zu anderen Diskursen – das ist die Realität des Kampfes um “Bedeutung”. Ohne auf andere Diskurse Bezug zu nehmen, wäre ein bestimmter Diskurs nicht in der Lage, Bedeutung zu produzieren; er wäre nicht einmal in der Lage sich selbst herzustellen.

Eine Übersetzung kann sicherlich einem multidirektionalen Vor-Bild (pre-text) auf unidirektionale Weise folgen. Ihre Spezifizität als Übersetzung liegt eher im Risiko, einen multidirektionalen Kurs einzuschlagen, weil sie daran scheitert, dem originalen Text an dem Punkt zu folgen, wo er (ein- oder multidirektional) auf einen anderen Diskurs verweist. Die Besonderheit der Übersetzung könnte in der Spezifizität ihres möglichen Scheiterns liegen: Sie könnte multidirektional ausfallen, weil sie ein bestimmtes Moment der Ausgerichtetheit des Vor-Bilds auf einen anderen Diskurs übersieht. Das würde bedeuten, dass sie unabsichlich, eigentlich ohne Bewusstsein darüber, einen bestimmten Teil der historischen Materialität des Vor-Bildes ignoriert und letztlich ausschließt.

Dies ist jedoch ein bekannter Mechanismus interdiskursiver Operationen, zum Beispiel in der Produktion von “Tradition” oder “Geschichte”: Postkommunistische Konstruktionen des “Totalitarismus” löschen vergangene politische Kämpfe aus und bringen paradoxerweise die Bemühungen früherer Machthaber zu einer Vollendung, die sie in ihrer Zeit nicht erreichen hätten können. Solche Konstruktionen beseitigen vergangene Potenzialitäten, um gegenwärtige zu blockieren. Sie totalisieren die Vergangenheit, um den Horizont der Gegenwart zu schließen. In diesem Sinne tragen sie sicherlich zur Begründung von “Kultur” bei. Und in dieser Perspektive könnte man sie auch “kulturelle Übersetzungen” nennen.
Aber es wäre dann theoretisch produktiver, sie als verwandelte Formen, prevrashchennye formy (Mamardashvili), zu behandeln. Ein solcher Versuch könnte einige der Motive weiterentwickeln, die in Mamardashvilis Text auf der Ebene Intuitionen verbleiben. Hier ist eine Skizze.

Der “kommunistische Totalitarismus” ist in folgendem Sinne eine verwandelte Form:

  1. Er artikuliert zwei “Sphären”, denen eine die andere überdeterminiert. Bei Marx sind diese beiden Sphären die Produktion und die Zirkulation; in unserem Fall wären die zwei “Sphären” die Multiplizität historischer Prozesse und das instabile Zusammentreffen ihrer provisorischen und temporären Effekte.
  2. Er ist ein Element innerhalb der überdeterminierten “Sphäre” und nimmt dort den Platz eines oder mehrerer Elemente oder Prozesse innerhalb der überdeterminierenden “Sphäre” ein. Bei Marx ist der Profit innerhalb der Zirkulationssphäre eine verwandelte Form und ein Supplement dessen, was der Mehrwert in der Produktion ist: Der Lohn verwandelt und ergänzt (supplementiert) den Wert der Arbeitskraft usw. In unserem Fall würde eine bestimmte selektive Präsentation der historischen Prozesse einen wichtigen Element-Mechanismus in diesem Zusammentreffen konstituieren: “Befreiung vom kommunistischen Totalitarismus” wird so präsentiert, um die Aufzwingung einiger historischer Prozesse und sozialer Verhältnisse durch die Ausschließung von anderen zu legitimieren.
  3. Er konstituiert retroaktiv innerhalb der überdeterminierenden Sphäre jenes Element, das er in der überdeterminierten Sphäre ergänzt (supplementiert), und totalisiert und sättigt so die überdeterminierende Sphäre selbst. Bei Marx wird der Wert einer Ware als die sozial notwendige Quantität abstrakter Arbeit definiert, die für ihre Produktion erforderlich ist; aber diese Quantität wird nur dann bestimmt, wenn die Ware auf dem Markt, d.h. in der Zirkulationssphäre, “realisiert” wird, und dann nur durch die Vermittlung der allgemeinen Profitrate (die, als Element der Zirkulation, selbst eine verwandelte Form ist, deren Konstitution vom selben Wert abhängt, den sie nachträglich fixiert). Unser Fall ist einfacher: Der “kommunistische Totalitarimus” bestimmt retroaktiv die Form bestimmter historischer Prozesse (er nimmt ihnen ihren politischen und konflikthaften Charakter) und ihre Inhalte (Repression und unterwürfige Resignation). Er totalisiert sie somit in einer historischen “Vergangenheit”, die in der “Gegenwart” durch die Unmöglichkeit artikuliert wird, die Verbindung zwischen den beiden zu denken. Er bestimmt, wie die “Gegenwart” durch die “Vergangenheit” überdeterminiert werden soll.
  4. Er erlegt der überdeterminierten Sphäre seine eigene Formulierung der Überdeterminierung als systemische Beschränkung auf. Bei Marx regiert der Wettbewerb zwischen einzelnen Kapitalmengen diese als äußerliches Zwangsgesetz, er diszipliniert sie dahingehend, im Interesse der gesamten kapitalistischen Klasse zu agieren und kapitalistische Verhältnisse zu reproduzieren, und teilt die Gesamtsumme des Mehrwerts, der proportional zum Input notwendiger Arbeit produziert wird, in Aliquoten der beteiligten Kapitalsmengen. In unserem Fall zwingt uns eine verwandelte Präsentation vergangener Herrschaftsverhältnisse die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse als notwendige auf und diszipliniert sowohl die Herrschenden und die Beherrschten in ihren jeweiligen Rollen.

Wir könnten jetzt damit beginnen, ein Konzept der Übersetzung als einen Übertragungsmechanismus zu entwerfen, der in der Produktion einer verwandelten Form besteht. Wir könnten eine solche Übersetzung schließlich als “kulturelle” bezeichnen, da sie in der Tat mit ideologischen Mechanismen zu tun hat. Ein solcher Begriff wäre jedoch irreführend. Obwohl die moderne autonome kulturelle Sphäre als “jenseits” der politischen Kämpfe und als grundsätzlich apolitisch etabliert wurde; obwohl das Vergessen der soziopolitischen Mechanismen ihrer Entstehung immer eines ihrer konstitutiven Momente darstellte; und obwohl ihre Produktion selbst immer ein Manöver im historischen Aufstieg der neuen Klassen und die Grundlage eines neuen Klassenkompromisses (Breznik) war, definierte sich Kultur nichtsdestrotrotz immer in Opposition zur existierenden politischen Sphäre – während Kulturalisierung jetzt ein Mechanismus zur Zerstörung der politischen Sphäre ist.


Literatur

Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostojevskijs (1929), Frankfurt/Berlin/Wien 1985.

Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Stauffenburg Verlag, Tübingen 2000.

Breznik, Maja: "La borsa e la cultura", in: Metis. Ricerche di soziologia, psicologia e anthropologia della comunicazione, Vol. 12, no. 1, 2005, Cooperativa Libraria Editrice Università di Padova, Padova, 2005.

Butler, Judith, et al.: Contingency, Hegemony, Universality, Verso, London / New York 2000.

Dumarsais [César Chesnau, sieur du Marsais]: Des tropes ou des différents sens [1730], Flammarion, Paris 1988.

Goethe, Johann W.: Der West-östliche Divan. Noten und Abhandlung zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans [1819], Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1961.

Lloyd, David: Nationalism and Minor Literature, University of California Press, Berkeley etc., 1987.

Mamardashvili, Merab K.: "Prevrashchennye formy" [1970], http://www.philosophy.ru/library/mmk/forms.html

Marx, Karl: Das Kapital III, MEW 25, Dietz, Berlin, 1964.

Schleiermacher, Friedrich: "Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens" [1813], transl. in: Lefevere, André: Translating Literature: The German Tradition, Van Gorcum, Amsterdam, 1977.

Taylor, Charles: “The Politics of recognition”, in: Multiculturalism, Amy Gutmann, ed., Princeton University Press, Princeton, 1994 (1992).

Vološinov, Valentin N.: Marxismus und Sprachphilosophie, hrsg. v. Samuel M. Weber, Berlin, Ullstein 1975.



[1] Koiné: griechische Sprache im Zeitalter des Hellenismus, durch Einebnung von Dialektunterschieden entstandene Sprache (Anm. d. Ü.).